Welche Rolle sollte Wissenschaft in politischen Entscheidungsprozessen spielen? Wann ist Kritik an Wissenschaft legitim und wann nicht? Diese und andere gesellschaftlich relevante Themen aus der Wissenschaftsphilosophie werden in dem Video-Kanal „Socially Engaged Philosophy“ diskutiert. Alexander Reutlinger spricht über die Ziele und Hintergründe des Projekts.
„Wir möchten philosophisch fundierte Wissenschaftskompetenz vermitteln“
Herr Reutlinger, was ist der Hintergrund Ihres Youtube-Kanals „Socially Engaged Philosophy“?
Das Projekt mache ich zusammen mit zwei Kolleg*innen aus der Wissenschaftsphilosophie: Maria Kronfeldner von der Central European University in Wien und Martin Kusch von der Universität Wien. Wir sind das Kernteam des Projekts. Wissenschaftsphilosophie ist eine wissenschaftsreflexive Disziplin: in unserer Forschung beschäftigen wir uns mit ganz unterschiedlichen methodologischen und moralisch-politischen Fragen, die Wissenschaft betreffen. Wir interessieren uns dabei besonders für Themen, bei denen Wissenschaft einen Beitrag zur Lösung politisch oder sozial relevanter Fragen liefern soll. Denken Sie etwa an die Klimawissenschaften und die Klimakrise sowie die Gesundheitswissenschaften und die Coronakrise. Beispielsweise untersuchen wir in unserer Forschung, wovon die Zuverlässigkeit wissenschaftlichen Wissens abhängt und welche Rolle Wissenschaften in einer demokratischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zukommen sollte.
„Socially Engaged Philosophy“ ist ein Kommunikationsprojekt, das philosophische Inhalte dieser Art allgemeinverständlich an ein Nicht-Fachpublikum vermitteln möchte. Das schließt Kolleg*innen und Studierende aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen ein. Aber wir möchten auch interessierte Nicht-Wissenschaftler*innen ansprechen. Wir möchten philosophisch fundierte Wissenschaftskompetenz vermitteln.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass es wichtig wäre, philosophische Themen an ein nicht-philosophisches Publikum heranzutragen?
Wissenschaftlicher Input spielt bei der Lösung von immer mehr politischen und sozialen Problemen eine wichtige Rolle – wie beispielsweise in der Klima- und Coronakrise. Die Schwierigkeit dabei ist aber, dass die Leute, die entscheiden – seien es Bürger*innen oder Politiker*innen – selbst in der Regel keine wissenschaftlichen Expert*innen sind. Man braucht deshalb Wissenschaftskommunikation, um die Lücke zwischen Expert*innen und Nicht-Expert*innen zu überbrücken. Wir denken, dass Wissenschaftsphilosophie einen eigenständigen Beitrag dazu leisten kann: nämlich Wissenschaftskompetenz zu vermitteln.
In der Geschichte unseres Fachs gibt es eine lange Tradition von Kommunikationsprojekten. Ein leuchtendes Beispiel, das für uns prägend ist, war der Wiener Kreis: eine Gruppe von Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen in den 1920er- und 1930er-Jahren. Den Mitgliedern des Wiener Kreises war es ein großes Anliegen, Wissenschaftskompetenz zu vermitteln. Bürger*innen sollten verstehen, wie Wissenschaft verschiedene Bereiche der Gesellschaft und Natur beschreibt und warum wissenschaftliche Methoden unter bestimmten Bedingungen zuverlässig sind und handlungsanleitend sein können. Wissenschaftskompetenz hat einen ermächtigenden Effekt auf Bürger*innen, der es ihnen ermöglichen soll, wohlinformierte politische Entscheidungen zu treffen. In diese Tradition wollen wir uns einreihen.
Wie funktioniert das Format?
Das Videoformat hat sich uns im Laufe der Pandemie angeboten. Vorher haben wir zum Beispiel an Volkshochschulen und Universitäten, in Museen und anderen Foren populärphilosophische Vorträge gehalten. Aber dann wollten wir etwas Neues ausprobieren.
Es gibt für jedes Video ein Thema, über das sich in der Regel zwei Leute 45 bis 60 Minuten austauschen. Manchmal kommen alle Diskussionspartner aus dem Kernteam. Das ist aber nur dann so, wenn ein Thema in das Gebiet unserer Expertise fällt. Wenn das nicht der Fall ist und uns ein Thema dennoch interessiert, laden wir uns eine Expert*in ein. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für uns. Wir verstehen uns nicht als Intellektuelle, die glauben, sich zu jedem beliebigen Thema öffentlich äußern zu können. Es geht uns es um die Kommunikation von durchdachten und informierten philosophischen Thesen und Argumenten. Und das funktioniert nur auf der Grundlage von hinreichender Expertise.
Welche Themen behandeln Sie in den Videos?
Ein großer Themenkomplex sind charakteristische Eigenschaften von wissenschaftlichem Wissen. Dabei haben wir uns unter anderem mit folgenden Fragen beschäftigt: In welchem Sinne kann wissenschaftliches Wissen unsicher sein und trotzdem eine verlässliche Basis für unser Handeln darstellen? Was bedeutet es, wenn man sagt, dass wissenschaftliches Wissen durch empirische Daten gestützt ist? Kann wissenschaftliches Wissen zuverlässig sein, obwohl es in einem bestimmten Sinn nicht absolut, sondern immer nur abhängig von oder „relativ zu“ bestimmten Bedingungen oder Standards gilt, wie Relativist*innen in der Wissenschaftsphilosophie behaupten?
Ein weiterer umfangreicher Themenblock betrifft verschiedene Formen von Kritik an wissenschaftlichen Ergebnissen, wie man sie im Kontext der politischen Diskussionen zur Klima- und Coronakrise fast täglich beobachten kann. Wir fragen in mehreren Folgen unseres Videokanals: Wo hört eine legitime Kritik von wissenschaftlichen Ergebnissen, die ein wichtiger Teil des Alltags im Wissenschaftsbetrieb ist, auf? Und wo fängt eine illegitime Art von Kritik an? Illegitime Kritik haben wir vor allem anhand eines Phänomens diskutiert, das man als „strategischen Wissenschaftsskeptizismus“ bezeichnet. Bei diesem Phänomen geht es um öffentliche Kritik an wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, wobei die Kritik ausschließlich der Wahrung von politischen und ökonomischen Interessen dient. Ein prominentes Beispiel: Leugnung des Klimawandels, die von der Ölindustrie finanziert wird und den finanziellen Interessen dieser Industrie dienen soll. Ich denke, dass illegitime Kritik nicht nur eine große Gefahr für die Wissenschaft darstellt, sondern auch für die Demokratie, denn damit können Menschen ganz leicht aufs Glatteis geführt werden.
Auch die Rolle von wissenschaftlichen Expert*innen in politischen Entscheidungen wird thematisiert. Worum geht es dabei?
Ein anderes Riesenthema ist, dass viele Wissenschaftler*innen einerseits zurecht auf ihre Forschungs- und Lehrfreiheit pochen und diese Freiheiten manchmal wirklich in Gefahr sind, wie zum Beispiel in derzeit Ungarn. Gleichzeitig haben Wissenschaftler*innen aber nicht nur Freiheiten, sondern sie tragen auch eine soziale und moralische Verantwortung. Uns interessiert, wie die Freiheit und Verantwortung der Wissenschaftler*innen stimmig zusammengebracht werden können.
Ein anderes Thema sind Werte und Ziele von Wissenschaft. Welche Fragen stecken dahinter?
Im Zusammenhang mit strategischem Wissenschaftsskeptizismus haben wir uns mit der Frage beschäftigt, ob und in welcher Form moralische Wertungen, politische Zielsetzungen und ökonomische Interessen eine Rolle in der wissenschaftlichen Forschung und vielleicht sogar in der Wissenschaftskommunikation spielen dürfen. Es gab in der Wissenschaftsphilosophie und auch in der Wissenschaft selbst die Auffassung, dass gute Wissenschaft frei von solchen Wertungen, Zielen und Interessen sein sollte. Ein interessantes Diskussionsergebnis der letzten Jahre in der Wissenschaftsforschung ist jedoch, dass diese Auffassung ein schiefes Bild von Wissenschaft zeichnet. Einerseits kann es durchaus gute angewandte Forschung geben, die vom Ziel getrieben ist, Profit zu machen. Zum Beispiel kann dies bei der Medikamentenentwicklung in einem Pharmakonzern so sein. Diese Forschung ist nicht allein deswegen schlechte Wissenschaft, weil ein Profitinteresse dahintersteht. Dasselbe scheint für Wissenschaft zu gelten, die auf bestimmte politische Ziele ausgerichtet oder durch ein moralisches Ziel angetrieben ist – beispielsweise von dem Ziel, die Klimakatastrophe verhindern zu wollen. Andererseits gibt es auch klare Fälle, in denen zum Beispiel ökonomische Interessen zu schlechter Wissenschaft führen. Auch dafür gibt es zahlreiche Beispiele aus der Pharmaforschung, aber natürlich auch aus anderen Forschungsbereichen. Für uns Philosoph*innen lautet die entscheidende Frage: Wovon hängt es ab, ob die Rolle von Werten zu guter oder zu schlechter Wissenschaft führt?
Welche Art von Kritik an Wissenschaft ist denn legitim?
Um Diskussionen anzuregen, ist es nicht damit getan, Videos hochzuladen. Wie erreichen Sie Ihr Publikum?
Wir haben das Projekt über unsere Institutionen und deren Social-Media-Auftritte, über unsere eigenen Accounts und innerfachlichen Mailinglisten verbreitet. Wir haben auch Journalist*innen informiert. Mir ist dabei – und auch schon zuvor – aufgefallen, dass es einen relativ großen Graben zwischen Wissenschaftsjournalismus und wissenschaftskommunikativen Bemühungen von Wissenschaftler*innen gibt. Das müsste sich ändern: Wissenschaftskommunikation müsste viel stärker auf Arbeitsteilung und direktere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsjournalist*innen setzen, denn für Wissenschaftler*innen ist Wissenschaftskommunikation schlicht und ergreifend auch eine Zeitfrage.
Apropos Zeit: Wie schaffen Sie es als Wissenschaftler, sich in so einem Projekt zu engagieren?
Trotz dieses Grundproblems möchte ich aber betonen: Für mich sind Kommunikationsprojekte keine Bürde, sondern sie machen mir Spaß. Es kann wirklich spannend und gewinnbringend sein, mit Leuten, die nicht zum Dunstkreis des eigenen Faches gehören, über Philosophie zu diskutieren oder ihnen anregende philosophische Argumente zu vermitteln.
Welche Art von Rückmeldungen bekommen Sie?
Die ganze Bandbreite. Es gibt Leute, die sagen: So habe ich darüber noch nie nachgedacht, das ist ja toll und bringt mir etwas. Es passiert aber auch, dass man beschimpft wird, wenn man sich zu Themen wie strategischem Wissenschaftsskeptizismus äußert. Auch, wenn es um Rassismus geht, kann man darauf wetten, dass man einige E-Mails bekommt, die man am besten ganz schnell löscht. Übrigens geht es in unserem neuesten Video genau um dieses Thema: Bedrohungen und Einschüchterungsversuche gegenüber Wissenschaftler*innen.
Es gibt auch positive Reaktionen von Studierenden, die häufig ganz angetan sind, wenn sie merken: Es gibt eine philosophische Reflexion von Wissenschaft, die politisch und sozial relevant ist. Viele überlegen dann, Arbeiten zu solchen Themen zu schreiben. Dadurch rücken wir Themen, die in der Forschung eher randständig waren, mehr ins Zentrum. Wir hoffen, innerfachlich darauf hinzuwirken, dass die philosophische Forschung mehr Impact in Bezug auf sozial und politisch relevante Fragen und Probleme erhält.
Wie geht es mit dem Format weiter?
Nächstes Jahr wollen wir ergänzend zu dem Gesprächsformat etwas anderes ausprobieren: eine Enzyklopädie der Wissenschaftskompetenz. Dabei soll es darum gehen, in kurzen Videos wichtige Punkte und begriffliche Instrumente zu vermitteln, von denen wir sagen würden: Das sollten eigentlich alle Bürger*innen, Politiker*innen und auch Wissenschaftler*innen mal gehört haben, wenn sie in politischen Zusammenhängen über Wissenschaft nachdenken und sich selbst eine Meinung bilden möchten. Die Enzyklopädie soll ein Experiment werden, in dem wir ausprobieren wollen, wie stark man philosophisch fundierte Wissenschaftskompetenz komprimieren kann.