Beim Reenactment werden historische Ereignisse nachgespielt. Können auf diese Weise geschichtswissenschaftliche Themen vermittelt werden – oder entstehen verzerrte Bilder? Die Historikerin Ulrike Jureit spricht im Interview über vermeintliche Authentizität, Public History und alles, was im Spiel ausgeklammert bleibt.
„Wir können Vergangenheit nicht eins zu eins in der Gegenwart abbilden“
Frau Jureit, auf welche Art und Weise wird Geschichte im Reenactment dargestellt?
Reenactment ist eine populäre Form der Geschichtsaneignung, ein Nachspielen historischer Ereignisse, vor allem von Kampfhandlungen wie Gefechten und Schlachten. Aber Reenactment existiert auch in anderen Bereichen, zum Beispiel gibt es Übergänge zur „Living History“, bei der es eher um das Darstellen von Kulturtechniken und das Vermitteln von bestimmten Lebensformen anderer Epochen geht. Dabei verfolgt man stärker didaktische Ziele – zum Beispiel gegenüber Besucher*innen eines Museums.
Reenactment ist ein ambitioniertes Spiel. Das geht zumindest bei einigen Gruppen mit dem Anspruch einher, zeigen zu wollen, wie es tatsächlich gewesen ist. Hier kommt der Begriff der Authentizität hinzu. Viele Akteure behaupten, dass so ein Spiel – gerade auch im Unterschied zu den „trockenen“ Geschichtsbüchern – es ermögliche, historische Ereignisse lebendig zu erhalten. Dazu gibt es aber auch kritische Stimmen, die sagen, Reenactments zeugten eher romantisch verklärte Kriegsdarstellungen.
Können wir uns durch Reenactments ein besseres Bild von Geschichte machen?
Ich glaube, man muss zunächst grundsätzlich feststellen: Wir können Vergangenheit nicht eins zu eins in der Gegenwart abbilden. Das heißt, wir haben es immer mit vermittelten Formen zu tun – durch Sprache, durch Bilder, durch Reinszenierung. Natürlich werden durch Reenactments bestimmte Bilder der Bezugsereignisse vermittelt. Die Frage ist aber: welche? Es ist sehr einfach zu behaupten, dass man durch das Wieder-Aufführen eine irgendwie realitätsnahe Darstellung des damaligen Geschehens erreicht. Besonders in der Geschichtswissenschaft wird dies kritisch gesehen: Das ist kein realistisches Abbild dessen, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, weil es immer eine vermittelte – in diesem Fall als Spiel inszenierte – Darstellung ist, in der bestimmte Aspekte ausgegrenzt bleiben, die sich eben nicht inszenieren lassen.
Infokasten: Reenactment & Living History
Das moderne Reenactment hat sich seit den 1960er-Jahren entwickelt, vor allem in den USA, aber auch in Europa. Inzwischen wird es in vielen Ländern weltweit praktiziert. Klassischerweise geht es darum, historische Ereignisse, beispielsweise Schlachten, möglichst „authentisch“ nachzuspielen. Reenactment ist nicht an eine bestimmte Epoche gebunden. Es gibt beispielsweise eine große Mittelalterszene, viele Darstellungen zum 19. Jahrhundert, aber auch zum Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie zum Vietnamkrieg. Reenactment kann mit oder ohne Zuschauer*innen stattfinden. Andere Formen versammeln sich unter der Bezeichnung „Living History“. Diese sind häufig in museale oder didaktische Zusammenhänge eingebettet. Es geht dabei weniger um ein konkretes Ereignis als um die Vermittlung von Kulturtechniken und die Darstellung historischer Lebenswelten.
Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg lassen sich beispielsweise nicht darstellen, am ehesten noch der Einsatz von Panzern, wie er im Ersten Weltkrieg beginnt. Aber viele Kampftechniken des modernen Krieges lassen sich eben nicht nachspielen.
Gerade bei Reenactments, die vor Publikum stattfinden, stellt sich auch die Frage: Wie geht man mit extremer Gewalt um? Das Kämpfen gilt oftmals noch als legitim, aber was ist mit Hinrichtungen von Deserteur*innen, Vergewaltigungen, dem Plündern von Dörfern, dem Abbrennen von ganzen Siedlungen? Das sind Bestandteile von Krieg, die historisch dazugehören, aber im Reenactment relativ wenig auftauchen. Und es ist für die Darsteller*innen auch nicht besonders attraktiv, bereits in den ersten fünf Minuten einer solchen Veranstaltung „getötet“ zu werden. Aber das wäre die Realität. Es gibt also eine Anpassung des historischen Bezugsereignisses an die Regeln des Spiels. In dieser Übersetzung wird ein Geschichtsbild konstruiert, das man durchaus als problematisch ansehen kann.
Wir haben über die Darstellungen von Kriegen und Schlachten gesprochen. Wie aber steht es um den Bereich der Living History? Wird dort ein weniger problematischer Zugang zu Geschichte geschaffen?
Andere Bereiche sind problematischer. Vor allem solche, von denen ich glaube, dass es stärker um das eigene Erleben der Darsteller*innen geht. Sie wollen das historische Ereignis nicht reflektieren oder intellektuell durchdringen, sie wollen es eher als Soldat*in oder als Krieger*in fühlen und erleben.
Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Reenactment-Szene beschreiben?
Generell muss man sagen, dass Historiker*innen insgesamt gegenüber populären Formen der Geschichtsaneignung relativ skeptisch sind. Es gibt – wenn überhaupt – eine eher kritische Auseinandersetzung damit, inwiefern solche Darstellungen zu stark vereinfachen. Seit einigen Jahren geschieht dies an den Universitäten zunehmend unter dem Titel „Public History“– hier werden Aktivitäten und Aneignungsformen in den Blick genommen, die sich hauptsächlich außerhalb des akademischen Betriebs mit Geschichte befassen. Es gibt eine ganze Reihe von Formaten, von denen viele Historiker und Historikerinnen sagen würden, dass sie problematische Bilder vergangener Ereignisse transportieren. Mittlerweile setzt sich die Geschichtswissenschaft aber auch mit diesen Formen der Geschichtsvermittlung professionell auseinander. Sehr lange standen dabei Museen, Gedenkstätten, Wanderausstellungen und Filme im Mittelpunkt. Aber mittlerweile ist das Spektrum viel größer. Zum Beispiel gilt es nun auch Computerspiele bei der Vermittlung von geschichtlichem Wissen zu berücksichtigen.
Sollte sich die Geschichtswissenschaft mehr mit populären Formaten der Geschichtsaneignung beschäftigen?
Ja. Ich halte es für einen Fehler, dass viele Historiker*innen beispielsweise Reenactments als ein laienhaftes, populäres Spiel beiseiteschieben. Dieser Meinung kann man sein. Aber solche Formen gehören zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte dazu. Reenactments sprechen, gerade wenn sie im öffentlichen Raum stattfinden, ein großes Publikum an. Es muss die Geschichtswissenschaft interessieren, welche Geschichtsbilder zirkulieren, wie sie entstehen und vermittelt werden. Darüber sollte es eine intensivere Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit geben.
Wir haben über die Wirkung auf das Publikum gesprochen. Was aber ist mit den Beteiligten?
Die Reenactment-Szene ist sehr bunt. Ihre Mitglieder haben ganz unterschiedliche Ambitionen, verfolgen verschiedenste Interessen und weisen unterschiedliche Professionalisierungsgrade auf. Es gibt Leute, die sich sehr intensiv mit der Zeit, die sie nachspielen, auseinandersetzen und somit über ein sehr detailliertes und profundes Wissen verfügen. Im Reenactment gibt es zum Beispiel eine sehr starke Fokussierung auf die Objekte, die verwendet werden: Uniformen, bestimmte Waffen und Ausrüstungsgegenstände, die ein Soldat beispielsweise während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 bei sich hatte. Da gibt es Akteur*innen, die sich sehr detailliert damit beschäftigen, wie die Uniformen ausgesehen haben oder wie die Waffen beschaffen sein mussten. Da ist also ein Wissensreservoir, das sich anhand konkreter Gebrauchsformen und eingeübter Praktiken ausbildet.
Ich glaube, die Hauptproblematik ist, wenn Zuschauer*innen suggeriert wird, Gewalt und Krieg würden „authentisch“ dargestellt werden. Es geht gar nicht darum, solche erlebnisorientierten Formen der Geschichtsaneignung in Grund und Boden zu kritisieren. Aber man muss die Bilder, die dabei entstehen, ebenso hinterfragen wie Geschichtsbilder, die durch andere Formate transportiert werden, also zum Beispiel in Filmen oder Schulbüchern. Auch das sind Formen, bei denen man durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, welche Begebenheiten ausgewählt, wie sie gezeigt und wie dabei auch bestimmte Aspekte ausgeblendet werden. Der Historiker Reinhart Koselleck hat das einmal treffend auf die Formel gebracht: „Zeigen heißt Verschweigen“.