Bild: Ludwig Boltzmann Gesellschaft

Wenn Bürger Forschung planen

Die Öffentlichkeit sagt der Wissenschaft, was sie erforschen soll – eine verrückte Idee? Die Ludwig Boltzmann Gesellschaft macht derzeit gute Erfahrung mit dem „Crowdsourcing“ von Forschungsfragen und anderen Methoden der Partizipation. Ein Interview mit Projektleiter Benjamin Missbach und der Sozialwissenschaftlerin Jean Paul.

Herr Missbach, Sie leiten derzeit ein Projekt zum Crowdsourcing von wissenschaftlichen Forschungsfragen. Wie kam es dazu und was kann man sich darunter vorstellen?

Benjamin Missbach: Im Jahr 2014 hat sich die Ludwig Boltzmann Gesellschaft neue Regeln für die Vergabe von Fördermitteln gesetzt. Ziel war es, den Forschungsprozess zu öffnen: Die Öffentlichkeit sollte nun darüber mitentscheiden dürfen, welchen Fragen sich die von uns finanzierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler widmen. Dazu haben wir neue Tools entwickelt, um den Austausch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, aber auch zwischen den verschiedenen Instituten unserer Gesellschaft untereinander zu verbessern. Eines davon ist eben das Crowdsourcing von wissenschaftlichen Fragestellungen.

Wie läuft das konkret ab?

Missbach: Die erste Projektphase startete 2015. Wir haben zunächst grob das Thema festgelegt, nämlich psychische Gesundheit. Dann haben wir eine Website aufgesetzt und versucht, diese möglichst bekannt zu machen. Dort konnten uns die Besucher mitteilen, welche Forschungsfragen im Bereich der psychischen Erkrankungen man ihrer Meinung nach in Angriff nehmen sollte. Das Feedback war überwältigend – wir haben mehr als 400 größtenteils sehr detaillierte Vorschläge erhalten.

Dr. Benjamin Missbach ist Experte für Public Health mit dem Schwerpunkt Ernährung. Er leitet das Projekt „Crowdsourcing Research Questions in Science“ (CRIS) am Zentrum „Open Innovation in Science“ der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Foto: Mit frdl. Genehmigung von Benjamin Missbach

Wie haben Sie entschieden, welchen dieser Vorschläge Sie nachgehen?

Missbach: Wir haben zunächst alle Antworten inhaltlich codiert, um festzustellen, welches Themengebiet am häufigsten vorkam. Es stellte sich heraus, dass enorm viele Menschen gerne wissen wollten, wie man die Kinder psychisch erkrankter Eltern besser unterstützen kann. Also haben wir Gruppen aus Expertinnen und Experten sowie Laien gebildet, die sich näher mit diesem Thema befassen und die konkreten Forschungsfragen ausarbeiten sollten. Diesen Austausch haben wir „Ideas Lab“ getauft. Jean hat beispielsweise eine solche Gruppe geleitet.

Jean Paul: Die LBG hat Leute mit möglichst unterschiedlichem Hintergrund eingeladen, in einem fünftägigen Workshop in Wien teilzunehmen: Experten für psychische Gesundheit, aber auch Menschen, die eine andere, nicht unbedingt wissenschaftliche Perspektive auf das Thema mitbringen. Wir haben uns auf diesem Treffen sehr intensiv überlegt, welche Forschungsfragen auf diesem Gebiet am interessantesten sein könnten. Es waren auch Mitarbeiter eines externen Dienstleisters anwesend, der darauf spezialisiert ist, komplizierte Entscheidungs- und Ideenfindungsprozesse zu unterstützen. Die haben uns dazu ermuntert „groß“ zu denken und von den Perspektiven der anderen Teilnehmer zu lernen.

Dr. Jean Paul ist Sozialwissenschaftlerin und Expertin für Kinder- und Jugendgesundheit. Nach Stationen am Murdoch Children’s Research Institute in Melbourne und der University of Melbourne leitet sie aktuell das Projekt „Village – How to raise the village to raise the child“, das vom Zentrum „Open Innovation in Science“ der Ludwig Boltzmann Gesellschaft unterstützt wird. Foto: D. Bullock

Mit welchem Ergebnis?

Paul: Nach fünf Tagen stand die Idee für unser Forschungsprojekt „Village – How to raise the village to raise the child“. Der Titel spielt auf das bekannte nigerianische Sprichwort an: „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Im Zentrum steht die Frage, wie man die Kinder psychisch erkrankter Eltern besser in das soziale und therapeutische Netz einbinden kann, das ja in den meisten Fällen bereits existiert. Es gibt offizielle Beratungsstellen, aber auch Bezugspersonen wie Lehrerinnen und Lehrer, Trainer im Sportverein oder Kinderärzte. Diese verschiedenen Anlaufstellen wissen jedoch häufig nichts voneinander.

Sind wissenschaftliche Laien auch später im Forschungsprozess noch beteiligt?

Paul: Ja, zumindest einige von ihnen. Wir haben uns während des Projekts immer wieder Feedback von einer Gruppe Betroffener eingeholt, also von Menschen, die mit einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen sind. Diese nennen wir „Experten aus Erfahrung“. Sie wissen am besten, welche Probleme aus Sicht der betroffenen Kinder am drängendsten sind – und welche Sensibilitäten es unter Umständen zu berücksichtigen gilt. Diese Personen haben sich beispielsweise vorab die Fragebogen angesehen, die wir in unserem Forschungsprojekt einsetzen, und uns Feedback dazu gegeben. Auch in unserem Projekt-Beirat finden sich neben Wissenschaftlern und Spezialisten für Open Science zwei junge Menschen, die solche Expertinnen und Experten durch eigene Erfahrung sind.

Dass Nichtwissenschaftler so intensiv am Forschungsprozess mitwirken, ist sehr ungewöhnlich. Wie war diese Erfahrung für Sie als Forscherin?

Paul: Ich habe ja zuvor schon über die Rolle von Kindern und der Familie im Gesundheitssystem geforscht und dabei viele Interviews sowohl mit Ärzten als auch Patienten geführt. Von daher kannte ich es durchaus bereits, mit Menschen zu arbeiten, die im Alltag direkt von der jeweiligen Fragestellung betroffen sind. Neu an diesem Projekt ist natürlich, dass die Öffentlichkeit schon in die Konzeption der Studien eingebunden wird.

Würden Sie sagen, dieser Ansatz kommt auch Ihrer wissenschaftlichen Arbeit zugute? Oder ist es eher ein Gewinn für die Betroffenen, dass ihre Stimme einmal von Wissenschaftlern gehört wird?

Paul: Ich denke tatsächlich, dass beide Seiten etwas davon haben. Wir Forschende lernen neue Perspektiven auf unser Thema kennen und sind dadurch immer wieder gezwungen, unsere eigenen Vorstellungen und Annahmen zu hinterfragen. Das ist im besten Sinne herausfordernd – und führt meiner Meinung nach dazu, dass die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse einen größeren Impact haben. Einfach, weil sie sich näher an den Problemen in der Praxis orientieren. Aus unserem Projekt heraus haben wir beispielsweise Informations- und Trainingsmaterial für Beschäftigte im Gesundheitswesen entwickelt.

Beim Crowdsourcing von Forschungsfragen reichen interessierte Bürgerinnen und Bürger, Betroffene sowie Praktiker auf einem Gebiet Ideen dazu ein, welche Forschungsfragen untersucht werden sollten. Foto: Ludwig Boltzmann Gesellschaft

Welche Reaktionen erhalten Sie zu diesem Ansatz aus der Wissenschaftscommunity?

Missbach: Die meisten Forscherinnen und Forscher, denen ich von der Idee erzähle, sind begeistert. In unserem zweiten Crowdsourcing-Projekt, das gerade anläuft, geht es um Verletzungen durch Unfälle. Hier werden wir beispielsweise auf die Erfahrung von Physiotherapeuten zurückgreifen können, die seit Jahrzehnten mit Patienten arbeiten, die an Spätfolgen von Unfällen leiden. Und auch die Patienten selbst kommen zu Wort. Diesen riesigen Erfahrungsschatz in die Forschung mit einfließen zu lassen, finden viele Wissenschaftler eine gute Idee. Aber natürlich gibt es auch zurückhaltende Stimmen. Manche sagen: Das ist zwar ganz interessant, aber ob dabei wirklich aus wissenschaftlicher Sicht etwas Neues herauskommt? Andere finden die Vorstellung, dass Forschungsfragen vorher schon einem breiten Personenkreis bekannt sind, befremdlich – sie wollen ihre Ideen lieber so lange wie möglich für sich behalten.

Paul: Es kommt natürlich immer auf das Thema an, für das wissenschaftliches Crowdsourcing betrieben werden soll. Die bisherigen beiden Forschungsgebiete waren in dieser Hinsicht einfach ideal, denn in beiden Fällen konnten und können Forschende viel von den Erfahrungen der Menschen lernen, die persönlich involviert sind. Bei eher technischen Fragestellungen würde das vermutlich etwas schlechter funktionieren, denn hier braucht man eine andere Art von Expertenwissen, um mitreden zu können. Die Befürchtung, dass die Öffentlichkeit sich nur für simple Fragen interessiert, auf die es in der Literatur bereits Antworten gibt, ist jedenfalls unbegründet. Denn spätestens in den „Ideas Labs“ wird von den teilnehmenden Experten auch der aktuelle Forschungsstand eingebracht, sodass wirklich nur darüber hinausgehende Fragestellungen weiter diskutiert werden.

Werden Sie die Ergebnisse aus diesem Projekt auch wissenschaftlich verwerten oder fließen diese „nur“ in praktisch einsetzbares Material?

Paul: Auf jeden Fall beides. Wie in jedem normalen Forschungsprojekt stellen die beteiligten Wissenschaftler ihre Ergebnisse auf Konferenzen und in Journals vor und diskutieren sie mit Kolleginnen und Kollegen. Wir legen aber mehr Wert auf den Transfer der Ergebnisse zurück in die Gesellschaft als viele andere. Das heißt, es geht in diesen Projekten auf keinen Fall darum, ein Thema nur akademisch zu beleuchten – wir möchten einen echten Unterschied machen.

Wie wird das Projekt von den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern angenommen?

Paul: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie unsere Kooperationspartner sind in jedem Fall sehr beeindruckt davon, wie viel sie tatsächlich mitreden dürfen. Oft sieht Partizipation ja so aus, dass Laien ihre Meinung zwar äußern dürfen, diese dann aber höflich ignoriert wird. Vor allem die Personen, die uns mit ihrer eigenen Erfahrung beratend zur Seite stehen, erlebe ich als sehr enthusiastisch. Mit dem Wissen aus ihrer Biografie vielleicht anderen Menschen helfen zu können, die ähnliches durchmachen, ist für sie wirklich bereichernd. Aber auch für uns Forscherinnen und Forscher ist es natürlich aufregend, sich auf eine komplett neue Herangehensweise, Forschung zu betreiben, einzulassen.

Missbach: Schon in der ersten Runde des Crowdsourcings war die Resonanz extrem positiv. Auch die Qualität der Beiträge war sehr hoch. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer scheinen Zeit und Mühe investiert zu haben, um uns ihre Sicht auf das Thema mitzuteilen. Darin sehen wir auch eine Art „Empowerment“, also das Gefühl, dass die eigenen Erfahrungen nun wirklich einen Unterschied machen. Wir verlassen uns dabei aber nicht nur auf unseren Eindruck, sondern lassen unsere Methoden wie das „Ideas Lab“ oder auch das Crowdsourcing von externen Wissenschaftlern evaluieren – die Ergebnisse stehen allerdings noch aus.

 

Die zweite Kampagne zum Crowdsourcing von wissenschaftlichen Forschungsfragen der LBG widmet sich Verletzungen durch Unfälle. Alle Interessierten sind noch bis zum 31.08. aufgerufen, Ideen für wissenschaftliche Untersuchungen einzureichen.