Bibliotheken verstehen sich als Orte für lebendigen Austausch und sind damit mehr als stille Räume voller Bücher. Holger Krimmer vom Deutschen Bibliotheksverband erklärt, wie sich das Bild der Bibliothek gewandelt hat und warum diese Veränderung zu einer gesunden Demokratie beitragen kann.
Warum Bibliotheken „Orte gelebter Demokratie“ sind
Herr Krimmer, der Deutsche Bibliotheksverband beschreibt Bibliotheken als „Orte gelebter Demokratie“. Inwiefern sind Bibliotheken wichtig für die Demokratie?

Bibliotheken stellen den freien Zugang zu Literatur und Medien sicher und fördern Medien- und Informationskompetenz. In unserer zunehmend digitalen Informationsgesellschaft wird die Fähigkeit immer wichtiger, die Validität von Informationen selbst prüfen zu können. Nicht nur, aber auch aufgrund zunehmender Desinformationskampagnen im politischen Raum.
Für die Kompetenzförderung gibt es in Bibliotheken Kurse und verschiedene medienpädagogische Angebote. Nicht alle Bibliotheken verfügen über eigenes medienpädagogisch geschultes Personal. Daher gehen viele Bibliotheken Kooperationen mit Initiativen und zivilgesellschaftlichen Akteuren ein, die entsprechende Angebote bereitstellen und dazu die Räumlichkeiten der Bibliotheken nutzen. Oder, was in vielen öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken heute angeboten wird, sind Programmierkurse oder technische Geräte wie Plotter und 3D-Drucker, mit denen vor Ort experimentiert werden kann.
Außerdem sind Bibliotheken sogenannte ‚Dritte Orte‘. Damit ist gemeint, dass Bibliotheken Räume für Begegnung und Dialog mit hoher Aufenthaltsqualität anbieten. In Bibliotheken besteht zudem kein Konsumzwang, was sie besonders niedrigschwellig macht. Deshalb übernehmen Bibliotheken als öffentliche Orte zunehmend eine wichtige Rolle in der Gesellschaft.
Dritte Orte
Das Konzept Dritter Ort (engl. Third Place) beschreibt einen Aufenthaltsort neben dem Zuhause (erster Ort) und dem Arbeitsplatz (zweiter Ort). Der Dritte Ort zeichnet sich durch Gemeinschaft und soziales Miteinander aus. Geprägt wurde der Begriff von dem Soziologen Ray Oldenburg, der auch bestimmte Merkmale für Dritte Orte definierte: So soll ein Dritter Ort beispielsweise auf neutralem Boden und leicht zugänglich sein, Gespräche ermöglichen und Hierarchien abbauen.
Das ist das in vielen Köpfen noch präsente Bild von „Psst-Bibliotheken“, das längst nicht mehr zutreffend ist. Die Diskrepanz zwischen diesem Bild und der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist massiv. Viele Bibliotheken haben heute Räume, in denen es gar nicht primär um Medienbestände geht. In anderen Häusern sind Bücherregale auf Rollen montiert, um Platz schaffen zu können für Veranstaltungen, Beratungssituationen, Dialogmöglichkeiten. Selbst in kleinen Stadtteilbibliotheken ist es häufig möglich, rasch Platz für eine Veranstaltung zu schaffen. Dann geht es gerade nicht um Ruhe, sondern um Austausch und Vernetzung.
Damit sind auch Fragen der Architektur betroffen. Neu- und Umbauten von Bibliotheken werden heute ganz anders geplant als früher. Beispiele sind die etwa die Bibliotheken in Jena, Düsseldorf oder Köln-Kalk, die als offene, multifunktionale Räume geplant wurden.
Diese neuen Raumkonzepte haben zu einer veränderten Nutzung von Bibliotheken geführt. Heutzutage haben viele Bibliotheken ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm: Da kommen Autor*innen zur Lesung vorbei, Schreibwerkstätten finden statt, es gibt Veranstaltungen zur Leseförderung und Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Informations- und Diskussionsveranstaltungen.
Gilt das auch für die ländlichen Räume?
Gerade bei Bibliotheken in ländlichen Regionen hat es eine Sensibilisierung dafür gegeben, das Thema Demokratie mitzudenken. Da hier häufig die Kapazitäten sehr knapp sind, braucht es Strukturen, die es auch Klein- und Kleinstbibliotheken mit wenig Personalstellen ermöglichen, Programmarbeit anzubieten.
Dafür arbeiten wir unter anderem mit der Bundeszentrale für politische Bildung zusammen: Beim Programm „Land.schafft.Demokratie“ entwickelt die Bundeszentrale politische Bildung mit den Bibliotheken passgenaue Veranstaltungsangebote mit Equipment, Sitzmobiliar und Bildungsinhalten. Solche Kooperationen brauchen wir an viel mehr Orten.
Was kann die Wissenschaftskommunikation von Bibliotheken lernen?
Wissenschaftliche Bibliotheken sind Brücken zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Und sie verfügen über Räumlichkeiten und Personal, diese Brückenfunktion auszugestalten. Eine weitere wichtige Ressource für erfolgreiche Kommunikation: Bibliotheken wird aus allen Teilen der Gesellschaft ein hohes Vertrauen entgegengebracht.1 Das hat auch mit der weltanschaulichen Neutralität zu tun, an der sich Bibliotheken bei Bestandsaufbau und Programmarbeit orientieren. Und nicht zuletzt: Bibliotheken erreichen – teils auch gerade wegen dieses entgegengebrachten Vertrauens – die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zielgruppen: jung und alt, mit und ohne Migrationshintergrund, unterschiedliche Bildungsniveaus.
Es ist diese Kombination von Eigenschaften und Ressourcen, die ein enormes Potenzial für Wissenschaftskommunikation bietet. Veranstaltungen zu Fragen von Zukunftstechnologien, gesellschaftspolitischen Themen oder die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe in Wissenschaftsbibliotheken erreichen daher schon heute ein breites Publikum.