Wie gelingt Gesundheitskommunikation in emotionalen Debatten?

Ernährung, Impfen, Pandemie – Wie Kommunikation auch bei emotionalen Gesundheitsthemen gelingt, erforschte das Projekt DiPubHealth und entwickelte ein Modell, das von der Analyse emotionaler Debatten bis zur Entwicklung passender Formate reicht. Wie es funktioniert, erklären Babette Jochum und Stefan Böschen im Interview.

Stefan Böschen ist Projektleiter bei „DiPubHealth“ und Lehrstuhlinhaber für „Technik und Gesellschaft“, Sprecher des Human Technology Centers und Co-Direktor des Käte Hamburger Kollegs „Kulturen des Forschens“ an der RWTH Aachen University. Foto: Peter Winandy

„Was müssen wir über eine Debatte wissen, um gezielter kommunizieren zu können?“, diese Frage haben Sie in unserem letzten Interview vor zwei Jahren als Ziel des Projekts „DiPubHealth“ formuliert. Nun ist das Projekt abgeschlossen, was haben Sie herausgefunden?

Böschen: Mit DiPubHealth haben wir uns Diskurse im Bereich gesundheitsorientierten Handelns angeschaut, zum Beispiel den Beginn der Coronapandemie, die so genannte Feinstaubdebatte und öffentliche Debatten zu digitalen Gesundheitsanwendungen. Diese verschiedenen Themen haben ganz unterschiedliche ‚Erregungspotenziale‘. Generell beobachten wir in allen Diskursen eine erhebliche Polarisierung. Aufschlussreich ist, dass es relativ wenig bedarf, um Themen zu emotionalisieren. Und diese Emotionalisierung geschieht mit einem ähnlichen sprachlichen Repertoire von Zeichen, Symbolen, Haltungen und Praktiken – zum Beispiel mit Klassifikationen wie: wir/die anderen, Verräter/Nichtverräter, Freund/Feind.
Für Instanzen, die über solche Themen kommunizieren, also Gesundheitsorganisationen wie Gesundheitsämter, ist es sehr wichtig, diese ‚Erregungspotentiale‘ im Guten wie im Schlechten zu kennen. Andernfalls ist ein Scheitern der Kommunikation vorprogrammiert.

Wann genau ist eine Kommunikationsmaßnahme gescheitert?

Böschen: Das Scheitern kann unterschiedlicher Natur sein. Zum Beispiel, wenn die Botschaft, die man vermitteln möchte, systematisch missverstanden oder nicht aufgenommen wird. Besonders schlecht ist es, wenn sie sogar das Gegenteil bewirkt und Abwehrreflexe entstehen.

Babette Jochum ist Wissenschaftsjournalistin und Projektmanagerin bei „DiPubHealth“ und „MS Wissenschaft“ beides Projekte von Wissenschaft im Dialog*. Foto: Wissenschaft im Dialog

Warum sind gerade Gesundheitsthemen so emotional besetzt?

Böschen: Es gibt kaum ein Thema, das so emotional besetzt ist, weil Gesundheit die existenzielle Grundlage ist. Letztlich geht es um die Sorge um Leib und Leben für sich selbst und seine Angehörigen. Da sind zwangsläufig Emotionen im Spiel. Zudem spielen aber in einer individualisierten Gesellschaft Fragen von Lebensstilen und Identitäten eine wachsend relevante und zugleich schwer zu adressierende Rolle.

Welche Themen werden besonders hitzig diskutiert?

Böschen: Gerade im Ernährungsdiskurs wird wie bei kaum einem anderen Thema hitzig diskutiert. Ist es noch zeitgemäß, Schweinefleisch zu essen? Da gibt es Aufreger.

Warum?

Böschen: Es geht nicht nur um die persönliche Identität. Viele Fragen der Ernährung und Gesundheit sind Fragen der kollektiven Identitätsbildung. So gibt es etwa carnivore Kulturen, also solche, in denen das Essen von Fleisch eine kulturstiftende Bedeutung hat. Nehmen wir das Beispiel Schweinefleisch, eine richtig hitzige Diskussion entwickelte sich, als es darum ging, ob es in Kitas noch angeboten werden soll, weil muslimisch geprägte Kinder keines essen. Da konnte man mit Intoleranz von Seiten derjenigen rechnen, für die der Konsum von Schweinefleisch einen identitätspolitischen Hintergrund berührt. Dann sieht man: Es werden tiefe kulturelle Wurzeln berührt und deshalb ist die Schwelle zur Intoleranz schnell überschritten.

Für das Projekt haben Sie in Workshops mit Gesundheitsorganisationen aus ganz Deutschland zusammengearbeitet. Was war das Ziel?

Jochum: Wir haben uns vor allem an Mitarbeiter*innen in Gesundheitsämter gerichtet. Sie sind wichtige Intermediäre, die nah an den Bürger*innen sind und zugleich eng mit Ärzt*innen und Forschenden zusammenarbeiten. Wir wollten gemeinsam mit diesen Praktiker*innen ein Modell für eine diskurssensible Gesundheitskommunikation entwickeln, das ihnen bei ihrer täglichen Arbeit hilft. Viele Debatten finden auf unterschiedlichen Ebenen statt. Es wird über Wissen gesprochen, aber auch – vielleicht unbewusst – über Werte. Zudem sind oft Emotionen in der Diskussion. Um das zu entwirren und sich dessen bewusst zu werden, möchten wir den Praktiker*innen ein Instrumentarium an die Hand geben.

Böschen: Im Mittelpunkt stand die Frage: Wie können Mitarbeiter*innen von Gesundheitsämtern zusätzlich zu ihrem normalen Arbeitspensum die Komplexität von Diskursen nicht nur schnell erfassen und eine Sensibilität dafür entwickeln, sondern diese auch in der konkreten Kommunikation anwenden? Das ist eine Herausforderung für die Gesundheitsämter. Sie müssen mit knappen Ressourcen haushalten, sind mit komplexen Themen konfrontiert, zudem gibt es extrem viel Desinformation zu Gesundheitsthemen.

Sie haben ein sechsstufiges Modell entwickelt. Was sind die Hauptschritte, die Praktiker*innen bei der Kommunikation beachten sollten?

Jochum: Ein Diskurs ist eine öffentliche Debatte auf allen Kanälen und Ebenen. Daher ist es wichtig, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen und sich für das Thema zu öffnen. Dabei sollte man bewusst auch nach sehr kontroversen Positionen suchen. Dies kann durch eine erste Stichwortsuche über eine Suchmaschine geschehen, durch eine Recherche in verschiedenen Online-Medien, aber auch eine Kommentarspalte auf YouTube kann eine wichtige Quelle sein.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Jochum: Wenn wir an vegane Ernährung denken, fallen uns sofort kontroverse Schlagworte wie Fleischverbot ein. Man kann gezielt nach solchen Schlagworten suchen und erfährt so, was in dieser extremen Sichtweise diskutiert wird. Diese Suche erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Es ist aber wichtig, explizit auch in Medien zu suchen, die möglicherweise polarisieren, um eine möglichst breite Sicht auf das Thema zu erhalten.
Nach dieser ersten Diskurssichtung kann man das Gefundene sortieren, wofür wir uns vier Kriterien überlegt haben.

Welche sind das?

Jochum: Zunächst geht es um die Akteure, die Positionen und Interessen: Wer diskutiert überhaupt? Welche Institutionen sind dabei, aus welchen Bereichen kommen sie, wer äußert sich häufig? Dabei sollte man schon überlegen, welche Interessen diese Akteure verfolgen könnten.
Wichtig ist auch, nach Akteuren zu suchen, an die man vielleicht nicht als erstes denkt, die aber für die Diskursentwicklung wichtig sind. Beim Thema vegane Ernährung zum Beispiel diskutiert vielleicht auch die Fleischindustrie mit. Das ist eine riesige Industrie mit sehr viel Macht in Deutschland. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein.

Das zweite Kriterium ist, in welchen Kontexten das Thema problematisiert wird. Bei der veganen Ernährung gibt es zum Beispiel eine Diskussion über den persönlichen Lebensstil. Es gibt aber auch eine Diskussion auf politischer Ebene im Bereich Umwelt und Klima.

Dann ist es wichtig zu analysieren: Fehlt in diesem Diskurs Wissen? Also ist dieser Konflikt entstanden, weil den Menschen bestimmte Informationen fehlen oder unklar sind oder liegt der Konflikt eher auf der Werteebene? Das konnte man beim Impfdiskurs gut beobachten. Da ging es oft mehr um Angst, also um Emotionen, als um Unwissenheit über Impfungen.

Nach bestimmten Ereignissen können Diskurse plötzlich anders verlaufen. Wie sollten diese berücksichtigt werden?

Jochum: Nach diesen Schlüsselereignissen sollte man gezielt suchen. Sie zu verstehen hilft, sensibler mit der Debatte umzugehen. Ereignisse können zum Beispiel dazu führen, dass ein Diskurs in eine ganz andere Richtung kippt. Sie können aber auch dazu führen, dass er sich verlangsamt oder sogar harmonisiert.
Das kann zum Beispiel ein Gesetz sein, das verabschiedet wird. Bei der Coronapandemie hat etwa die Einführung der Maskenpflicht dazu geführt, dass sich der Diskurs stärker polarisiert hat.

Wenn ich dieses Diskursmapping abgeschlossen habe: Wie entwickle ich daraus ein Kommunikationsvorhaben?

Jochum: Es ist uns wichtig zu betonen, dass unsere Ergebnisse kein Kochrezept sind, sondern nur eine Hilfestellung. Es gibt viele Formate, das Diskursmapping soll helfen, das richtige für die eigene Kommunikationsmaßnahme zu finden. Zunächst ist es wichtig, sich zu überlegen, wie ich mit unterschiedlichem Wissen oder unterschiedlichen Vorerfahrungen meiner Zielgruppe umgehen möchte. Habe ich zum Beispiel in meiner Analyse festgestellt, dass es im Diskurs nicht an Wissen mangelt, wäre es wichtig, eine Wertediskussion zu ermöglichen, damit sich die Menschen annähern können und im besten Fall die Fronten nicht mehr so verhärtet sind. Ist es ein Thema, bei dem Wissen fehlt? Dann können Formate der Informationsvermittlung hilfreich sein.

Dann geht es an die konkrete Planung: Will ich ein analoges oder digitales Format? Welche Stilmittel will ich einsetzen? Humor kann zum Beispiel bei sehr festgefahrenen Themen hilfreich sein, erfordert aber viel Sensibilität. Bei kontroversen Themen hingegen eignen sich Formate, die Dinge erlebbar machen. Zum Beispiel Klimaspaziergänge, bei denen die Teilnehmenden ihre Stadt zu Fuß erkunden und dabei erfahren, dass sich an heißen Tagen betonierte Flächen stärker aufheizen und Parkflächen kühler sind.

Böschen: Wir haben die Ergebnisse von DiPubHealth in einer Broschüre und einem Poster zusammengefasst. So bietet das Modell bereits jetzt viele Denkanstöße, die die Arbeit der Praktiker*innen erleichtern kann. Zukünftig wollen wir aus dem Modell eine Art Werkzeugkasten entwickeln, der die Entwicklung eines geeigneten Formats weiter erleichtern soll. Dies war ein Wunsch der Mitarbeiter*innen aus den Gesundheitsämtern, dem wir gerne nachkommen möchten.

 

*Wissenschaft im Dialog ist einer drei Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de