Antonio Loprieno, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz, erzählt im Interview, weshalb soziale Medien für den Kampf gegen Fake News unabdingbar sind und wieso er trotz problematischer Entwicklungen mit Zuversicht in die Zukunft blickt.
„Wir müssen es schaffen, die Deutungshoheit der Wissenschaft aufrechtzuerhalten“
Herr Loprieno, Sie sprachen in Ihrer Keynote bei der Tagung Wissenschaft in der Gesellschaft davon, dass der digitale Wandel für die Wissenschaft und die Gesellschaft ähnlich bedeutsam und revolutionär sein könnte, wie der Buchdruck. Was genau verändert sich denn für die Wissenschaft?
Loprieno: Die wesentliche Veränderung ist die Frage der Autorschaft. Das spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie wir forschen. Hier erleben wir einen absoluten Wandel von der individuellen Forschung hin zur Forschung im Team mit einem starken Fokus auf die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen. Ich denke, diese Veränderung hängt eng mit dem digitalen Wandel zusammen, da dieser auch etwas mit dem Zugang zu Wissen zu tun hat. Aus individueller Sicht ist der heute weniger kontrollierbar. Deshalb bedarf die Kontrolle und Einordnung von Wissen einer stärkeren Absicherung durch eine Community und dadurch gewinnt diese auch innerhalb der Forschung an Bedeutung. Wir erleben also einen Wandel von der individuellen Autorschaft hin zu einer gemeinschaftlichen Autorschaft.
Halten Sie diesen Wandel und den Verlust der Kontrolle durch den Einzelnen denn grundsätzlich für problematisch?
Das ist eine sehr schwierige Frage, da sie von unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten ist. Provokativ könnte ich sagen, dass es auch Menschen gibt, die die Demokratie aus ähnlichen Gründen für problematisch halten. Und zwar aus dem Grund, dass das was früher leicht durch eine Person – einen Herrscher – kontrollierbar war, jetzt weniger kontrollierbar ist. Letzten Endes sind alle Vergesellschaftungsphänomene mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu betrachten. Das lachende Auge ist in diesem Fall die breitere Kontrolle und die Beteiligung von mehr Menschen an einem Prozess. Das ist zunächst einmal positiv zu bewerten. Was daraus aber resultiert ist, dass die Überprüfungsstrategien komplexer werden und es dadurch schwieriger wird, das Wissen zu konsolidieren. Hier liegt das große Dilemma.
Welches Dilemma meinen Sie genau?
Das Dilemma zwischen der Zunahme von Wissen auf der einen und der Möglichkeit von Fake News auf der anderen Seite. Dieses resultiert aus der Zerlegung des Wissens und der Information in Fragmente – ein Prozess, der durch digitale Medien potenziert wird. Als Wissenschaft noch grundsätzlich von einer Person vermittelt wurde, gab es verschiedene Kontrollinstanzen, die generisch als Filter eingebaut waren. Es gab also vor der Publikation zumindest ein Minimum an Qualitätssicherung. Durch die Abschaffung dieser Filter haben wir diese Qualitätssicherung verloren und dort liegt der große Unterschied zwischen früher und heute. Alternative Meinungen gewinnen dadurch zunehmend an Gewicht, weil niemand sie mehr herausfiltert und einordnet. Das ist nicht nur ein Problem für die Wissenschaft, sondern ein gesamtgesellschaftliches.
Was müssen wir also tun?
Wir müssen es schaffen, die Deutungshoheit der Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Das ist leichter gesagt als getan, aber darum geht es. Wir haben uns bisher zu stark darauf verlassen, dass wir die Deutungshoheit haben, einfach weil wir Wissen im Schutze einer Universität erwerben und verbreiten. Dieser Automatismus läuft nicht mehr und da müssen wir anpacken. Wir müssen deshalb unbedingt lernen, die komplexen Inhalte unserer Wissenschaft so aufzuarbeiten, dass sie auch in den Sozialen Medien funktionieren und wirksam sind. Das ist noch nicht der Fall und deshalb hat die andere Seite, also jene, die Fake News verbreiten, derzeit noch einen Vorteil. Wir können uns jetzt hinstellen und sagen, dass die Verbreitung wissenschaftlicher Inhalte zu komplex für Twitter ist, aber das schützt uns nicht davor, daran zu arbeiten. Wir müssen die sozialen Medien für unsere Zwecke nutzbar machen.
Des Weiteren glaube ich, dass es eine Disziplinierung des digitalen Wissens braucht. Damit ist gemeint, dass wir das digitale Wissen so aufbereiten und verarbeiten müssen, dass es auch in den traditionellen Rahmen wissenschaftlicher Disziplinen und Fächer passt. Es muss also verdaubar für die Tätigkeit in der Wissenschaft werden. Das ist schwierig, weil wir uns derzeit sehr stark am Primat der Schrift und des Buches orientieren. Dieses System muss man aus meiner Sicht etwas aufbrechen und an den digitalen Wandel anpassen.
Sie fordern also eine aktive Nutzung moderner Kommunikationskanäle, es gibt aber auch Leute, die dies anders sehen und einen Rückzug fordern. Was entgegnen Sie diesen?
In der Tat gibt es viele, die die neuen Technologien eher verteufeln. Ich glaube aber, dass eine neue Technologie nie an sich schlecht ist. Schließlich vereinfacht sie uns in vielen Bereichen das Leben. Natürlich hat sie auch Nachteile, aber man muss sich den Entwicklungen stellen und sie positiv einsetzen. Ich glaube, ein Kulturpessimismus wird uns nicht weiterbringen und davon müssen wir wegkommen.
Was passiert, wenn wir es nicht schaffen?
Das ist ein sehr dunkles Szenario. Ich befürchte, dann wird die Wissenschaft, wie wir sie kennen, nicht mehr so existieren. Daraus würde eine Verrohung der Gesellschaft resultieren. Eine Entwicklung, die es bereits zweimal in der Geschichte der menschlichen Kultur gegeben hat. So gab es im Übergang zwischen der Bronze- und der Eisenzeit zwei, drei Jahrhunderte, in denen eigentlich bereits vorhandenes Wissen verloren gegangen ist. Eine ähnliche Tendenz gab es im frühen Mittelalter in Europa.
Schaffen wir es also nicht, den Wandel positiv zu gestalten, befürchte ich, dass das bestehende Wissen verloren gehen könnte. Ich sehe also eine starke Gefährdung des kulturellen Gedächtnisses, was eine sehr traurige Entwicklung wäre.
Weshalb haben Sie Hoffnung, es trotzdem zu schaffen?
Ich glaube, dass die Geschichte uns etwas lehrt und zeigt, dass Wissensverlust auch immer wieder ausgeglichen wurde und wiederhergestellt werden konnte. Deshalb besteht meines Erachtens kein Zweifel, dass wir langfristig vor einer besseren Zukunft stehen.
Das Interview wurde während der Jahrestagung des Zentrum für Wissenschaftsmanagement unter dem Titel “State of the Art 2019: Wissenschaft in der Gesellschaft: Selbst- und Fremdwahrnehmung von Qualität und Verantwortung” geführt. Antonio Loprieno hielt dort die Keynote.