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Warum Kommunikation in einer „größeren Welt“ schwieriger wird

Kommunikation und soziale Netzwerke werden von evolutionären Mustern geprägt, die wir oft nicht bewusst wahrnehmen. Welche Folgen hat das für die moderne Gesellschaft? Ein Gespräch mit zwei Forschenden, die den ‚Größenwahn‘ kritisch hinterfragen.

Was war Ihre persönliche Motivation, sich mit Wissenschaftskommunikation auseinanderzusetzen und das Buch Größenwahn“ zu schreiben?

Dr. Christiane Scheffler doziert an der Universität Potsdam. Sie studierte Biologie und Chemie auf Lehramt und forscht im Bereich Humanbiologie. Ihr Fokus liegt unter anderem auf dem Einfluss ökologischer und sozialer Umweltbedingungen auf das Wachstum und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Foto: privat

Christiane Scheffler: Wir wollten aus dem Elfenbeinturm herauskommen und das Thema verständlich für ein breiteres Publikum machen. Die biologische Basis für unser soziales Miteinander ist wichtig und sollte auch von Nicht-Expert*innen verstanden werden.

Wie haben Sie sichergestellt, dass die Inhalte für Lai*innen verständlich sind, ohne wissenschaftliche Präzision zu verlieren?

Michael Hermanussen: Ich habe immer wieder Ausschnitte von Familie und Freunden lesen lassen, um direktes Feedback über die Verständlichkeit unserer Aussagen zu bekommen.

Scheffler: Wir haben, soweit es ging, auf allzu komplizierte Fachbegriffe verzichtet und versucht, die manchmal doch sehr komplexen Zusammenhänge mit Beispielen aus dem Alltag zu erklären. Durch das Erzählen eigener Erlebnisse und Anekdoten sollen die Leser*innen zumindest auch Spaß beim Lesen haben.

Michael Hermanussen studierte Medizin und arbeitete als Kinderarzt an der Universitätskinderklinik Kiel. Seine Forschung konzentriert sich unter anderem auf Wachstum und Entwicklung von Kindern (Auxologie). Foto: privat

Wie sehen Sie die Rolle der Wissenschaftskommunikation in einer Zeit, in der Themen wie Gesundheit und Ernährung, die in „Größenwahn“ behandelt werden, oft sehr polarisierend diskutiert werden? Warum ist es wichtig, darüber zu reden?

Scheffler: In einer Zeit, in der jede*r ungefiltert in den sozialen Medien etwas äußern kann, ist es umso wichtiger, wissenschaftlich belegtes Wissen klar zu kommunizieren. Dieses Wissen muss so aufbereitet werden, dass es auch für Menschen zugänglich ist, die keine Original-Paper lesen können.

Die Flut an wissenschaftlichen Informationen ist enorm, daher geht es darum, das Wesentliche herauszufiltern, das für den einzelnen Menschen relevant ist. Das ist eine der zentralen Aufgaben der Wissenschaftskommunikation.

Hermanussen: Ein weiterer Aspekt ist die Diskrepanz zwischen dem Wissen in der Wissenschaft und der Unkenntnis vieler Entscheidungsträger*innen. Diese Lücke zu schließen, war auch ein Ziel des Buches.

Es ist erschreckend, wie wenig Entscheidungsträger*innen wissen und von wem sie beeinflusst werden – und das sind eben nicht die Forschenden. Es ist uns wichtig, mit unserem Buch diese Diskussionen anzustoßen.

Ihr Buch startet mit dem Satz „Dies ist ein Buch, das nicht allen gefällt“. Wie kommen Sie zu der Annahme?

„In einer Zeit, in der jede*r ungefiltert in den sozialen Medien etwas äußern kann, ist es umso wichtiger, wissenschaftlich belegtes Wissen klar zu kommunizieren.“ Christiane Scheffler
Hermanussen: Ein befreundeter Journalist sagte: ‚Nimm den Satz raus.‘ Und ich dachte: ‚Genau den will ich reinschreiben.‘ Das Buch soll von Anfang an stören.

Scheffler: Es werden ja viele meist unbewusste biologische Muster des menschlichen Verhaltens angesprochen, wo sich vielleicht mancher oder manche unangenehm berührt wiederfindet. Wir rütteln schon an liebgewonnene Meinungen, eben auch von Entscheidungsträger*innen.

In ihrem Buch heißt es: „Es beginnt als biologisches Buch, und ist doch ein politisches Buch”. Biologie verordnet man ja erstmal ganz einfach in den Naturwissenschaften. Wie hoffen Sie, dass andere Disziplinen auf Ihre Forschung reagieren?

Scheffler: Der interdisziplinäre Ansatz ergibt sich aus dem Forschungsobjekt, dem Menschen, der eine biosoziale Einheit ist. Daher wird er sowohl medizinisch-naturwissenschaftlich als auch soziologisch und philosophisch betrachtet. Wichtig ist, dass die soziologischen und philosophischen Ansätze auf einer biologischen Grundlage beruhen. Die Basis bleibt das biologische Konstrukt des Homo sapiens sapiens.

Hermanussen: Der wesentliche Aspekt ist, dass wir Körpergröße, insbesondere Körperhöhe, als Signal im sozialen Miteinander betrachten. Das ist neu und wurde bisher in dieser Form nicht gesehen.

Deshalb beginnen wir das Buch mit den psychologischen Hintergründen. Wir zeigen, wie wichtig den Menschen ihre Körpergröße ist, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass der oder die Größte und Stärkste nicht zwangsläufig der*die Beste ist. Signale sagen nichts über die tatsächliche Qualität aus. Wer an der Spitze steht, ist nicht unbedingt besser als der, der unten steht. Das Buch liefert eine Antwort auf den Sozialdarwinismus, also die ideologische Annahme, dass das „Überleben des Stärkeren“ auch für menschliche Gesellschaften gilt. Diese Annahme ist falsch, sie hat großes Leid verursacht und ist trotzdem immer noch präsent.

Größenwahn

„Größenwahn“ untersucht die Rolle der Körpergröße als soziales Signal, das oft unbewusst wahrgenommen wird. Das Buch thematisiert, warum Größe mit Kompetenz assoziiert wird und welchen Einfluss sie auf gesellschaftliche Hierarchien hat. Es setzt sich mit den Herausforderungen egalitärer Strukturen auseinander und beleuchtet die politische Dimension von Hierarchien, etwa im Zusammenhang mit der Entstehung und Stabilität von Machtstrukturen. Die Körpergröße zieht sich als zentrales Thema durch die gesamte Analyse.

In „Größenwahn“ geht es unter anderem um gesellschaftliche und biologische Vorstellungen von Größe und Wachstum. Was war der wichtigste wissenschaftliche oder gesellschaftliche Aspekt, den Sie mit dem Buch verdeutlichen wollten?

Hermanussen: In der zweiten Hälfte des Buches geht es um Sozialstrukturen. Ein zentrales Problem der heutigen Zeit ist die Annahme, dass mehr Kommunikation und soziale Kontakte automatisch besser für uns sind.

Wir zeigen, dass es eine natürliche Obergrenze für die Anzahl an Freund*innen gibt, die wir haben können, da diese hormonell gesteuert wird. Das „Kuschelhormon“ und neuronale Netzwerke beeinflussen, wen wir mögen und wem wir uns anpassen. Gleichzeitig lehnen wir oft unbewusst Menschen außerhalb unserer Gruppe ab. Diese Abgrenzung ist eine evolutionäre Eigenschaft, die für kleine Gruppen nützlich war, aber heute überfordert sie uns. Die scheinbare Zahl der Gruppenmitglieder ist zu groß, Kommunikation findet ununterbrochen statt, aber statt Nähe entsteht Überforderung.

Scheffler: Die Probleme und Muster unserer heutigen Sozialstrukturen werden stärker von evolutionsbiologisch begründeten Regulationsmechanismen im Körper geprägt, als bisher angenommen.

Hermanussen: Und unsere heutigen Strukturen sind oft nicht mit unserer Biologie vereinbar.

Gibt es neue Forschungsfragen oder Hypothesen, die sich aus Ihren Untersuchungen für „Größenwahn“ ergeben haben, und die Sie vielleicht in kommenden Projekten weiterverfolgen möchten?

„Jeder Mensch wächst in einer bestimmten Kultur auf, die definiert, was zusammengehört und was nicht. Das nehmen wir als Wahrheit wahr. Da sich diese Vorstellungen aber je nach Kultur unterscheiden, kann Kommunikation schwierig sein.“ Michael Hermanussen

Hermanussen: Ich sehe zwei weitere Wege, die sich aus diesem Buch ergeben. Erstens ist unser Wissen über die Selbstorganisation von Sozialstrukturen noch sehr rudimentär. Im Buch haben wir einige Aspekte angesprochen, doch hier gibt es noch viel zu erforschen.

Zweitens wird die Frage der Wahrnehmung zunehmend wichtiger. Jeder Mensch wächst in einer bestimmten Kultur auf, die definiert, was zusammengehört und was nicht. Das nehmen wir als Wahrheit wahr. Da sich diese Vorstellungen aber je nach Kultur unterscheiden, kann Kommunikation schwierig sein. Selbst wenn wir denselben Sachverhalt betrachten, nehmen wir unterschiedliche Dinge wahr. Diese Unterschiede sind nicht immer kongruent, und genau hier sehe ich weiteres Forschungspotenzial.