„Konflikte: vorhanden. Polarisierung: kaum. Politisierte und radikalisierte Ränder: ja“, so diagnostizieren Thomas Lux, Linus Westheuser und Steffen Mau den Zustand der deutschen Debattenkultur in ihrem neuen Buch „Triggerpunkte“. Im Interview erklärt Thomas Lux, wie man Debatten wieder in konstruktive Bahnen lenken kann.
„Unser Buch soll keine Beruhigungspille sein!“
Herr Lux, haben Sie sich schon einmal getriggert gefühlt?
Niemand ist frei davon, sich getriggert zu fühlen. Aber wenn man Triggerpunkte kennt, entwickelt man ein gewisses Gespür dafür, was eigentlich dahintersteckt und springt vielleicht nicht mehr so schnell darauf an.
Der Begriff „Triggerpunkte“ stammt eigentlich aus der Medizin und beschreibt verhärtete Körperstellen, die bei Berührung Schmerzen in anderen Regionen auslösen können. Was passiert denn, wenn sie in einer Debatte berührt werden?
Dazu haben wir Studien mit Fokusgruppen durchgeführt. Wir haben Menschen in einer Diskussionssituation zusammengebracht und sie über kontroverse Themen diskutieren lassen. Die Gruppen waren so zusammengestellt, dass Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen dabei waren: Liberale und Konservative, aber auch solche ohne klare Positionen.
Bei diesen Diskussionen haben wir gemerkt, dass, sobald Triggerpunkte berührt wurden, eine imaginäre rote Linie überschritten wurde und die Leute an die Decke gingen. Dann merkte man, dass sie lauter wurden, sehr schnell redeten, sich gegenseitig unterbrachen. Es fielen Sätze, wie: „Das geht zu weit!“ und „Das ist völlig übertrieben!“ Oder auch Beschimpfungen, wie: „Das ist absolutes Bildzeitungsniveau!“
Sie bezeichnen Triggerpunkte auch als „Chiffren“ – dahinter verbergen sich gesellschaftliche Wertemuster. Können Sie diese Muster erklären?
Sind die Fronten denn heute verhärteter als früher?
Dieser Polarisierungsthese sind wir im Buch nachgegangen. Sie besagt, dass sich Meinungen in den letzten Jahren auseinanderentwickelt haben und sich nun zwei große, unversöhnliche Lager gegenüberstehen. Besonders die sozialen Medien können dieses Gefühl verstärken. Die empirische Überprüfung dieser Intuition zeigt jedoch, dass die Meinungen in Deutschland nicht auseinandergedriftet sind. Die Einstellungen zu den Themen Umverteilung, Migration, Identitätspolitik oder Klimawandel sind in den letzten 30 Jahren entweder relativ stabil geblieben oder haben sich in Richtung Liberalität bewegt. Es gibt zwar Konflikte, aber die meisten Menschen haben zu diesen Konflikten keine wirklich starke Meinung. Es dominiert eine Mittelposition. Aber bei Triggerthemen wird es plötzlich emotional und die Menschen nehmen andere Positionen ein.
Polarisierungsunternehmer wie die AfD?
Polarisierungsunternehmer sind für uns politische Akteur*innen, die bewusst darauf abzielen, Spaltungen zu provozieren und damit elektorale Gewinne, also Wählerstimmen einzufahren. Und solche Akteur*innen spielen im Prinzip aktiv mit Triggerpunkten, um Menschen dazu zu bringen, sich im Kulturkampf auf eine Seite zu schlagen.
Wir sehen in unseren Daten aus dem Jahr 2022 ein Wählerpotenzial für die AfD von etwa 20 Prozent. Und mit einer Affektpolitik, die kontinuierlich Triggerpunkte bedient und Ressentiments verstärkt, kann die AfD dieses Wählerpotenzial ausschöpfen oder sogar noch erweitern. Besonders problematisch ist es aus unserer Sicht, wenn auch andere politische Akteur*innen diese Trigger nutzen, also zum Beispiel die CDU, weil die Themen dann eine viel größere gesellschaftliche Verbreitung bekommen.
Welche Rolle spielt die Wissenschaftskommunikation in dieser schwierigen Ausgangslage?
Sie schreiben auch, dass Konflikte nicht immer schlecht sind, sondern sogar den sozialen Zusammenhalt stärken können. Wie funktioniert das?
Konflikte sind etwas ganz Wesentliches in einer Gesellschaft. Wenn marginalisierte Gruppen für mehr Rechte kämpfen, kommt es automatisch zu Konflikten. Und das sind oft wichtige Auseinandersetzungen, die die Gesellschaft voranbringen. Das sieht man nicht nur im Bereich der sexuellen Vielfalt, in dem sich in den vergangenen Jahren unglaublich viel bewegt hat. In allen Themenfeldern, die wir untersuchen, wird um bestimmte Ressourcen gerungen und benachteiligte Gruppen versuchen, ein Stück mehr Teilhabe zu erlangen.
Bei der Oben-Unten-Ungleichheit geht es um ökonomische Ressourcen. Im Feld der Innen-Außen-Ungleichheiten, also beim Thema Migration, sind territoriale Zugänge zentral. Im Feld der Wir-Sie-Ungleichheiten finden Kämpfe um Anerkennung und rechtliche Gleichheit statt. Das ist das Feld der Identitätspolitik. Und bei der Klimapolitik geht es um natürliche Ressourcen. Hier spielen Zeitkonflikte eine Rolle, weshalb wir von Heute-Morgen-Ungleichheiten sprechen. Es ist wichtig, dass all diese Konflikte ausgetragen werden. Aber es ist ebenso wichtig, dass sie bearbeitbar bleiben und nicht dysfunktional werden. Denn nur dann können tragfähige Kompromisse entstehen.
Wie werden wir widerstandsfähiger? Sollten wir, um bei der medizinischen Metapher zu bleiben, unsere Debattenmuskeln trainieren?
Ja, das sollten wir. Und dabei nicht auf gezielte Provokationen eingehen. Wir sollten auch nicht zu sehr in Freund-Feind-Schemata denken. In unserer Studie haben wir dazu herausgefunden, dass die Einstellungen zu den unterschiedlichen Themenbereichen oft gar nicht so stark zusammenhängen. Es gibt zwar Gruppen, die migrationsfeindlich, klimaskeptisch, umverteilungsfeindlich und homophob sind. Aber diejenigen, die all diese Einstellungen in sich vereinen, sind nur marginal vertreten. Ihre Zahl ist sehr gering. Es ist also oft so, dass Menschen, die bei einem Thema eine stark ablehnende Meinung haben, bei anderen Themen sehr viel kompromissbereiter sind.
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Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.