Wie vermittelt man Geschichte zeitgemäß und erreicht gleichzeitig eine große und diverse Zielgruppe? Für Historiker Paul-Moritz Rabe und Game Designerin Mona Brandt ist eine Antwort: Games. Mit „Forced Abroad – Tagebuch eines Zwangsarbeiters“ machen sie das Thema NS-Zwangsarbeit greifbar: eine besondere Form von Geschichtsverständnis.
„Ziel war es, das Thema NS-Zwangsarbeit in die Gaming Community zu bringen“
Im Serious Game „Forced Abroad – Tagebuch eines Zwangsarbeiters“ schlüpfen Gamer*innen in die Rolle des 19-jährigen Niederländers Jan Hendrik Bazuin, der im Jahr 1944 als Zwangsarbeiter aus seiner Heimat nach Deutschland gekommen ist. Herr Rabe, wie ist die Idee zu dem Spiel entstanden?
Paul-Moritz Rabe: Auf dem Gelände eines in weiten Teilen noch bestehenden Barackenlagers im Münchner Vorort Neuaubing werden wir vom NS-Dokumentationszentrum München 2025 einen neuen Erinnerungsort zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit eröffnen. Das Gelände gehörte früher der Reichsbahn und diente als Massenunterkunft für Zwangsarbeiter*innen. Bei den Recherchen zu diesem Ort ist uns das Tagebuch von Jan Bazuin in die Hände gefallen, der selbst für mehrere Monate dort war. Er beschreibt die Zeit zwischen November 1944 und Mai 1945: Wie das Leben in den von den Nazis besetzten Niederlanden war, wie er nach Deutschland verschleppt wurde und wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren. Wir haben dann überlegt, wie man diesen Stoff heutzutage am besten vermitteln kann. Dabei sind wir zusammen mit den Entwickler*innen von Paintbucket-Games auf die Idee gekommen, ein Handyspiel zu entwickeln.
Frau Brandt, Zwangsarbeit ist Teil eines sehr düsteren Abschnitts der Geschichte. Eignet sich jedes historische Thema für die Umsetzung in ein Spiel?
Mona Brandt: Ja! Im Grunde ist ein Spiel erst einmal nur ein Medium und es gibt wie im Film verschiedene Genres – Dokus, Blockbuster und so weiter. Meiner Meinung nach ist es sogar wichtig, auch die düsteren Themen dort aufzugreifen, weil Spiele das Publikum auf eine viel aktivere Art einbinden können als andere Medien. Das heißt, wir haben eine ganz andere Form, uns mit Inhalten auseinanderzusetzen. Natürlich bedarf es dabei aber einer angemessenen Form der Umsetzung.
Die Spieler*innen verfolgen die Geschichte von Jan Bazuin. Dabei lesen sie das Tagebuch und können an manchen Stellen selbst über die Handlung entscheiden. Wie haben Sie beschlossen, wo solche Entscheidungen angebracht sind?
Brandt: Das war an vielen Stellen ein Aushandlungsprozess zwischen dem NS-Dokuzentrum und Paintbucket. Die Spieler*innen sollten das Gefühl haben, interessante Entscheidungen zu treffen. Das Spiel sollte aber auch so nah wie möglich am Original bleiben. Eine Entscheidung zu treffen öffnet mindestens einen weiteren, teilweise fiktiven Handlungsweg, oftmals sogar noch mehr. Es war uns wichtig, die großen Meilensteine aus Jan Bazuins Biografie im Game beizubehalten. Oft treffen die Spieler*innen deshalb Alltagsentscheidungen, die so hätten passieren können, aber nicht Teil der Original-Erzählung sind.
Rabe: Durch die Konzeption von Entscheidungssituationen konnten wir auch noch andere Schicksale als das von Jan Bazuin integrieren: Jan war natürlich nur einer unter vielen und als männlicher Niederländer, der relativ spät, im Januar 1945 nach Deutschland kam, verhältnismäßig privilegiert. Jans Lebensrealität steht nicht repräsentativ für die vielen unterschiedlichen Erfahrungen von Zwangsarbeiter*innen in der NS-Zeit. Das wollten wir durch die Interaktion von Jan mit Zwangsarbeiter*innen anderer Nationalitäten zeigen.
„Forced Abroad“ ist ein textbasiertes Videospiel. Warum haben Sie sich bei Jan Bazuins Tagebuch für dieses Spielgenre entschieden?
Rabe: Das Genre „Visual Novel“ kommt eigentlich aus Japan und ist dort recht populär. Paintbucket hatte die Idee, es für unser Game zu adaptieren. Es passt gut zum Tagebuch und gibt dem historischen Dokument auch im Game eine Bedeutung. Historische Tagebücher haben meiner Meinung nach eine spannende Rezeptionssituation. In dem Moment, in dem das Tagebuch geschrieben wurde, wusste der Schreibende nicht, wie es weitergeht. Diese Situation wollten wir auch für das Game nutzen. Die heutigen Gamer*innen entscheiden im Spiel, wie es weitergeht, und zwar nicht rückblickend, sondern aus Perspektive der historischen Person. Sie sind „live“ dabei und müssen sich selbst in die Geschichte hineinversetzen. Das ermöglicht aus unserer Sicht eine besondere Form von historischem Verständnis und Lernen.
Wie gestaltet sich der Prozess von der historischen Quelle bis zum fertigen Spiel?
Brandt: In einem der ersten Schritte hat unser sehr talentierter Autor, Dominik Schott, auf Grundlage des Tagebuchs ein Drehbuch für das Spiel geschrieben. Auf dieser Basis haben wir uns dann sehr regelmäßig mit dem NS-Dokuzentrum ausgetauscht. Obwohl wir uns bei Paintbucket alle für Geschichte interessieren, sind wir in erster Linie gut im Entwickeln von Spielen und auf ein historisches Korrektiv angewiesen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess in der Spieleentwicklung und sehr wertvoll. Schwieriger war es, abzuwägen, was die Zielgruppe interessant findet und wo Adaptionen unbedingt notwendig sind. Zum Beispiel raucht Jan im Original und ist durchgehend auf der Suche nach Tabak. Das wollten wir für das heutige Medium nicht übernehmen.
Rabe: Es war auch für uns als beteiligte Historiker*innen, ein besonderer Prozess. Wir haben uns in „Forced Abroad“ mit den vielen – auch fiktiven – Entscheidungsmöglichkeiten und Spielpfaden viel weiter von der historischen Quelle entfernt, als wir das sonst in unseren Vermittlungsprojekten tun. Ob Details verändert werden sollen oder nicht, haben wir mit Paintbucket teilweise auch kontrovers diskutiert.
Sie haben bereits die Zielgruppe angesprochen. Wen wollen Sie mit „Forced Abroad“ erreichen?
Rabe: Wir hatten unterschiedliche Zielgruppen im Blick. Das NS-Dokuzentrum will grundsätzlich so viele Menschen wie möglich erreichen. Unser Ziel war es, das Thema NS-Zwangsarbeit in die Gaming Community zu bringen – unabhängig vom Alter. Beim Gaming besteht die Zielgruppe nämlich keineswegs nur aus Jugendlichen. Der Altersdurchschnitt von Gamer*innen liegt in Deutschland bei 37,9 Jahren (Stand 2023).
Brandt: Wir haben aber natürlich darauf geachtet, dass das Spiel auch für eine junge Zielgruppe verständlich und angemessen ist. Zwangsarbeit geht in vielen Fällen auch mit Gewalterfahrungen einher. Da haben wir uns schon überlegt, ob wir das im Hinblick auf eine junge Zielgruppe reproduzieren möchten. Im Games-Bereich wird am Ende auch über Altersfreigaben entschieden und wir wollten eine Freigabe ab 12 Jahren ermöglichen.
Hat die Überlegung über die Zielgruppe auch zur Entscheidung geführt, ein Mobile Game zu entwickeln anstatt eines Computerspiels?
Brandt: Es geht vor allem um die Barrierefreiheit. Ich gebe manchmal an Schulen in Berlin und Brandenburg Workshops zu Gamedesign und die technische Ausstattung ist jedes Mal unterwältigend. Es scheitert teilweise am Internet! An Bildungseinrichtungen fehlen auch oft die Rechte zur Installation von PC-Spielen. Die einfachste Form, jungen Menschen Zugang zu einem Spiel zu ermöglichen, ist, wenn sie es kostenlos auf ihr Mobiltelefon laden können. Das haben die meisten zur Verfügung. Zusätzlich ist die Zielgruppe der Mobile-Gamer*innen wahnsinnig divers: Sie reicht von einem sehr jungen Publikum bis zu den sogenannten Silvergamer*innen, die 50 Jahre und älter sind.
Eignet sich das Spiel auch für den Geschichtsunterricht?
Rabe: Das haben wir beim Spielkonzept bedacht. Das Durchspielen dauert zum Beispiel nicht so lange – maximal 90 Minuten. Es eignet sich daher sowohl für das Spielen im Unterricht als auch in Etappen als Hausaufgaben-Spiel. Es gibt eine Begleitpublikation für Lehrer*innen mit Unterrichtseinheiten und im Nachgang haben wir Lehrer*innen-Fortbildungen zum Spiel und allgemein zu Gaming im Unterricht gemacht. Der Einsatz von Games in der Schule ist gerade erst im Kommen. Gleichzeitig gibt es noch Skepsis oder Unkenntnis unter Lehrer*innen. Wir wollten ein seriöses Spiel entwickeln, das sie guten Gewissens verwenden können – notfalls nur als Abwechslung zum Frontalunterricht.
Das Spiel wurde 2022 veröffentlicht. Welches Feedback hat Sie seitdem erreicht?
Rabe: Das jüngere Publikum sagt teilweise, das Spiel sei sehr textlastig. Deshalb denke ich, dass es sich in Schulen vor allem für die Oberstufe eignet. Im Unterricht wurde es bis jetzt erst selten eingesetzt, was sicher damit zu tun hat, dass Games insgesamt noch kaum als Unterrichtsmethode genutzt werden. Wir hoffen aber natürlich, dass sich das ändern wird. Ansonsten haben wir aus sehr unterschiedlichen Kreisen sehr positives Feedback bekommen.
Brandt: Ich habe auch mitbekommen, dass Lehrer*innen speziell dankbar für das Begleitmaterial und die Unterrichtseinheiten waren. Außerdem fanden es die meisten gut, dass es ein Medium für den Unterricht gibt, mit dem die Schüler*innen vertraut sind. Klar ist, dass Games nicht das klassische Schulbuch ersetzen werden. Aber sie werden eine hervorragende Ergänzung sein und einen ganz anderen und individuellen Blick auf historische Themen liefern.