Eine umstrittene Preisverleihung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit hat eine hitzige Diskussion um „Cancel Culture“ und demokratische Werte im Wissenschaftsbetrieb ausgelöst. Eine Chronik der Kontroverse.
Ringen um die Wissenschaftsfreiheit
„Liebe BBAW darf ich mal fragen, ob ihr genauer hingeschaut habt, wer da demnächst bei euch zu Gast ist? Ist das eine bewusste Entscheidung?“ Diese Fragen stellte Katja-Knuth Herzig, Koordinatorin des Graduiertenkollegs „Wissenschaftsmanagement und Wissenschaftskommunikation als forschungsbasierte Praxen der Wissenschaftssystementwicklung“, am 28. Januar über das soziale Medium X.
Das umstrittene Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hatte den Einstein Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) für eine Preisverleihung angemietet. Der ehemalige Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV), Bernhard Kempen, sollte den Preis „für sein besonderes Engagement für die Wissenschaftsfreiheit“ erhalten. Der Präsident der BBAW, Christoph Markschies, bemühte sich um Distanzierung und antwortete, dass es sich um eine externe Veranstaltung gehandelt habe. Zudem hätte eine Ablehnung des Antrags das Narrativ der Cancel Culture bestätigt.
In der Folge entbrannte ein hitziger Diskurs rund um das Netzwerk, der in verschiedenen sozialen Medien und Publikationen geführt wurde. Dies ist der Versuch einer chronologischen Nachzeichnung des Geschehens, bis zum Redaktionsschluss am 14. Februar.
Statement der BBAW
Noch vor der Veranstaltung am 2. Februar reagierte die Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn im Blog von Jan-Martin Wiarda auf Markschies Postings und forderte eine klare Abgrenzung zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: „Um effektiv für den Erhalt unserer Demokratie einzustehen, muss man sich der schleichenden Normalisierung von [den] sie unterwandernden Tendenzen im Alltagshandeln aktiv und ständig entgegenstellen.“ Diese Abgrenzung erfordere eine Haltung, die über allgemeine Bekenntnisse zur Vielfalt in der Wissenschaft hinausgehe.
Christoph Markschies antwortete einige Tage nach der Veranstaltung ebenfalls im Blog und betonte, dass man den Debattenraum für Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums offen halten und die Kommunikation nicht zu früh abbrechen dürfe, „solange – wie die Fachleute sagen – noch über zwanzig Prozent unentschlossen sind, ob sie antidemokratisch wählen sollen oder nicht.“ Seiner Meinung nach gehe es in der Diskussion um die so genannte Cancel Culture weniger um bekenntnishafte Abgrenzung als um wissenschaftliche Argumentation.
Seine Position wurde daraufhin von der Philosophin Amrei Bahr kritisiert. Markschies entziehe sich der Verantwortung, indem er sich auf akademische Diskussionen konzentriere, anstatt sich politisch zu positionieren. Es handele sich explizit um Positionen außerhalb des demokratischen Spektrums, die als solche benannt und gekennzeichnet werden müssten, so Bahr.
Sie spielt damit auf die Präsenz des Netzwerk-Mitglieds Ulrich Vosgerau bei dem geheimen Treffen von AfD-Politiker*innen, Neonazis und Unternehmer*innen in einem Hotel bei Potsdam an. Bis heute hat sich das Netzwerk nicht von Vosgerau distanziert. Man prüfe noch, was Vosgerau genau bei dem Treffen gesagt habe, sagte die Sprecherin des Netzwerks, Sandra Kostner, kürzlich auf die Frage des Deutschlandfunks.
Parteinahme des Deutschen Hochschulverbands
Am 6. Februar erschien in der FAZ mit dem Bericht von Thomas Thiel über die Preisverleihung eine weitere Replik auf den Beitrag von Kristin Eichhorn. Der Journalist warf ihr vor, mit ihrer Kritik zu einer „Cancel-Attacke“ übergegangen zu sein. Weiterhin bezeichnete Thiel Eichhorns Beitrag als „Verunglimpfung“ und schrieb: „Kempens [Preis-]Rede hätte sie entnehmen können, dass die Cancel Culture (die gleichwohl nur bestimmte Themen betrifft) kein rechter Spuk ist, weshalb die Rede davon auch nicht mit akademischer Exkommunikation zu bestrafen ist.“
Daraufhin empfahl der Deutsche Hochschulverband den Artikel: „’Böse Narrative’: Wo fängt #Wissenschaftsfreiheit an, wo hört sie auf? Thomas Thiel findet dazu in der heutigen „FAZ“ klare Worte – auch an die Adresse von @DrKEichhorn“. Der Post löste eine breite Welle der Unterstützung für die Literaturwissenschaftlerin aus, unter anderem von dem Historiker Jürgen Zimmerer: „Sehe ich das richtig? Der Verband der Wissenschaft, [vor allem] aller hauptamtlichen Professor*innen, weist eine jüngere, nicht verbeamtete Kolleg*in öffentlich zurecht, weil sie auf demokratiefeindliche Tendenzen hinwies. Mit welchem Mandat, @DHV_Tweet? Solidarität mit @DrKEichhorn.“ Weitere Solidaritätsbekundungen bei X und Bluesky folgten, Professor*innen wie Eva Marlene Hausteiner gaben öffentlich ihren Austritt aus dem DHV bekannt.
Stellungnahme der TU Berlin
Zeitgleich erschien am 6. Februar die bislang einzige institutionelle Stellungnahme zur Causa Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Geraldine Rauch, Präsidentin der Technischen Universität Berlin, äußerte ihre explizite Ablehnung bei Table.Research: „Die TU Berlin positioniert sich klar gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit als Zeichen für Demokratie und als Zeichen für die Solidarität mit allen Menschen.“ Das Netzwerk greife auffallend häufig Themen wie Migration und Gender Diversity auf. Es nehme für sich in Anspruch, unter dem Deckmantel der Wissenschaftsfreiheit zu agieren. Kritik oder Abgrenzungen gegenüber ihren Positionen würden als „Cancel Culture“ bezeichnet oder als ideologisch motiviert abgestempelt werden. Dies sei ein gefährliches Narrativ, „dem wir uns in keinem Fall beugen dürfen.“
Im Interview mit dem Deutschlandfunk schlug die Genderforscherin Andrea Geier einen ähnlichen Tenor an: „Wissenschaftsfreiheit ist kein Schutz davor, nicht kritisiert oder in Frage gestellt zu werden. Kritik, wenn sie mit guten Argumenten vorgetragen wird, schränkt nicht ein, sondern kann Diskurse befördern.“
Wissenschaftler*innen wie Joël Glasman und Ilyas Saliba griffen das Statement von Geraldine Rauch auf, nannten es eine „mutige, und notwendige Positionierung“, bemerkten aber auch, dass es sich um eine „fast einsame Stimme“ in der deutschen Wissenschaftslandschaft handele.
Der Vorstand des Netzwerks reagierte unterdessen mit der Androhung rechtlicher Schritte: „Bevor wir juristische Schritte wegen Verleumdung einleiten, geben wir Ihnen Gelegenheit, ihre Behauptung zu substanziieren oder zu widerrufen.“ Diverse Forscher*innen kommentierten daraufhin, dass es sich bei dieser Androhung um eine Form der Einschüchterung handele (eine sogenannte „strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung“). Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen schrieb bei X unverblümt: „[…] Wissenschaftsfreiheit ist offenbar das Maulhalten der Andersdenkenden.“
Ein Zwischenfazit
Die Ereignisse rund um die umstrittene Veranstaltung im Einstein-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie haben zu einer intensiven Debatte über die Positionierung von Wissenschaftseinrichtungen gegenüber demokratiefeindlichen Tendenzen geführt. Dabei wird das Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit, „Cancel Culture“ und demokratischen Werten in der Wissenschaft abermals deutlich. Das Ringen um den Begriff „Wissenschaftsfreiheit“ ist noch nicht abgeschlossen. Täglich erscheinen neue Beiträge, Stellungnahmen und Solidaritätsbekundungen. Sebastian Sasse, der für die katholische Tagespost über die Preisverleihung berichtete, zitierte zudem die Sprecherin des Netzwerks, dass dieser Auszeichnung von Bernhard Kempen demnächst auch ein Negativpreis folgen werde. Damit solle ein besonderer Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit markiert werden.