Gestern wurde das Wissenschaftsbarometer Spezial zur Corona-Pandemie veröffentlicht. Gerald Haug, Präsident der Leopoldina, ordnet die Ergebnisse im Gastbeitrag ein.
Wissenschaftsvertrauen in der Corona-Krise: positive Trends, hohe Erwartungen und eine offene Frage
Die Ergebnisse des Wissenschaftsbarometers Corona Spezial wären für mich ein Grund zur Freude – wenn diese repräsentative Umfrage nicht eine weltweite Pandemie zum Anlass hätte, die unsere Gesellschaft in eine für die allermeisten Bürgerinnen und Bürger beängstigende Situation gebracht hat: Die eigene Gesundheit ist bedroht, das Alltagsleben stark eingeschränkt und die nahe Zukunft kaum planbar.
In einer solchen Lage gehören Informationen aus verlässlicher Quelle zum Rüstzeug, mit dem trotz aller Unsicherheiten eine eigenverantwortliche und vernünftige Lebensführung möglich bleibt. Hier kann die freie Wissenschaft – über die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen hinaus – ihren unmittelbaren Nutzen für jeden Einzelnen beweisen. Und sie tut dies in der Corona-Krise, indem sie die Pandemie unabhängig, ergebnisoffen und selbstkritisch erforscht. Deswegen wird ihren Aussagen über Corona von mehr als 70 Prozent der Befragten Vertrauen geschenkt.
Das spezielle Vertrauen in die Forschung zu Corona strahlt positiv aus auf das allgemeine Vertrauen in die Wissenschaft, das ihr drei Viertel der Befragten aussprechen. Das interpretiere ich als große Anerkennung für die Forscherinnen und Forschern, die in diesen Wochen einen so intensiven Dialog mit der Gesellschaft führen. Die Befragten drücken damit auch eine besondere Erwartung an die Forscherinnen und Forscher aus: Informiert uns nicht nur über das, was ihr wisst und was ihr tut, um Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln, sondern beratet uns auch nach eurem besten Wissen und Gewissen darüber, wie wir uns in der Pandemie verhalten sollen.
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat mit bisher drei Ad-hoc-Stellungnahmen auf die Corona-Pandemie reagiert. Wir haben in interdisziplinären Arbeitsgruppen den Erkenntnisstand der Wissenschaft diskutiert sowie medizinische, gesundheitspolitische und gesellschaftliche Aspekte der Pandemie analysiert. Auf dieser Grundlage gaben wir Empfehlungen für einen rationalen Umgang mit der Pandemie, der den bestmöglichen Gesundheitsschutz nicht in Widerspruch zur schrittweisen Wiederaufnahme des gesellschaftlichen Lebens sieht.
Unsere Empfehlungen sind auf ein großes Echo in Öffentlichkeit, Medien und Politik gestoßen. Zustimmung wie Kritik brachten einerseits eine hohe Erwartungshaltung der Wissenschaft gegenüber zum Ausdruck. Andererseits spiegelten sich darin die Konflikte zwischen den legitimen Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen wider, die die Suche nach einem möglichst sicheren und für möglichst alle gangbaren Weg aus der Corona-Krise so schwierig machen.
Damit das Vertrauen in die Wissenschaft durch diese notwendige Auseinandersetzung keinen Schaden nimmt, ist es wichtig, deutlich zu unterscheiden zwischen dem Beratungsprozess der Wissenschaft und dem Entscheidungsprozess der Politik, auch wenn beide ineinandergreifen. Ob diese Unterscheidung von vielen Bürgerinnen und Bürger klar getroffen wird, lässt sich den Antworten der Befragten auf die Fragen des Wissenschaftsbarometers zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik nicht eindeutig entnehmen.
Zwar kann ich den über 80 Prozent der Befragten nur zustimmen, die sich dafür aussprechen, dass politische Entscheidungen im Umgang mit Corona auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen sollen. Doch wenn es fast 40 Prozent der Befragten nicht als Aufgabe der Wissenschaft sehen, sich in die Politik einzumischen, aber nahezu ein Drittel die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auffordern, genau dies zu tun, dann ist diese Information für mich nicht wirklich hilfreich. Denn was heißt hier „einmischen“?
Wissenschaftsbasierte Politikberatung, wie sie die Leopoldina durchführt, ist eine überaus legitime Form der „Einmischung“. Eine Grenze wäre erst dann überschritten, wenn sich einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Mandat anmaßen würden, ihre Empfehlungen als für uns alle verbindlich erklären zu können. Denn solche Entscheidungen kann nur der demokratisch legitimierte Staat treffen. Das wird auch in der gegenwärtigen Debatte deutlich. Und ich bin überzeugt, dass ansonsten die Öffentlichkeit lautstark protestieren würde. Dies gehört für mich zu einem widerstandsfähigen Vertrauen in die Wissenschaft dazu. Ich hätte großes Interesse zu erfahren, welche Meinung die Befragten des Wissenschaftsbarometers hierüber haben.
Alle Ergebnisse und Daten des Wissenschaftsbarometers Spezial Corona finden Sie hier.
Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.