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Wie wir mit Wissenschaftsskepsis umgehen sollten

„Fakt oder Fake: Wie gehen wir mit der Wissenschaftsskepsis um?“ so lautete die Preisfrage des Essay-Wettbewerbs 2022 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Aus über 140 Einreichungen prämierte die Akademie erstmals gleichrangig drei Beiträge. Diese stellen wir in den kommenden Wochen vor. Heute: Der Essay des Soziologen Alexander Bogner in gekürzter Fassung.

Kein Zweifel: Im Zuge der Coronapandemie hat die Wissenschaftsskepsis einen ungeahnten Aufschwung erfahren. Aus den anfangs von kleinen Gruppen getragenen Protesten (der „Querdenker*innen“, Impfgegner*innen und Staatsverweigerer) hat sich eine der größten sozialen Bewegungen der letzten Jahre entwickelt. Diese hat nicht nur die Regierungspolitik im Visier, sondern auch die Wissenschaft. Auf zahlreichen Demonstrationen wurde dies unmissverständlich deutlich gemacht. In Deutschland wurden Plakate geschwenkt, auf denen der Virologe Christian Drosten in Häftlingsuniform abgebildet war. In Wien, als Ende 2021 Zehntausende auf der Ringstraße „Widerstand“ und „Nieder mit der Diktatur“ skandierten, waren auch allerhand Spruchbänder gegen die „Expertokratie“ zu sehen.

Dass die Expert*innen mit der Politik gemeinsame Sache machen, glaubten zu diesem Zeitpunkt immerhin 28 Prozent aller Befragten in Österreich. Genauso viele waren der Meinung, dass wir uns mehr auf den gesunden Menschenverstand und weniger auf wissenschaftliche Studien verlassen sollten (Eberl et al. 2021). Diese neue Hochachtung vor dem Hausverstand lässt sich als Kern eines speziellen Populismus verstehen, der sich auf Wissenschaft und Expert*innen bezieht. Die Logik dieses epistemischen Populismus lautet in Grundzügen folgendermaßen: Weil der Common Sense auf den authentischen Alltagserfahrungen der („einfachen“) Leute basiert, ist er glaubwürdiger als das theoretische bzw. ideologische Wissen einer „abgehobenen“ akademischen Elite, die mit ihrer Forschung (insbesondere in der Klima- oder Genderdebatte) stets eine politische Agenda verfolgt. Deshalb ist das „Volk“ gegenüber den elitären „Besserwisser*innen“ moralisch überlegen und immer im Recht (Mede/Schäfer 2020). Doch was sind die Ursachen für den Boom dieser wissenschaftsfeindlichen Bewegung?

„In den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen rücken deshalb epistemische Aspekte, also Fakten, Evidenzen, kognitive Kompetenzen.“ Alexander Bogner
Ob Klimakrise oder Pandemie, ob Gentechnik oder Glyphosat – viele politische Streitfragen werden heute unter maßgeblicher Beteiligung der Wissenschaft ausgetragen. Im Mittelpunkt dieser Wissenskonflikte stehen Fragen wie zum Beispiel: Welche gesundheitlichen oder ökologischen Gefahren drohen uns? Wie hoch ist das Risiko? Welche Schwellenwerte dürfen wir nicht überschreiten? Diskutiert und gestritten wird in all diesen Fällen über die Zuverlässigkeit von Studien und Daten, um die Glaubwürdigkeit von Szenarien und Modellen oder die Stichhaltigkeit von Grenzwerten und Kennzahlen. In den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen rücken deshalb epistemische Aspekte, also Fakten, Evidenzen, kognitive Kompetenzen (Bogner 2021).

Wenn sich die politische Debatte auf die Frage beschränkt, wer das bessere Wissen auf seiner Seite hat, drohen zwei Gefahren: Zum einen kommen jene Aspekte zu kurz, die viele politische Konflikte überhaupt erst ankurbeln, nämlich divergierende Werte, Weltbilder und Interessen. Bleiben diese Wertedebatten ausgespart, wird den Bürger*innen die Möglichkeit zur politischen Beteiligung genau dort genommen, wo sie etwas beizutragen hätten, nämlich im Bereich der normativen Abwägung. Zum anderen entsteht durch den starken Fokus auf Wissensfragen der Eindruck, als würde in den wissenschaftlichen Zahlen, Daten und Fakten bereits ein politisches Handlungsprogramm stecken. Es entsteht, mit anderen Worten, der Eindruck, als habe die Politik gar keinen Handlungsspielraum, als sei sie alternativlos gesteuert von der subtilen Macht wissenschaftlichen Wissens.

Die Schlussfolgerung, die sich aus diesem Gefahrenpanorama ergibt, ist offensichtlich: Der hohe Verwissenschaftlichungsgrad vieler politischer Konflikte trägt dazu bei, das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft zu steigern, und zwar dann, wenn Unzufriedenheit und Proteste – weil sie kein Ventil in Wertedebatten finden – sich auf die Wissenschaft richten. Die zahlreichen, teilweise militanten Attacken gegen namhafte Expert*innen in der Pandemie sprechen eine deutliche Sprache. Das heißt, sofern auf dem Terrain der Wissenschaft für die politische Mission gestritten wird, drohen sich schnell die Fronten zu verhärten. Denn der politische Gegner wird in solchen Auseinandersetzungen zwangsläufig zum Feind der Vernunft – wobei die Vernunft, je nach politischem Standpunkt, entweder in der Wissenschaft oder aber im Common Sense vermutet wird.

„(...), sofern auf dem Terrain der Wissenschaft für die politische Mission gestritten wird, drohen sich schnell die Fronten zu verhärten.“ Alexander Bogner

So groß und nachvollziehbar also unsere Freude über eine rationale, wissenschaftsbasierte Politik ist – man sollte nicht übersehen, welche Folgen drohen, wenn wissenschaftliche Expertise zur maßgeblichen Ressource in politischen Streitfragen wird: In hochgradig wissenschaftslastigen Politkonflikten sind einschlägige Kompetenzen und Kenntnisse unerlässlich, um an solchen Auseinandersetzungen teilhaben und in ihnen auch bestehen zu können. Wirkungsvolle politische Partizipation ist auf diese Weise mit einer hohen Hürde belastet. Schließlich sind die Kontrahent*innen dazu aufgerufen, ihre jeweilige normative Position argumentativ durch den Bezug auf wissenschaftliche (Gegen-)Expertise abzusichern. Wer dies mangels Bildung oder Interesse nicht schafft, hat einen gravierenden Nachteil, der kaum wettzumachen ist.

„Wer, überspitzt formuliert, im Kampf der Fakten nicht bestehen kann, bekämpft dann eben die etablierte Faktenwelt.“ Alexander Bogner
Wer, überspitzt formuliert, im Kampf der Fakten nicht bestehen kann, bekämpft dann eben die etablierte Faktenwelt. Fake News und, im Extremfall, Verschwörungstheorien sind Ausdrucksformen eines fundamentalistischen Protests, der unter dem Druck der Verwissenschaftlichung zum letzten Mittel greift, um die eigenen Werte und Ziele mit Nachdruck zu vertreten: Rationalitäts- und Realitätsverweigerung. Die Hochkonjunktur der Wissenschaftsskepsis oder -feindschaft, die wir gerade in der Coronakrise erlebt haben, lässt sich nur dann richtig verstehen, wenn man jene Marginalisierung der Werteebene im Blick behält, die sich fast zwangsläufig aus der engen Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik ergibt.

Wenn also die ÖAW im Ausschreibungstext dieser Preisfrage das Problem aufwirft, warum die Wissenschaft zuletzt in die Defensive geraten ist, so lässt sich vor dem Hintergrund des Gesagten nur vermuten: Weil sie im Zuge der Pandemie so stark in der Offensive war. Damit entstand der Eindruck, dass die Wissenschaft jene politischen Abwägungsprozesse dominierte, in denen eigentlich Platz sein muss für abweichende Meinungen und Denkansätze. Kurzum, was manche schmerzlich vermissten, das war die Möglichkeit, grundlegend abweichende normative Positionen politisch zur Geltung bringen zu können. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen wäre Aufgabe der Politik – sie hätte unmissverständlich deutlich zu machen, dass eben noch nicht alles gesagt ist, wenn die Wissenschaft gesprochen hat. Die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Politik hängt gleichermaßen davon ab, dass zwischen ihnen eine klare Grenze besteht.

„Die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Politik hängt gleichermaßen davon ab, dass zwischen ihnen eine klare Grenze besteht.“ Alexander Bogner

Die Wissenschaftskommunikation hat sich zu lange allein auf die kognitive Ebene konzentriert. Deshalb lautete ihr Mantra: Wenn Wissenschaft für die Bevölkerung unverständlich bleibt, besteht die Gefahr ihrer Ablehnung; alles, was die Menschen brauchen, sind also mehr oder besser verständliche Fakten (die, wie man annimmt, für sich selbst sprechen). Dies ist der Kern des vielfach kritisierten „Defizit-Modells“.

Wenn wir das Phänomen des epistemischen Populismus ernst nehmen, dann muss es im Rahmen der Wissenschaftskommunikation darum gehen, die besondere Qualität wissenschaftlichen Wissens, aber auch dessen Grenzen und Unschärfen zu thematisieren. Andernfalls kann leicht die Illusion entstehen, der gesunde Menschenverstand sei geprüftem Expertenwissen prinzipiell überlegen und der hochindividualisierte Mensch dazu befugt, sich seine Tatsachenwelt nach Lust und Laune zusammenzubasteln. Gleichzeitig gibt es aber auch keinen Grund, die Macht wissenschaftlichen Wissens zu dämonisieren und – Stichwort Expertokratie – der Wissenschaft zu unterstellen, sie könnte (gegen den Willen der Betroffenen) die Politik steuern. Um diesen einflussreichen Zerrbildern wirkungsvoll zu begegnen, sollte die Wissenschaft ein realistisches Bild ihrer Logik und Praxis vermitteln.

„Um diesen einflussreichen Zerrbildern wirkungsvoll zu begegnen, sollte die Wissenschaft ein realistisches Bild ihrer Logik und Praxis vermitteln.“ Alexander Bogner

Was sollte die Öffentlichkeit über die Logik der Wissenschaft erfahren? Zum Beispiel: dass die Wissenschaft bestimmte Probleme (wie die berühmte Sinnfrage) nie wird lösen können und dass in dieser Selbstbeschränkung eine ihrer Stärken liegt; dass die Wissenschaft an Grenzen kommt (und das Reich der Politik beginnt), wenn es – wie in der Coronakrise – um die Abwägung konkurrierender normativer Zielbestimmungen geht; dass Expertendissens normal und erwünscht ist, weil Kontroversen der Motor des wissenschaftlichen Fortschritts sind; dass Unsicherheit eine ständige Wegbegleiterin der Wissenschaft ist und jede Wahrheit nur vorläufig gilt; dass Wissenschaft sich von Pseudowissenschaft dadurch unterscheidet, dass ihre Behauptungen überprüfbar und widerlegbar sind; dass Wissenschaft in ihrer Konzentration auf Wahrheitsfragen hochgradig autonom, aber dadurch nur umso abhängiger von anderen Systemen ist (Politik, Wirtschaft, Recht); und schließlich: dass Wissenschaft viel Zeit braucht, weil sie Daten sammeln muss und ihre Ergebnisse einer aufwendigen Qualitätskontrolle unterliegen (Peer Review). Und natürlich: dass das soeben entworfene Selbstbild der Wissenschaft einem Ideal entspricht, das in der Praxis vielfach enttäuscht wird, aber dennoch hohe Bindungskraft hat.

Ein Stück Wissenschaftssoziologie für Alltagszwecke, mit anderen Worten, sollte das Vermittlungsziel einer Wissenschaftskommunikation sein, die auf der Höhe der Zeit ist. Denn Desinformationskampagnen, beruhen nicht allein auf falschen Tatsachenbehauptungen, sondern auch auf rhetorischen Strategien beziehungsweise auf der Verbreitung irrationaler Erwartungen. Wer weiß, wie Wissenschaft funktioniert, kann auch kompetenter mit Behauptungen und Rhetoriken umgehen, die nur darauf abzielen, wissenschaftlich gut belegte, aber unliebsame Zusammenhänge (historisches Beispiel: zwischen Rauchen und Krebs) in Zweifel zu ziehen (Oreskes/Conway 2010). Um dieser – hochgradig organisierten – Wissenschaftsskepsis nicht auf den Leim zu gehen, sollte man die wichtigsten Selbstbestätigungsstrategien der Pseudowissenschaft kennen (zum Beispiel „Rosinenpicken“).

Eines ist klar: Wir werden Wissenschaftsskepsis nicht wirkungsvoll eindämmen, solange wir diese Skepsis nur für ein epistemisches Problem halten, also für einen Ausdruck von Ignoranz, Unbildung oder mangelndem Interesse an Fakten und faszinierenden Forschungsmissionen. Echte Wissenschaftsskepsis reicht tiefer. Sie richtet sich gegen politische Projekte, die mit der Wissenschaft identifiziert werden; sie richtet sich gegen die Vernachlässigung normativer Aspekte in politischen, aber hochgradig verwissenschaftlichten Konflikten; sie richtet sich gegen die Zumutungen und Verlusterfahrungen, die die Wissenschaft für den modernen, individualisierten Menschen bereithält. Und sie richtet sich ganz grundsätzlich gegen die normative Grundlage der Wissenschaft, also konkret gegen das, was Karl Popper eine „kritische Haltung“ genannt hat, und das heißt: eine „Haltung, die zur Modifikation von Ansichten bereit ist, Zweifel zulässt und Überprüfungen fordert“ (Popper 2009: 74).

„Wissenschaftsskepsis ist vor allem ein (demokratie-)politisches Problem.“ Alexander Bogner
In dieser Haltung steckt die Bereitschaft zu echter Verständigung, zum gemeinsamen Lernen, zum offenen Diskurs – also das, was nicht nur Wissenschaft, sondern auch Demokratie im Kern ausmacht. Ohne den Willen, epistemische oder politische Wahrheiten stets kritisch zu hinterfragen, um Veränderung und Fortschritt zu ermöglichen, haben weder Wissenschaft noch Demokratie eine Zukunft. Kurzum, die wissenschaftliche Attitüde ist auch der Jungbrunnen der Demokratie. Umgekehrt heißt das, dass Wissenschaftsskepsis und Demokratiefeindlichkeit gemeinsame Wurzeln haben. Das ist beunruhigend, einerseits. Andererseits ergeben sich aus dieser Einsicht gänzlich neue Handlungsoptionen. Schließlich erscheint Wissenschaftsskepsis nicht länger als exklusives Thema der Wissenschaftskommunikation, sondern vielmehr als ernsthafte Herausforderung für die politische Bildung. Geht es doch um nichts weniger als die konsequente Vermittlung einer kritischen Haltung. Wissenschaftsskepsis ist vor allem ein (demokratie-)politisches Problem.

Es handelt sich bei diesem Gastbeitrag um eine gekürzte Version des Beitrages, den Alexander Bogner für die Preisfrage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingereicht hat. Den kompletten Beitrag finden Sie hier.

Die redaktionelle Verantwortung für diesen Gastbeitrag lag bei Sabrina Schröder. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.


Die zwei weiteren Siegerbeiträge der ÖAW Preisfrage finden Sie hier:

Joachim Allgaier, Zum Gegenangriff gegen Desinformation

Klaus Gorurgé, Die Geburt der Wissenschaft aus dem Geiste der Skepsis