Foto: Guillaume de Germain

„TikTok hat einen ganz eigenen Stil“

Von wegen nur Singen und Tanzen: Die Kommunikationswissenschaftlerin Brigitte Huber hat gemeinsam mit Robert Lepenies, Luis Quesada und Joachim Allgaier die Kommunikation zum Thema Nachhaltigkeit auf TikTok untersucht.

Ihre Studie zu Nachhaltigkeitskommunikation auf TikTok wird demnächst in einer internationalen Fachzeitschrift erscheinen. Was waren Ihre Forschungsfragen?

Unser Ausgangspunkt war, dass Studien zur Nachhaltigkeitskommunikation1 festgestellt haben, dass in traditionellen Medien vor allem Akteur*innen aus Politik und Wirtschaft dominant sind, wissenschaftliche Perspektiven sind weniger sichtbar. In der Forschungsliteratur wird das als Kritikpunkt benannt. Kolleg*innen sprechen von einer „Entwissenschaftlichung des Nachhaltigkeitsdiskurses“2. Unsere Idee war zu schauen: Was finden wir auf Social-Media-Plattformen wie TikTok? Generell wird bei Social Media ja das Potenzial gesehen, unterschiedliche Perspektiven einzubringen und vielleicht eine etwas andere Kommunikation zu ermöglichen. Deshalb wollten wir wissen: Welche Themen und Perspektiven kommen vor? Wie sehr wird dabei auf Wissenschaft Bezug genommen?

Brigitte Huber ist seit März 2022 Professorin für Marketing an der IU Internationalen Hochschule in München. Zuvor hat sie als Postdoc am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien und am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München gearbeitet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Social Media, Influencerkommunikation, Wissenschaftskommunikation, Journalismusforschung und politische Kommunikation. Foto: Barbara Sautter

Auf die Idee, mich mit TikTok zu beschäftigen, bin ich durch ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Robert Lepenies auf wissenschaftskommunikation.de gekommen. Er war einer der ersten Wissenschaftler*innen, die auf TikTok aktiv war. Ich fand es spannend, dass diese Plattform nun auch für Wissenschaftskommunikation genutzt wurde. Mein Kollege Luis Quesada und ich haben uns dann Accounts angelegt und haben mit einem offenen unvoreingenommenen Blick versucht, die Plattform besser kennenzulernen. Wir hatten dabei einen großen Aha-Effekt, weil wir bemerkt haben, dass sie wirklich etwas komplett anderes ist als YouTube oder Twitter. TikTok hat einen ganz eigenen Stil.

Was ist das Besondere an TikTok?

Videos finden sich auch auf YouTube. Das Spezielle bei TikTok ist, dass diese sehr kurz sind – auch, wenn sie tendenziell länger werden und inzwischen schon mehrere Minuten dauern können. Teilweise finden sich auf TikTok immer noch diese Lippensynchronisations-Videos und Dance Routines, bei denen eben getanzt wird. Gerade bei älteren Generationen ist deshalb das Vorurteil verbreitet, TikTok sei das, „wo die Jugendlichen tanzen“. Man begegnet aber sehr vielen unterschiedlichen Arten von Content. Typisch ist diese memetische Art. Das heißt, es wird viel mit dem Content von anderen Creator*innen interagiert. Dafür hat TikTok spezielle Funktionen, zum Beispiel das „Duett“: Die Hälfte des Bildschirms wird dabei vom Video einer*s anderen User*in eingenommen, in meiner Hälfte kann ich darauf eingehen. Mit der Funktion „Stitch“ kann ich Schnipsel von anderen Videos in mein Video einbauen. TikTok ist also darauf ausgelegt, sich mit dem Content von anderen User*innen auseinanderzusetzen, darauf spielerisch zu reagieren oder Neues daraus zu machen.

Was haben Sie sich genau angeschaut?

Screenshot vom Tiktok-Kanal EcoTok

Wir haben uns auf den TikTok-Kanal EcoTok konzentriert, einen Zusammenschluss von verschiedenen Akteur*innen, die seit 2020 zu Nachhaltigkeitsthemen auf TikTok kommunizieren. Mit dabei sind Wissenschaftler*innen, Student*innen, aber auch Aktivist*innen, also ein gemischtes Feld. Im März 2021 hatte EcoTok 5,5 Millionen Follower*innen. Wir haben uns die 242 Videos angeschaut, die das Kollektiv im ersten Jahr veröffentlicht hat.

In der Nachhaltigkeitskommunikation wird Konsument*innen teilweise die Perspektive vermittelt: Du kannst dich freikaufen, indem du nachhaltige Produkte konsumierst. In der Forschungsliteratur3 findet sich Kritik daran, dass auf diese Weise die Last auf das Individuum abgewälzt werde. Stattdessen sei es wichtig, auch die Verantwortung der Politik und der Unternehmen aufzuzeigen. Uns hat interessiert: Wie ist das bei unserem Untersuchungsbeispiel? Wer wird hier zum Handeln aufgefordert? Deshalb haben wir kodiert, ob das Individuum angesprochen wird. Außerdem haben wir überprüft, ob sich irgendein Bezug zu empirischer Evidenz findet, also ob zum Beispiel auf einen Artikel in einer Fachzeitschrift eingegangen wird. Wir haben auch das User*innen-Engagement erhoben, also die Anzahl der Likes, Kommentare und Shares. 

Was haben Sie über die Akteur*innen erfahren? Wer sind die Eco-Influencer*innen? 

Das Besondere an dem Account, den wir untersucht haben, ist das starke aktivistische Interesse. Ich fand interessant, dass es gerade in dem Themenbereich der Nachhaltigkeit teilweise eine Überlappung von der Rolle als Wissenschaftler*in und der Rolle als Aktivist*in gibt. Es ist auf TikTok typisch, dass sich beide Sphären zusammentun und mobilisieren wollen. Entsprechend werden wissenschaftliche Erkenntnisse eingebracht, um das eigene Anliegen zu legitimieren und dessen Relevanz aufzuzeigen.

Um welche Themen geht es in den untersuchten Videos und welche Perspektiven werden eingenommen?  

„Aspekte, von denen es heißt, dass sie in der allgemeinen Nachhaltigkeitskommunikation fehlen, finden wir durchaus beim EcoTok-Account.“ Brigitte Huber
Es wird eine sehr breite Palette an Themen behandelt. Das reicht vom Kompostieren im eigenen Garten über nachhaltige Mode und Kosmetik, Zero Waste bis hin zum Klimawandel. In Bezug auf die Perspektive haben wir festgestellt, dass bei etwas mehr als der Hälfte der Videos individuelle Handlungen betont wurden, indem zum Beispiel gezeigt wurde: Welche nachhaltig und fair produzierten Lebensmittel kann ich konsumieren? Wo kann ich eine Petition unterzeichnen? Wo kann ich mich über ein bestimmtes Thema informieren? Es gibt viele alltagstaugliche Tipps. 

In ungefähr einem Drittel der Videos haben wir auch eine breitere Perspektive gefunden, bei der es darum ging, das Handeln von bestimmten Unternehmen zu kritisieren oder zu zeigen, dass die Politik Maßstäbe setzen muss. Das bedeutet: Aspekte, von denen es heißt, dass sie in der allgemeinen Nachhaltigkeitskommunikation fehlen, finden wir durchaus beim EcoTok-Account. Dort werden auch Politik und Unternehmen zum Handeln aufgerufen. Videos, in denen eine solche breitere Perspektive eingenommen wird, sind auch eher diejenigen, bei denen wir Bezüge zu empirischer Evidenz gefunden haben. Es wird zum Beispiel ein Missstand aufgezeigt, bei dem auf einen aktuellen Fachzeitschriftenartikel Bezug genommen wird. 

Wie wird das visuell umgesetzt? 

Ein typisches visuelles Darstellungsformat ist, dass mit der Greenscreen-Funktion im Hintergrund zum Beispiel ein Fachzeitschriftenartikel eingeblendet wird und der*die Eco-Influencer*in darauf zeigt und auf Zahlen aus der Studie verweist. Man könnte denken, so eine wissenschaftliche Publikation abzubilden, sei nicht die tollste Visualisierung. Aber durch die schnellen Wechsel der Einstellungen wird das zu einer sehr lebendigen und dynamischen Darstellungsform. 

Screenshot vom Tiktok-Kanal EcoTok

Was die Bebilderung angeht, bieten sich beim Thema Nachhaltigkeit zur Visualisierung natürlich Fotos aus der Umwelt an. Dabei ist interessant: Einerseits werden Bilder von Umweltzerstörungen oder der Verschmutzung der Meere gezeigt oder ein trockener Fachzeitschriftenartikel eingeblendet, aber dann kommen auch wieder schöne Bilder von der Unterwasserwelt. Das heißt, bei den Visualisierungen wird ein starker Mix eingesetzt.

Möglicherweise bieten Social-Media-Kanäle auch die Möglichkeit, neue Visualisierungen von Wissenschaft zu nutzen. In den traditionellen Medien ist es teilweise noch so, dass man Forscher*innen ganz stereotyp vor ein Bücherregal setzt. Joachim Allgaier, Co-Autor dieser Studie, hat beispielsweise gemeinsam mit Kolleg*innen von der Universität Zürich analysiert, wie Wissenschaft auf TikTok präsentiert wird4. Hier zeigt sich eine breite Palette an unterschiedlichen Darstellungen – einige Wissenschaftler zeigen auch „behind the scenes“, also geben konkrete Einblicke in den Alltag, wie es ist, Forscher*in oder Dozent*in zu sein.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Ergebnissen für die Wissenschaftskommunikation auf TikTok ziehen?

Wir haben uns angeschaut, ob sich Videos, die die individuelle oder die breitere Perspektive einnehmen, stärker gelikt und kommentiert werden. Außerdem wollten wir wissen, wie sich der Bezug zu empirischer Evidenz auswirkt. Interessanterweise zeigen sich hier keine signifikanten Unterschiede.

Ich finde das eigentlich sehr ermutigend, weil das für Kommunikator*innen auf TikTok bedeutet: Wenn ich mit wissenschaftlichen Ergebnissen komme, schreckt das die User*innen nicht ab. Einzelne Creator*innen von EcoTok sind selbst in der Forschung tätig, deshalb dürfte das auch authentisch rüberkommen. Es zeigt sich, dass TikTok eine gute Plattform für Wissenschaftler*innen ist, die selbst kommunizieren und auch Forschungsergebnisse einbringen möchten. Ein zweites wichtiges Ergebnis ist: Man muss als Influencer*in oder Aktivist*in auf TikTok nicht bei Phrasen wie „Kauf dir dieses Produkt“ oder „Schau dir diesen Link an“ stehenbleiben. Auch eine kritischere Perspektive stößt auf Interesse. 

Welche Herausforderungen oder auch Gefahren sehen Sie in Bezug auf Wissenschaftskommunikation auf TikTok?

„Wenn ich mit wissenschaftlichen Ergebnissen komme, schreckt das die User*innen nicht ab.“ Brigitte Huber
Generell sind Influencer*innen eine spezielle Gruppe von Kommunikateur*innen, die in der Regel eine hohe Glaubwürdigkeit genießen. Sie haben Zugang zu einem jungen Publikum und relativ hohe Einflussmöglichkeiten. Wenn das gut verläuft, können sie für nachhaltiges Handeln mobilisieren. Aber natürlich besteht immer die Gefahr von Desinformation. EcoTok ist ein Positivbeispiel, weil sich hier Personen zusammengeschlossen haben, die eine hohe Fachkompetenz haben, viel zum Thema recherchieren und keine Täuschungsabsichten haben. Bei Accounts von Einzelpersonen kann es schneller passieren, dass auch falsche Informationen vermittelt werden, ohne dass eben andere, die zum selben Thema arbeiten, dies bemerken. Das ist bei jeder Social-Media-Plattform eine Gratwanderung. 

Wenn Influencer*innen mit Unternehmen zusammenarbeiten, die nachhaltige Produkte herstellen, gibt es natürlich auch immer die Problematik des Greenwashing. Es kann passieren, dass Follower*innen ihrem*r Influencer*in vertrauen, diese*r aber nicht überprüft hat, ob das Unternehmen tatsächlich nachhaltige Produkte anbietet. Davon abgesehen bietet Influencerkommunikation auf Social Media aber auch große Chancen für die Nachhaltigkeitskommunikation. So zeigt etwa eine aktuelle Studie5, dass Personen, die Umweltinfluencer*innen folgen, im Anschluss eine stärkere Intention zeigen, ihr Verhalten nachhaltiger zu gestalten.