Wie können Mythen und Irrglauben in Bezug auf Covid-19 widerlegt werden? Darüber hat die Forscherin und Journalistin Fabíola Ortiz dos Santos mit Journalist*innen von Fact-Checking-Plattformen in der Demokratischen Republik Kongo und in der Zentralafrikanischen Republik gesprochen.
„Ziel ist ein verantwortungsvoller Journalismus“
Frau Ortiz dos Santos, Sie haben die Arbeit von Journalist*innen für Fact-Checking-Plattformen in der Demokratischen Republik Kongo und in der Zentralafrikanische Republik untersucht. Wieso haben Sie diese beiden Plattformen ausgewählt?
Mein Forschungsinteresse gilt generell der Verbindung von Journalismus und Peacebuilding in Konfliktregionen. Journalist*innen und Narrative in der Region Zentralafrika interessieren mich dabei besonders. Ich wollte mich vor allem auf die Zentralafrikanische Republik konzentrieren, bin aber auch mit kongolesischen Journalist*innen in Kontakt und dachte, es wäre interessant, mehr über ihre jeweiligen Praktiken zu erfahren. Beide Fact-Checking-Plattformen beruhen auf ehrenamtlicher Arbeit und werden gemeinschaftlich von unabhängigen Journalist*innen betrieben. Congo Check hat seinen Sitz in der Stadt Goma im Osten des Landes. Die inzwischen relativ bekannte Plattform wurde 2018 als Reaktion auf den Ausbruch des Ebola-Virus gegründet und ist der erste Fact-Checking-Newsroom im Land. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben die Journalist*innen auf ihrer Webseite einen Bereich zu Falschinformationen über Covid-19 eingerichtet. In der Zentralafrikanischen Republik haben neun Journalisten die Plattform Talato gegründet, was in der im Land gesprochenen Sprache Sango „Radar“ bedeutet. Sie arbeiten kollaborativ und werden für ihre Arbeit nicht bezahlt. Congo Check ist größer und wird jetzt von Medienentwicklungsorganisationen finanziell unterstützt. Wie sie auf ihrer Website mitteilen, sind sie neben der Finanzierung durch eigene Mitteln der Gründer*innen kürzlich eine Partnerschaft mit Facebook eingegangen. Congo Check wurde auch von NGOs und internationalen Organisationen unterstützt. Ihre Arbeit bleibt jedoch überwiegend ehrenamtlich.
Vertrauenswürdige Informationen zu Covid-19 zu bekommen, ist essenziell. Welche Quellen nutzen Menschen in den beiden Ländern?
Als die Covid-19-Infektionen im Jahr 2020 zunahmen, wurden in beiden Ländern Lockdown-Maßnahmen verhängt, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Aufgrund des schlechten und nicht nachhaltigen Zustands der Volkswirtschaften der Länder war das jedoch schwierig durchzusetzen. Viele Menschen konnten es sich einfach nicht leisten, zu Hause zu bleiben.
Welche Fragen hatten Sie bei Ihrer Forschung?
Ich wollte herausfinden, wie die Journalist*innen Fakten checken, auf Covid-19 bezogene Mythen bekämpfen und auf Social Media korrekte Informationen verbreiten. Einerseits ging es mir dabei um die Verbreitung von Mythen und Irrglauben. Denn Geschichten – ob wahr oder unwahr – sind ein Mittel, die Welt zu verstehen und ihr Sinn zu verleihen. In beiden Ländern spielt die mündliche Überlieferung eine zentrale Rolle. Mythen verbreiten sich auf der Straße, auf dem Markt und auch online. Während einer Krise – zum Beispiel einer Pandemie, aber auch bei gewaltsamen Konflikten – suchen Menschen nach Informationen, um Risiken zu verstehen sowie Entscheidungen zu treffen, wie sie darauf reagieren. Dieser Prozess der kollektiven Sinngebung der Realität kann von Individuen ausgenutzt werden, die irreführen und ein „Informationschaos“ in der Bevölkerung verursachen wollen. Manchmal gelangen mündliche Erzählungen in die Online-Sphäre, aber ursprünglich stammen sie von der Straße. Deshalb kann man die Arbeit, die die Journalist*innen online machen, nicht von der Offline-Welt trennen.
Auch wollte ich etwas über die Twitter-Nutzung der Journalist*innen herausfinden, die sich als nicht besonders dynamisch herausgestellt hat. Es gibt wenige Tweets und wenig Interaktion. Am Ende des Papers gebe ich einige kritische Hinweise, wie die Journalist*innen die Plattform besser nutzen können.
Interessiert hat mich auch die Frage des Gatekeepings. In der Journalistik werden Journalist*innen traditionell als Gatekeeper verstanden, die entscheiden, welche Informationen der Gesellschaft bereitgestellt werden müssen. In Zeiten von Social Media kann jedoch jeder Mensch Content-Produzent*in werden. In den beiden untersuchten Ländern versuchen die Journalist*innen diese Rolle auszuüben, indem sie den Strom von Informationen sowohl online als auch offline kuratieren.
Bevor wir zu diesem Thema noch genauer kommen, erst einmal die Frage: Wie haben Sie Ihre Interviews geführt?
Für diese qualitative Studie habe ich Journalist*innen mithilfe von Messaging-Apps interviewt – teilweise im direkten Gespräch, teilweise zeitversetzt, indem die Interviewten zu einem späteren Zeitpunkt per Sprach- oder Textnachricht geantwortet haben. Das war abhängig von der Internetverbindung und von den Geräten. Es ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass es in den beiden Ländern zu Störungen kommen kann.
Dabei kommen wir zum Stichwort Digital Divide. Welche Hürden gibt es in den beiden Ländern bei der Nutzung digitaler Angebote?
Die Demokratische Republik Kongo ist größer, dort leben mehr als 90 Millionen Menschen. Handys und Social-Media-Nutzung sind verbreiteter als in der Zentralafrikanischen Republik. Auch, wenn man nicht so viel Datenvolumen hat, kann man in manchen Regionen zumindest Facebook und Twitter nutzen. Viele Gruppen werden jedoch ausgeschlossen, zum Beispiel, wenn sie die Kolonialsprachen – in diesem Fall Französisch – nicht lesen und verstehen können.
Der Digital Divide, die Kluft zwischen denen, die Internet nutzen und denen, die ausgeschlossen sind, ist ein Problem – genauso wie Elektrizität. Es sind vor allem jüngere, besser ausgebildete, wohlhabendere, männliche und in Städten lebende Afrikaner*innen, die häufiger Zugang zur Online-Welt haben. In den großen Städten ist die Versorgung besser, doch auch dort kommt es täglich zu Unterbrechungen. Trotz der Herausforderungen engagieren sich immer mehr Bürger in sozialen Netzwerken – teilweise, um ihren Informationsbedarf zu decken.
Wie funktioniert die von Ihnen beschriebene Arbeit in der Online- und Offline-Welt?
Wie machen die Journalist*innen das? In beiden Ländern gibt es immer mehr Fact-Checker*innen, die in Kontakt zu Nichtregierungsorganisationen, zu lokal verwurzelten Institutionen und Community Radios, also freien Bürgerradiosendern, stehen. Sie geben beispielsweise Workshops zu Medienkompetenz und erklären, wie man Mythen entlarvt.
Ein anderes Beispiel aus der Demokratischen Republik Kongo: Dort haben die Journalist*innen Ende vergangenen Jahres mit einer Telefongesellschaft kooperiert und SMS mit Informationen zu Covid-19 an mindestens tausend registrierte Nummern geschickt. Wenn Menschen kein Geld haben, ins Internet zu gehen, bekommen sie wenigstens kostenlose Nachrichten über SMS.
Sie haben sich auch mit dem beruflichen Selbstverständnis der interviewten Journalist*innen auseinandergesetzt. Was haben Sie herausgefunden?
Die Journalist*innen setzen sich in einem emanzipatorischen Sinne für die Gesellschaft ein – nicht nur, was Covid-19 betrifft. Ihre Arbeit ist für diese Journalist*innen eine Berufung, deshalb machen das viele auch, ohne dafür Geld zu bekommen. Sie arbeiten in dem Verständnis, dass Informationen „zum Heilen, nicht zum Töten“ verwendet werden sollten und denken, dass sich ihr Engagement auszahlt, indem sie zu einer friedlicheren Gesellschaft beitragen.
Abgesehen von Congo Check und Talato sind in letzter Zeit viele andere Initiativen zur Faktenprüfung aufgetaucht, zum Beispiel die Central African Fact-Checkers Association, das Consortium of Central African Journalists for the Fight Against Desinformation, und StopAtènè – was auf Sango „Lügen stoppen“ bedeutet –, ein Projekt des landesweiten Radiosenders Ndeke Luka.
Warum ist es aus einer europäischen Perspektive interessant, sich mit Wissensvermittlung und -Kommunikation in diesen beiden Ländern zu beschäftigen?
Ich finde es wichtig zu verstehen, dass es unterschiedliche Arten gibt, Journalismus zu praktizieren. Dabei geht es nicht um gut, schlecht, richtig oder falsch. Aus europäischer Sicht sollten wir offener und sensibler für andere Möglichkeiten der Mediennutzung sein, wie Geschichten produziert werden können und wie Journalist*innen mit ihrem Publikum interagieren.
Aus europäischer Perspektive sollten wir offener und sensibler für andere Arten sein, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten. Wir sollten Journalist*innen dabei nicht als isolierte Individuen betrachten, denn sie sind in ihre jeweiligen Kontexte eingebunden, ob sprachlich, religiös, ethnisch, politisch oder ökonomisch.
Da ich in Rio de Janeiro geboren wurde und die meiste Zeit meines Lebens in Südamerika verbracht habe, viel mehr als im europäischen Kontext, sehe ich mich als „Außenseiterin“, wenn ich es wage, verschiedene journalistische Praktiken jenseits des Atlantiks wie in den Ländern südlich der Sahara zu erforschen. Trotz vieler Ähnlichkeiten in der Ethik des Journalismus gibt es eine Vielfalt in der journalistischen Praxis, die in Bezug auf die sozialhistorischen Hintergründe von Gesellschaften anerkannt werden muss. Als „Neuling“ in diesen Zusammenhängen bemühe ich mich, diese Vielfalt zu begreifen und offen zu sein, die Journalist*innen zu fragen: Wie machen Sie das? Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig? Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie, wenn Sie über dieses oder jenes berichten? Auf diese Weise können wir voneinander lernen. Ziel ist ein verantwortungsvoller Journalismus, der dazu einlädt, konstruktiv über die Entwicklung der eigenen Gesellschaft zu diskutieren.
Ortiz dos Santos, F. (2021) Myths and Misconceptions on Covid-19: ‘Congo Check’ and ‘Talato’ Verification Experiences. Frontiers in Communication 6:627214. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fcomm.2021.627214/full