Wie entwickeln sich Diskurse in Sozialen Medien? Was bedeutet das für den öffentlichen und politischen Diskurs im Allgemeinen? Und welche Regeln braucht es hier? Dazu forscht Netzwerkwissenschaftler Philip Lorenz-Spreen. Ein Gespräch.
Schneller, kürzer, politischer
Herr Lorenz-Spreen, Sie beschäftigen sich mit demokratischen Diskursen in der Online-Welt. Was genau erforschen Sie in diesem Bereich?
Ich schaue mir das menschliche Verhalten in der Online-Welt an. Das hat vielfach natürlich mit Sozialen Medien zu tun, aber ich beschäftige mich nicht ausschließlich mit diesen, sondern auch mit Online-Suchen oder mit Zeitungsartikeln, die online veröffentlicht werden und mit Informationssuche allgemein. Natürlich sind die Online- und die Offline-Welt eng miteinander verknüpft, aber mein Fokus liegt eher im Online-Bereich. Ich betrachte das Verhalten der Menschen dort auf zwei unterschiedlichen Ebenen.
Welche Ebene sind das?
Anfangs habe ich mir das Thema vor allem auf einer makroskopischen Ebene angeschaut, große Datensätze, beispielsweise von Twitter, analysiert und mir hier unterschiedliche Verhaltensmuster angeschaut. Inzwischen betrachte ich zusätzlich auch noch das Individuum und die Entscheidungsumwelt der einzelnen Person.
Was sind in diesen Bereichen die wesentlichen Erkenntnisse?
Auf der makroskopischen Ebene haben wir uns angeschaut, wie sich der öffentliche Diskurs bei Twitter über einen längeren Zeitraum verändert hat. Da konnten wir messen, dass es eine größere Frequenz an Themen gibt, die sich abwechseln und es also eine höhere Frequenz an neuen Trends gibt. Das Gleiche konnte man auch bei Google-Suchmaschinenanfragen oder bei Reddit beobachten. Die Tendenz, dass Themen immer kürzer aktuell sind und immer kürzer hoch frequentiert werden, spiegelt sich auch in anderen Lebenswelten wieder. So werden beispielsweise Kinofilme heute deutlich kürzer in Kinos gespielt als früher. Die Beobachtungen sind also durchaus ein Hinweis darauf, dass diese Verkürzungen nicht nur ein Trend in den Sozialen Medien sind, sondern sogar ein gesellschaftlicher Trend. Eine These hier ist, dass sich Technologie also beschleunigend auf den gesellschaftlichen Wandel auswirkt. Insgesamt muss man sagen, dass es ein sehr stark wachsendes Feld ist, einfach auch, weil wir viel mehr Daten aus der Online-Welt haben, die wir untersuchen können. Insofern passiert hier grad sehr viel.
Weiß man, seit wann es die von Ihnen angesprochenen Veränderungen gibt?
Gerade Trumps Twitter-Aktivitäten werden ja oft eher negativ beurteilt. Wie würden Sie die Veränderungen bewerten?
Wie immer gibt es positive und negative Seiten in diesen Entwicklungen und diese muss man beide sehen und analysieren. Ich glaube auch, dass es keine Rückwärtsentwicklung geben wird und deshalb möchte ich auch nicht zu sehr schwarz malen. Ich glaube wichtiger als zu sagen, ob es gut oder schlecht ist, wird es sein, sich Gedanken darüber zu machen, welchen Regeln dieses System folgt. Viele der Plattformen, auf denen man sich bewegt, haben eigene Agenden und diese sind derzeit sehr stark vom Businessmodell der jeweiligen Plattform geprägt. Wenn diese aber ein so wichtiger Teil unsere Öffentlichkeit sind, wie sie es aktuell der Fall ist, dann sollte es auch so sein, dass die Gesellschaft die Regeln und Funktionsweisen der Plattformen aktiv mitgestaltet.
Die Plattformen selbst haben sich ja durchaus bewegt in letzter Zeit, etwa durch das Labeling von Falschmeldungen. Wie bewerten Sie diese Bemühungen im Kampf gegen Misinformationen?
Was schlagen Sie als Ergänzung beziehungsweise als effektiveren Weg vor?
Unser Ansatz ist es, den Diskurs allgemein mit mehr Kontext zu unterfüttern. So befähigen wir die Leute dazu, basierend auf diesen Informationen, so gut sie können, selbst zu entscheiden, welche Information vertrauenswürdig ist. Wenn man beispielsweise einen Artikel komplett aus dem Kontext gerissen in einem Feed sieht, dann ist diese Abwägung sehr schwierig. Im alten Ökosystem der Zeitungen und Fernsehsender hatte man ein paar mehr Anhaltspunkte, wie beispielsweise bekannte Namen, die Aufmachung oder die Zugehörigkeit zu einer Sendung, an denen man sich orientieren konnte. Das verwäscht allerdings zusehends auch in diesem Bereich, da die Verbreitung und Produktion inzwischen so einfach sind. Wir müssen uns also insgesamt Gedanken um neue Markierungen für Vertrauenswürdigkeit machen.
Glauben Sie, dass wir in diesem Bereich auf einem guten Weg sind?
Haben Sie da Bedenken?
Naja, es ist zumindest nicht einfach, diese Regulationen auch umzusetzen. Die Entscheidungsfindung des Menschen reagiert oft sensibel auf die Umwelt und wir lassen uns von Kleinigkeiten leicht beeinflussen. Ich sehe daher durchaus die Gefahr, dass wenn diese Komponente nicht mitgedacht wird, Regulationen auch umgegangen werden können von den Plattformen, weil sie ja schon auch gewisse Steuerungsmechanismen haben. Die Datenschutzgrundverordnung ist hier ein schönes Beispiel. Die ist an sich super, aber in der Umsetzung ist es häufig so, dass die Disclaimer so gestaltet werden, dass man zu einer Option hingeleitet wird, die vielleicht nicht unbedingt die wäre, die man auswählen würde. So etwas ist natürlich suboptimal.
Wie könnte man so etwas denn besser gestalten?
Die Sachen, die ich eben beschrieben habe, fallen alle unter den Begriff des „Nudgings“ – man wird also in eine bestimmte Richtung gestupst. Solche Dinge könnte man natürlich auch umkehren. Man könnte mit einem Nudge beispielsweise auch auf Quellen oder Hintergründe hinweisen und so den Drang dazu verstärken, weitere Informationen zu erhalten oder Dinge zu hinterfragen. Die andere Idee ist das „Boosting“. Statt Verhaltensweisen anzustupsen, stößt man hier dazu an, Kompetenzen zu fördern und so informierte Entscheidungen treffen zu können. Eine Kombination aus beidem ist sinnvoll und zielführend.
Warum sollten die Plattformen sich darauf einlassen?
Hat sich in der Zeit der Corona-Pandemie etwas im Diskurs verändert?
Die genauen Effekte analysieren wir derzeit noch. Was wir auf jeden Fall gesehen haben, ist ein großes Informationsbedürfnis und das Aufpoppen von unterschiedlichen Expertinnen und Experten und eben von Pseudoexpertinnen und Pseudoexperten. Die obliegen derzeit natürlich keinen besonderen Regularien. Das wäre beispielsweise ein Ansatz, dass Menschen mit einer bestimmten Follower-Zahl künftig ihre Quellen angeben müssen. Auch das wäre ein Schritt in Richtung neuer Regeln und Funktionalitäten für den Diskurs. Dabei wäre ein zentraler Vorteil, dass diese Labeling-Kriterien nicht nach dem Inhalt selbst gehen, sondern sich nach externen Kriterien, wie eben Followerzahl oder Quellenangaben, richten.
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