Die Absage eines Vortrags einer Biologie-Doktorandin bei der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin wurde als Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit kritisiert. Warum das nicht zwingend der Fall ist und wie die Universität besser hätte kommunizieren müssen, erklärt die Genderforscherin Andrea Geier im Interview.
„Wissenschaftsfreiheit heißt nicht, ohne Kritik und Widerspruch zu bleiben“
Die Humboldt-Universität hat den Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ einer Wissenschaftlerin im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin kurzfristig abgesagt. Als Grund nannte die Hochschule Sicherheitsbedenken, da sie aufgrund von angemeldeten Protesten „mit einer möglichen Eskalation rechnen“ müsse. Gleichzeitig gab die Universität bekannt, dass „die Meinungen“, die die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht in einem Gastbeitrag in der Welt äußerte, „nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten“ stehe. Damit bezog sie sich auf einen Kommentar mit dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“, den Vollbrecht mit vier weiteren Co-Autor*innen verfasste. Am 14. Juli findet eine Nachholveranstaltung an der Humboldt-Universität statt, an der auch Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger teilnehmen wird. Es geht darum das Thema „Meinung, Freiheit, Wissenschaft – der Umgang mit gesellschaftlichen Kontroversen an Universitäten“ zu debattieren.
Frau Geier, inwiefern sehen Sie die Wissenschaftsfreiheit durch die vorläufige Absage eingeschränkt?
Die Wissenschaftsfreiheit sehe ich nicht grundsätzlich durch diesen Vorfall eingeschränkt. Zumal der Vortrag nur verlegt wurde. Im akademischen Rahmen können Einladungen von Veranstalter*innen ausgesprochen und auch wieder zurückgezogen werden. Entscheidend sind die Gründe dafür. In diesem Fall war die anfängliche Kommunikation der Humboldt-Universität unglücklich, da auch das Wort „Absage“ verwendet wurde. Vorhersehbarerweise stürzten sich viele darauf, das Stichwort „Cancel Culture“ stand im Raum. Das wurde zwar schnell korrigiert und klargestellt, dass die Veranstaltung in einem anderen Rahmen stattfinden wird. Das hätte man gleich kommunizieren sollen, wenn das die Lösung sein sollte.
Wie hätte die Universität besser reagieren können?
Es hätte eine viel klarere Kommunikation gebraucht. Die Universität gab eine Erklärung ab, die unterschiedliche Signale aussandte. Es wurde gesagt, die Universität schütze die Wissenschaftsfreiheit und daher solle der Vortrag zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Wie ein „Aber“ wurde drangehängt, dass die Vortragende öffentlich in Erscheinung getreten ist mit Positionen, die nicht im Einklang mit den Werten der Universität stünden. Bei dieser Argumentation konnte man sich aussuchen, ob es sich um einen wissenschaftlichen Vortrag gehandelt hat, der tatsächlich wegen Gefährdungen abgesagt wurde. Oder spielte doch die Werteorientierung der Wissenschaftlerin eine Rolle? Dass diese verwirrenden Signale ein Argument für die Wahrnehmung von angeblicher Cancel Culture produzierten, ist mindestens ungeschickt. Diese Uneindeutigkeit stellt ein großes Problem dar. Für Universitäten ist es wichtig, die Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Sie brauchen genau deshalb auch eine Position dazu, wie freiheitlich-demokratische Grundordnung, wissenschaftliche Standards und Werte eben dieser Universität zueinander stehen.
Marie-Luise Vollbrecht hat den Vortrag auf YouTube gehalten. Haben Sie ihn sich angesehen?
Welche Verantwortung trägt die Hochschule für die Kommunikation in die Gesellschaft? Hätte sie das Programm besser kuratieren müssen?
Die Universität hätte sich die Frage stellen müssen, welche Rolle bestimmte Themen in gesellschaftspolitischen Kontexten spielen: Welche Relevanz wird ihnen zugesprochen, welche Aufmerksamkeit könnte damit einhergehen? In der Woche der Langen Nacht der Wissenschaften wurden beispielsweise die Eckpunkte des Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt. Den Kontext sollte ich als Universität präsent haben. Dann wäre unweigerlich die Frage aufgetaucht, warum eine Doktorandin, die bisher eine Publikation zu einem ganz anderen Thema veröffentlicht hat, nicht über ihre eigene Forschung, sondern ein anderes Thema spricht. Eines, zu dem sie sich bereits in einem Gastbeitrag in der Welt geäußert hat. Da sollte man überlegen: Will ich das so als Universität? Sollte nicht die Forschung an der eigenen Universität präsentiert werden? Oder brauche ich ein breiteres Panel für dieses Thema, das auch personell anders besetzt ist, um wissenschaftliche Standards sicherzustellen? All diese Überlegungen scheinen im Vorfeld nicht angestellt worden zu sein.
Das setzt voraus, dass die Universität die Äußerungen ihrer Doktorandin kennt. Sollten Hochschulen sich einen Überblick überschaffen, was die Personen, denen sie eine Bühne bieten, abseits der Wissenschaft in sozialen wie klassischen Medien veröffentlichen? Oder ist es eine Grenzüberschreitung, sie zu durchleuchten?
Das ist ein wichtiger Punkt. Ist das Durchleuchten oder gar Überwachen? Ich selbst äußere mich auf Twitter zu verschiedenen Forschungsthemen, zu Wissenschafts- und Bildungspolitik und natürlich auch mal zu meiner eigenen Universität. Meine Tweets sind öffentlich, daher ist es für mich völlig in Ordnung, wenn Leute aus meiner Universität mitlesen, ja gewünscht, mir geht es ja um Wissenschaftskommunikation. Meinerseits ist das ein Gesprächsangebot, und ich freue mich, wenn es angenommen wird. Aber selbstverständlich will ich weder noch würde ich gar fordern, dass „mitgelesen“ wird. Aber Universitäten müssen schon mitbekommen, wenn Personen, die namentlich mit der eigenen Universität verknüpft sind, einen Artikel veröffentlichen, durch den sich Mathias Döpfner veranlasst sieht, einen beruhigenden Brief an die Mitarbeiter*innen im Springer-Konzern zu schreiben, dass der Verlag nicht für Transfeindlichkeit, sondern Diversität stehe. Das generiert so viel Aufmerksamkeit, dass es bekannt sein musste. Und dann stellt sich die Frage, ob der angebotene Vortrag für dieses Event das richtige ist. Dann wäre es auch keine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit, wenn man den Vortrag abgesagt hätte, weil er nicht zu diesem Format passt.
Was lässt sich aus diesem Fall für die Wissenschafts-PR und Wissenschaftskommunikation lernen?
Die Debatte um Wissenschaftsfreiheit wiederholt sich regelmäßig. Müssen wir sie anders führen?
Der Vortrag ist medial enorm aufgewertet worden. Jetzt gibt es ein extrem öffentlichkeitswirksames Event, zu dem sogar die Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger kommt. Ich frage mich: Ist das tatsächlich der geeignete Anlass? Ich würde mir sehr wünschen, wenn wir Formen finden über kontrovers diskutierte Themen, und dazu gehört mittlerweile auch die Wissenschaftsfreiheit an Universitäten, zu debattieren. Die Diskussion soll aber nicht an einem Fall hochkochen und dann wieder verschwinden. Die Universitäten sollten dazu auch nicht schnell irgendeine Veranstaltung aus dem Boden stampfen, sondern überlegen, welche Akteur*innen – beispielsweise aus der Öffentlichkeitsarbeit und dem Forschungsreferat – beteiligt werden sollten, um institutionell zu klären, wie sie es zukünftig besser machen können. Sonst kommen wir nicht in der Frage voran, wer hier eigentlich wessen Freiheit und wessen Rechte schützt und wo die Trennlinie zwischen Wissenschafts- und Meinungsfreiheit verläuft. Das ist in vielen Fällen gar nicht so einfach.
Was sind Beispiele für solche Fälle?
Wir sehen das seit der Pandemie an der Virologie. Es wird erwartet, dass Wissenschaftler*innen ihre Erkenntnisse zur Verfügung stellen als Grundlage, um politische Handlungsperspektiven zu eröffnen, und öffentlich aufzuklären. Gleichzeitig wird diese Wissenschaftskommunikation ständig als Aktivismus diskreditiert. Auch das Thema Geschlechtervielfalt gehört dazu, da es ganz direkt in die Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz eingeordnet wird. Dass die angemeldete Demonstration in der Diskussion ohne Anlass als gewaltbereit geframt wurde, finde ich eine Ungeheuerlichkeit.
Wie können wir Debatten zu gesellschaftspolitischen Fragen konstruktiver führen?
Wir brauchen den innerakademischen Austausch. Ich verstehe, dass man bei bestimmten Themen mit Pro-Contra-Formaten Probleme haben kann, auch weil sie als verletzend empfunden werden. Aber wir brauchen bei öffentlich kontrovers diskutierten Themen natürlich eine Diskursfähigkeit. Deshalb kommt es auf das Wer, Wie und Wo an. Ich sehe allerdings eine Verhärtung der Fronten. Auf der Seite derer, die die Klage führen, dass die Wissenschaftsfreiheit immer wieder eingeschränkt wird – was ich bestreiten würde –, wird mit sehr einfachen Dichotomien von Wissenschaftsfreiheit versus Aktivismus gearbeitet.
Der öffentliche Raum wird völlig dominiert von einzelnen Vorfällen, in denen ein Vortrag abgesagt wurde oder es zu Protesten kam. Hier ist die Homepage des Netzwerk Wissenschaftsfreiheit tatsächlich aufschlussreich: Völlig heterogene Fälle werden aufgelistet und zu einer „Dokumentation“ erklärt, und bei den meisten, die ich gesehen habe, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, in welcher Weise sie eine Gefährdung von Wissenschaftsfreiheit darstellen sollten. Umgekehrt ist erschreckend, was debattiert wird und was nicht. Es ist schon einigermaßen absurd, dass ein verschobener Vortrag ein enormes Echo findet in Medien und Politik, während zu den nunmehr schon jahrzehntelang andauernden Angriffen auf Forscher*innen in den Gender Studies wenig zu hören ist oder, aktuellstes Beispiel, zu dem Antrag, den die AfD gerade erst im Bundestag gegen die Förderung „des Postkolonialismus“ eingebracht hatte. Wo sind all die Stimmen, die sich so um die Wissenschaftsfreiheit sorgen? Die AfD hat damit versucht, den Kampf gegen Antisemitismus gegen die postkolonialen Studien und damit eine ganze Forschungsrichtung zu instrumentalisieren. Der Antrag fand keine Unterstützung, daher ist die Wissenschaftsfreiheit auch durch diesen Fall nicht unmittelbar gefährdet. Aber es ist ein Ereignis, das Öffentlichkeit, Wissenschaft und Wissenschaftspolitik alarmieren sollte.
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