In einer Krise schalten wir unwillkürlich um auf ein Notprogramm. Doch wer über das reflexartige Handeln oder Nichthandeln die Krisenkommunikation vergisst, der gerät schnell in noch größere Probleme.
Reflexe können schädlich sein
Die Natur hat uns Menschen mit wunderbaren Reflexen ausgestattet. Diese sind über Jahrmillionen geschärft und angepasst an feindliche Umweltbedingungen. Ein Wolf fletscht die Zähne, knurrt und will an das von uns erbeutete Stück Wild – Kampf oder Flucht? Ein Bär kommt angetrottet – sich tot stellen oder fliehen?
Heute sind es nicht Wölfe oder Bären, die uns bedrohen, sondern die Chefin (Männer mitgemeint) oder, im Krisenfall, die Medienmeute, die das Institut umzingelt. Statt dem Knurren des Wolfs versetzt uns das Klingeln des Telefons in Panik. Unser Körper aber antwortet darauf wie vor Jahrzehntausenden. Stresshormone werden ausgeschüttet und alte Programme laufen im Hirn ab. Flucht? Kampf? Totstellen? Übersetzt in die Sprache der Krisenkommunikation lauten die Reflexreaktionen: „kein Kommentar“, Pressekonferenz oder überhaupt nicht an das Telefon gehen.
Ich habe selbst alle drei Reaktionen hautnah erlebt – und zwar von beiden Seiten des Telefonhörers. Mal war ich als Journalist der Wolf, mal als Kommunikator im Krisenfall die Beute. Für die kommunikative Bewältigung von Krisenfällen gibt es unzählige Ratgeber. Wenn Sie Praxistipps suchen, buchen Sie ein Seminar oder kaufen Sie sich das passende Buch. Ich will Ihnen hier lieber anhand eines Beispiels erzählen, was Krise mit einem macht.
Der Modellfall ist ein paar Jahre alt, aber das Thema nach wie vor aktuell: Tierversuche und Demonstrationen dagegen. 2012 geriet das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in den Fokus von Tierversuchsgegnern. Sie wollten den Neubau eines Tierhauses stoppen und hatten zwei Zwischenfälle, bei denen je eine Maus gestorben war, zum Anlass genommen, dem MDC Fehler in der Tierhaltung vorzuwerfen. Nach einer sorgfältig orchestrierten Medienkampagne folgte der ebenso orchestrierte öffentliche Aufruhr mit Demonstrationen gegen das Zentrum, dessen Leiter der Kommunikationsabteilung ich zu dieser Zeit war.
Krise also. Demonstrantinnen kündigen sich an. Der Krisenstab tagt: Campus-Geschäftsführer, Vorstandsvorsitzender des Zentrums, Chef des externen Sicherheitsdienstes, Chef der hausinternen „Zentralen Dienste“ und ich. Was tun? Die Demonstrantinnen nicht auf das Gelände lassen (Hausrecht üben) wäre Flucht. Sie gewähren lassen und nichts tun, wäre tot stellen. Aber was bedeutet nun Kampf? Sollen wir die Polizei rufen? Externe Wachleute mit Hunden auf Doppelstreife schicken? Eine Gegendemo organisieren? Gar nichts tun? All das stand zur Debatte.
Ein paar Tage zuvor hatte mir allerdings der Gründungsdirekter des MDC, Detlev Ganten, bei einem Besuch im Büro sehr gelassen einen Rat gegeben: „Laden Sie die doch auf einen Tee ein!“ Wir organisierten also einen Hörsaal, beriefen im Vorfeld ein offenes Treffen mit allen Interessierten aus dem Haus ein – Forschenden ebenso wie Personal des Tierhauses und der Verwaltung. Wir sprachen mit ihnen über die anstehende Demo und unseren Plan, die Protestierenden einzuladen. Zugleich bemannten wir die Eingänge der vielen Institutsgebäude mit Leuten vom Sicherheitsdienst, die jedoch nur innen standen und nicht in Erscheinung traten.
Die Demo begann mit Megaphon und skandierenden Männern und Frauen. Es war für mich nicht leicht, auf die teils martialisch anmutenden Gestalten in dunklen Hoodies oder mit grell geschminkten Gesichtern zuzugehen. Aus manchen Gesichtern sprachen Hass und Abscheu (ich wurde später bei einer anderen Demo als Mörder und Holocaustleugner beschimpft). Aber ich sprach mit dem Mann, der das Megaphon hatte, und der Frau, die die Demo angemeldet hatte. Ich erklärte ihnen, sie könnten hier demonstrieren, obwohl wir das Hausrecht hätten, und wir würden sie danach zu einer Debatte einladen. Rund ein Dutzend von den vielleicht vierzig Leuten kam in den Hörsaal. Das war meine zweite Mutprobe des Tages: die Veranstaltung moderieren. Keine der beiden Seiten bekehrte jemanden, aber wir hörten einander zu.
Wenn es um Krise oder auch um kritische Themen geht, ist genau das etwas, das bei all den Reflexen unterzugehen droht: Zuhören und die andere Seite ernst nehmen. Auch und gerade, wenn es primär um Emotionen geht und nicht so sehr um Fakten.
Wir haben dann noch einige weitere Demonstrationen erlebt, angemeldete und unangemeldete, mit und ohne Polizei, mit Fernsehen und ohne. Nicht erst seit jener Zeit bin ich ein Vertreter des „Sich-Stellens“ und einer offenen Informationspolitik. Als Kommunikator sehe ich meine Aufgabe darin, wider die Reflexe zu handeln und auch die Kolleginnen und Chefinnen davon zu überzeugen, sich weder tot zu stellen, noch in Freund-Feind-Schemata zu denken.
Die Krisen haben mich einerseits ein wenig gelassener werden lassen, andererseits aber auch meine Sinne für Gefahren geschärft. In Seminaren, die ich gebe, sage ich oft scherzhaft, Paranoia sei eine Berufskrankheit. Darin steckt aber ein Körnchen Wahrheit. Krisen machen misstrauisch. Das wiederum ist eine ganz eigene Gefahr. Denn wer Angst hat, ruft unwillkürlich alte Reflexe auf. Um nicht in diese Reflexfalle zu geraten, ist es wichtig, sich mit Kolleginnen (Männer mitgemeint), die nicht in der Krise stehen, auszutauschen, sich zu beraten. Das also als Ratschlag: Suchen Sie sich freundschaftlich-professionelle Hilfe. Und: Don’t panic!
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