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„Wir können Bilder nicht mehr abschütteln“

Visualisierungen transportieren Wissen auf eine andere Art als Texte: unmittelbarer, schneller – und manchmal auch anders als sie sollten. Rhetorikforscher Markus Gottschling erklärt im Interview, was das für die Wissensvermittlung bedeutet.

Herr Gottschling, Ihr Vortrag beim Bundeskongress von Jugend präsentiert mit dem Schwerpunktthema „Visuelles Wissen“ hatte den Titel „Die Erfindung der Wirklichkeit“. Wie kann man mit Bildern Wirklichkeit erfinden?

Zum einen können wir über Visualisierungen Dinge sichtbar machen, die man eigentlich gar nicht sehen kann. Ein Beispiel sind die bildgebenden Verfahren in den Neurowissenschaften. Hier werden zum Beispiel aktive Hirnareale in der Visualisierung als rote Flächen dargestellt. Und schon allein die Farbauswahl erweckt einen ganz bestimmten Eindruck und konstruiert Informationen. Unsere Alltagserfahrung sagt uns: Rot gefärbte Flächen bedeuten meist, es gibt besonders viel von etwas, etwas ist besonders schlecht oder besonders warm. Das stimmt aber für den dargestellten neurologischen Prozess nicht unbedingt. Es wird nicht warm und es sind vielleicht auch nicht besonders viele Aktivitäten. Trotzdem wird durch die Farbe zunächst dieser Eindruck erweckt. Zum anderen können Visualisierungen auch für Prognosen der Zukunft genutzt werden. Diese zeigen explizit Dinge, die es noch gar nicht gibt, die dann aber reale Auswirkungen haben können.

Können Sie hier ein Beispiel geben?

Markus Gottschling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. An der dort angesiedelten Forschungsstelle Präsentationskompetenz forscht er zur rhetorischen Situation, besonders im Hinblick auf Präsentationen und Wissenschaftskommunikation. Foto:

Nehmen wir die Geschichte des Kartographen August Petermann: Mitte des 19. Jahrhunderts hat er Berichte verschiedener Arktis-Schifffahrten und Expeditionen zusammengetragen und aus einem Sammelsurium an Reiseberichten, Daten und Erzählungen eine Karte erstellt. Auf der Karte sah es dann so aus, als ob man es tatsächlich schaffen könnte, mit dem Schiff bis zu einem noch unbekannten arktischen Kontinent zu fahren, den Petermann fälschlicherweise dort vermutete. Diese Karte war mitverantwortlich für eine Reihe von Expeditionen, die den Nordpol erreichen wollten. Einige Seeleute kamen unverrichteter Dinge zurück, andere aber scheiterten und erfroren bitterlich. Die Prognose hielt der Überprüfung also nicht stand. Trotzdem hat sie das Leben von Menschen beeinflusst. Hätte man alle Berichte einzeln nacheinander angehört, wäre vermutlich nicht so ein eindrückliches Bild der Region entstanden, wie es die Karte dargestellt hat.

Ein anderes Beispiel sind Sturmprognosen im Fernsehen. Wenn einem Reporter per Greenscreen und Computersimulation das Wasser buchstäblich über den Kopf steigt, wirkt das ganz anders, als wenn er nur erzählt, wie viel Zentimeter es steigen könnte. Wenn das dazu führt, dass mehr Menschen die Gefahr realisieren und dann tatsächlich ihre Häuser verlassen, ist das eine sinnvolle Visualisierung. Man sollte sich ihrer Wirkung aber immer bewusst sein.

Wie kommt es, dass Bilder so eine Macht über uns haben?

Hockeystick-Graph mit Klimadaten. Grafik: <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Temperature_Reconstructions_0-2006_AD.png" target="_blank" rel="noopener">Jbo166 und Olliminatore</a>, <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de">CC BY-SA 3.0</a>
Hockeystick-Graph mit Klimadaten. Grafik: Jbo166 und Olliminatore, CC BY-SA 3.0

Die rhetorische Theorie schreibt Bildern verschiedene Fähigkeiten zu: Sie machen einen Sachverhalt lebendig, und sie vermitteln auf einen Blick Details. Die Geschwindigkeit, mit der wir sie verarbeiten können, ist dabei entscheidend – das wusste schon Aristoteles. Was wir in der Sprache mit einer Metapher machen können, das geht mit einem Bild noch viel schneller. Denken Sie an den Hockeystick-Graphen der Klimaerwärmung. Darauf ist zu sehen, wie sich das Klima über die Zeit erst ganz langsam erwärmt hat und dann plötzlich innerhalb weniger Jahrzehnte sehr steil angestiegen ist. Wenn man dieselbe Information erzählt, hat es einen ganz anderen Effekt, als wenn man sie visualisiert. Im Bild sehen wir: Da verändert sich etwas unglaublich schnell. Das nehmen wir sofort wahr. Was diese Daten dann aber im Detail bedeuten, ist erst der nächste Schritt. Durch die Visualisierung bringt man das Wissen erst mal unter Kontrolle. Sie verleitet aber auch zu voreiligen Schlüssen.

Warum das?

Weil wir sie auf einen Blick erfassen können, erscheinen uns Bilder realer als Informationen, die wir uns durch das Lesen oder Zuhören schrittweise erschließen müssen. Bilder schaffen so eine Präsenz, eine Vergegenwärtigung und eine Orientierung, die wir dann nicht mehr so einfach abschütteln können. Sie werden selbst zur Evidenz, zum Beweis. Wenn ich also bei einer Präsentation eine Visualisierung einsetze, um einen bestimmten Sachverhalt zu verdeutlichen, bleibt bei vielen Leuten hängen: „Ah, ja, das habe ich gesehen, das stimmt.“ Das Publikum ist geneigt, mir eher zu glauben. Ob es nun tatsächlich stimmt, ist eine andere Frage. Aber als rhetorisches Mittel sind Bilder fähig, diese vermeintlich unmittelbare Einsicht zu erzeugen.

Was bedeutet das für die Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen mit Bildern?

Dass man Kontext mitliefern sollte. Das Problematische an Bildern ist, dass sie oft nur eine Seite oder einen Teilbereich der Information zeigen. Sie suggerieren dann vielleicht eine Einsicht, die in den Daten gar nicht drinsteckt. Oder sie funktionieren wie ein Evidenzverstärker und geben der Information viel mehr Gewicht, als sie eigentlich in einem Kontext hat. Darum ist es wichtig, das Bild einzuordnen, etwa mit einer Erklärung oder Bildunterschrift. Einem Fachpublikum würde sofort auffallen, wenn eine Legende fehlt oder die Herkunft der Daten nicht erklärt wird. Die wenigsten Laien aber werden sich fragen, wie ein Bild entstanden ist, was darauf vielleicht nicht zu sehen ist und warum dieser Ausschnitt oder diese Daten gewählt wurden. Man sollte sich also gut überlegen, welches Wissen man zusätzlich vermitteln muss, damit eine Zielgruppe ein Bild richtig einordnen kann. Einer Schülergruppe muss man dann vielleicht andere Informationen geben als einer erwachsenen Zielgruppe, damit das Bild in der Präsentation oder als Beigabe zum Text die richtige Wirkung erzielt.