Im Podcast „YOU ASK we explain – Berührungsängste in der Medizin“ der TU Dresden geht es um sensible Themen in der Medizin und Antworten der Fachexpert*innen auf Fragestellungen aus der Gesellschaft. Über das Projekt berichten Doreen Pretze, Nora-Lynn Schwerdtner und Stephan Wiegand im Gastbeitrag.
Podcast zu Tabuthemen in der Medizin
Die Idee
Viele sensible medizinische Fragen, die Menschen beschäftigten, trauen sie sich nicht zu stellen – oder sie bekommen nur selten eine offene Antwort. Das will die neue Podcast-Reihe „YOU ASK we explain – Berührungsängste in der Medizin“ der Medizinischen Fakultät der TU Dresden ändern. Gesellschaftliche Fragen werden wissenschaftlich verständlich aufbereitet und ein Austausch mit Expert*innen und Interessierten wird ermöglicht. Fragen zu den einzelnen Themen können im Vorfeld eingereicht oder während der Aufzeichnung mitgeteilt werden.
Die Motivation
Die Komplexität von Wissenschaft und Gesellschaft ist eine Herausforderung für die Wissenschaftskommunikation. Der Zwiespalt zwischen dem Interesse, das Erforschte zu kommunizieren und die Einschätzung darüber, welche gesellschaftliche Relevanz es hat, kann zur Überforderung führen. Aufgrund zunehmender Komplexität sind unabhängige Berichterstattende mehr und mehr von der Selbstbeschreibung der Wissenschaft abhängig, was jedoch durch unverständliche Fachsprache erschwert werden kann. Wissenschaft ist Bildung und der Zugang dazu ist immer noch nicht für alle gleich.
„Das Bildungssystem in Deutschland ist zwar digitaler, internationaler und attraktiver für ausländische Studierende geworden. Doch entscheidet nach wie vor die soziale Herkunft maßgeblich über den Bildungserfolg.“1
Eine mögliche Reaktion auf diese Tatsache ist ein initiierter Diskurs als unterhaltsamer Wissenstransfer. Hier liegt die Betonung besonders auf unterhaltsam. Aus der Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft lassen sich wertvolle Denkanstöße sammeln und Notwendigkeiten ableiten – ohne dabei den Anschein einer Wissenschaftshörigkeit aufkommen zu lassen. Und auf der anderen Seite bekommen Wissenschaftler*innen und andere Akteur*innen eine interessierte Öffentlichkeit.
Eine besonders gute Kommunikationsgrundlage bilden dabei medizinische Themen. Sie sind mit einer gesellschaftlichen Wertigkeit unterlegt, die Akzeptanz und die Nutzbarkeit für alle Kommunikationspartner*innen sind gegeben.
Der Rahmen
Jedes Jahr vergibt „TU Dresden im Dialog“ eine Projektförderung mit dem Fokus auf Wissenschaftskommunikation sowie den Austausch zwischen Gesellschaft und Universität: Sie ist Bestandteil des Vorhabens „Public Outreach“ im EXU-Schwerpunkt IMPACT. „TUD im Dialog“ ist zusätzlich ein Instrument der Organisationsentwicklung im Sinne der internen Kommunikation. Im Zuge dessen hat sich das Projektteam der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden, bestehend aus dem Carus Lehrzentrum gemeinsam mit der Öffentlichkeitsarbeit, auf die Förderung beworben. Unter dem Titel „YOU ASK we explain – Berührungsängste in der Medizin“ werden sensible Fragen aus der Gesellschaft diskutiert. Im Jahr 2023 stehen 37.000 Euro zur Verfügung, um monatlich einen öffentlichen Podcast zu verschiedenen Themen zu erstellen. Alle Akteur*innen sind dabei ganz bunt gemischt: Studierende können ihre Kompetenzen als Moderator*innen unter Beweis stellen und gemeinsam mit Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen über eingesendete Fragen aus der Gesellschaft debattieren. Themen wie Sterbehilfe in der Medizin, geschlechtsspezifische Medizin oder Fehler in der Medizin sollen kontrovers diskutiert werden und Menschen befähigen, sich kritisch mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Ohne Berührungsängste: Was sind eigentlich Tabuthemen?
Tabuthemen gibt es weltweit, aber das Verständnis von ihnen ist in jedem Land anders. Umfragen ergeben laut einem Bericht der dpa, dass in Deutschland zum Beispiel Sex, Gehalt und Beziehung zu den verschwiegenen Fragen gehören. Viele von den Befragten wünschen sich aber offenere Kommunikation, denn „72 Prozent finden, dass noch mehr über persönliche und intime Themen gesprochen werden sollte. Der Grund dafür ist denkbar einfach: 65 Prozent gaben an, dass Gespräche über solche Themen ihnen guttun würden.“ Motive für Tabus liegen im sozialen Grundverhalten von Menschen: Scham, gesellschaftliche Normen, Hilflosigkeit und Unsicherheit, fehlendes Interesse, Angst sowie Vermeidungs- und Verleugnungsverhalten.
Eine komplette Enttabuisierung wird es wohl nicht geben, obwohl viele Menschen das Gefühl haben, dass es zunehmend weniger Tabus gibt. Im Zuge der digitalen permanenten Verfügbarkeit und des internationalen Austausches scheint es, als würden die Menschen nur noch unterhalten werden können, wenn etwas noch „extremer“ ist – beispielsweise in Form von Tabubrüchen und Grenzüberschreitungen.
Der Impuls: Es braucht eine gewisse Komfortzonen-Überschreitung
Über einige medizinische Fragen stolpert man immer und immer wieder, auch im Alltag. Wir fragen in dem Podcast unsere Hörer*innen: Hast Du Dir schon mal über Behandlungsfehler Gedanken gemacht, über Sterbehilfe, über künstliche Befruchtung und klinische Studien am Menschen? Es gibt nicht immer ein Richtig oder ein Falsch. Es liegt es an unserer Kommunikationsweise, neue Dinge zuzulassen, offen für neue Gedanken zu sein und im gemeinsamen Austausch Sichtweisen auszutauschen, zu verstehen sowie in einen Kontext einzuordnen. Eine freie und sensible Debattenkultur spricht für sich: Unterschiedliche Professionen haben verschiedene Ansichten, jede*r sieht die Welt mit eigenen Augen und bildet sich ein Urteil. Das Wesentliche dabei ist, die Fakten nicht aus den Augen zu verlieren, sich darauf zu stützen und sich darauf aufbauend eine Meinung zu bilden. Deswegen geben wir nur Fachexpert*innen das Mikrofon und stützen uns nicht auf Behauptungen.
Das Knowhow: Erfahrungen aus den ersten Podcast-Folgen
Das Kernteam des Podcasts besteht aus drei Mitarbeitenden der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden aus den Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit und Lehre. Außerdem gehören natürlich kreative studentische Köpfe dazu, die sich um den Social-Media-Input und alle notwendigen Grafiken und Layouts kümmern, sowie auch die Kooperationspartner, die neben inhaltlichen Ideen auch für die organisatorische und räumliche Umsetzung und Sichtbarkeit zur Seite stehen. Aufgenommen wird nicht, wie in anderen Podcasts, über die digitale Zusammenschaltung der Redenden am Küchentisch oder im Tonstudio, sondern immer in Präsenz mit bequemen Sitzmöglichkeiten – also eher in einer Art Talkrunde. Eingeladen wird ein bunter Strauß an Menschen vor und hinter dem Mikrofon: Fachgebietsexpert*innen und alle Interessierten aus dem Umfeld der TU Dresden, aber es wird auch auf öffentliche Werbung via Poster und Aufsteller gesetzt. Für eine professionelle Aufnahme sorgt eine beauftragte Musik- und Videoproduktionsfirma (Ballroom Studio Dresden) und der Fotograf Andre Wirsig hält die Gesprächssituationen bildlich fest.
Wir wollen möglichst möglichst direkt mit der Allgemeinheit in Interaktion treten und Fragen aus dem Publikum auf die Bühne bringen. Deshalb gehören auch Präsenz-Veranstaltungen an thematisch-gewählten Locations zum Programm. Fand die erste Veranstaltung im Herzen der Landeshauptstadt – im Kulturpalast Dresden – auf einer festinstallierten Roten Bühne im Foyer statt, so widmeten wir uns dem recht sensiblem Thema „Fehler in der Medizin“ nur im kleinen Kreis im Tonstudio. Andere Themen werden in passenden Museumsräumen sowie auch in Bars, Gartensparten und kirchlichen Häusern stattfinden. Egal wo die Expert*innen Platz nehmen: der Podcast wird nicht inhaltlich nachbearbeitet oder retrospektiv zusammengebaut: eine Gesprächsrunde wird aufgezeichnet und veröffentlicht, so wie sie stattfindet und die Inhalte entstehen.
Zur ersten öffentlichen Veranstaltung im Januar 2023 kamen zahlreiche Interessierte: Das neue Format lockte Menschen an, einige blieben stehen und lauschten interessiert, nahmen sich noch einen Stuhl, die Zeit verging sehr rasch. Damit es kein Hängenbleiben an einzelnen Fragen gibt, benötigt es einige Rahmenbedingungen, die uns als Projektteam wichtig waren: eine musikalische Unterbrechung alle zehn Minuten als neutralisierender Paukenschlag zwischendurch; eine unabhängige Moderation; die Vielschichtigkeit an Expert*innen sowie die Reproduzierbarkeit in Form von Aufzeichnungen. Podcasts haben sich seit Beginn der Pandemie als geeigneter Entertainment-Kanal für nahezu alle Themenbereiche erwiesen, doch unser Projekt zeigt: Auf persönlichen Kontakt bei Live-Veranstaltungen reagieren die Menschen reagieren noch positiver. Die Möglichkeit des Nachhörens ist wichtig, aber die sichtbare Möglichkeit einer Get-in-Touch-Interaktion ist genauso wertvoll.
Das Credo: von „YOU ASK we explain“
Live mit Expert*innen, mit Publikum und offen für jede Frage. Wissenschaftlich und empathisch, fundiert recherchiert, diskurssensibel und unterhaltsam – das ist unsere Idee, um mit Expert*innen sowie Interessierten über verschiedene Themenbereiche mit Berührungsängsten in der Medizin in Kontakt zu treten.
Viele sagen: Solche Fragen stellt man nicht. Doch! Auf viele Fragen aus dem Bereich der Medizin, die Sie sich vielleicht nicht zu stellen trauen, geben wir bei uns eine Antwort. Haben Sie eine solche Frage? Dann gleich online eintragen, selbstverständlich vollkommen anonym und denken Sie daran: unsinnige Fragen und Tabus gibt es nicht.
Projektsteckbrief
Das Projekt „YOU ASK we explain – Berührungsängste in der Medizin“ startete im Januar 2023 mit seiner Podcast- und Veranstaltungsreihe. Viele sensible medizinische Fragen, die Menschen beschäftigen, traut man sich nicht zu stellen oder es gibt nur selten eine offene Antwort. Das will das Projekt ändern. Gesamtgesellschaftliche Fragen werden wissenschaftlich verständlich aufbereitet und ein Austausch mit Expert*innen und Interessierten wird ermöglicht. Das fördert nicht nur den Transfer in die Gesellschaft, sondern auch den Austausch verschiedener Fachgebiete – vom Pfarrer, über den Patienten, zum Ethiker und Ingenieur – alle reden mit unseren forschenden Ärzt*innen. Und Jede*r kann Fragen anonym und barrierefrei im Vorfeld einreichen. Im Jahr 2023 werden zehn Podcasts und Veranstaltungen zu aktuellen, facettenreichen sowie relevanten Themen aufgenommen: Jede*r fragt – die Hochschulmedizin antwortet. Im Fokus steht dabei der kritische Austausch seitens der Fachexpert*nnen mit der breiten Gesellschaft und ein transparenter Blick hinter die Medizinkulissen. Alle Podcasts werden in Live-Veranstaltungen mit Publikum an öffentlich zugänglichen Orten aufgezeichnet. Aber auch digitale Formate werden adressiert: die Podcasts sind bei Spotify zu hören. Zusammenfassungen gibt es auf Social Media.
Zielgruppe: Alle Bürger*innen der Gesellschaft; vor allem auch Menschen ohne oder mit bisher vermindertem Zugang zu wissenschaftlichen Inhalten.
Team: Dr. Doreen Pretze, Nora-Lynn Schwerdtner und Stephan Wiegand von der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden.
Träger/Budget: Das Projekt ist Bestandteil des Vorhabens „Public Outreach“ im EXU-Schwerpunkt IMPACT. „TUD im Dialog“ ist zusätzlich ein Instrument der Organisationsentwicklung im Sinne der internen Kommunikation und ist ein Förderprogramm der TU Dresden. Das Gesamtvolumen der Förderung für das Projekt beträgt ca. 37.000€. Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Freistaat Sachsen im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern.
Daten zur Zielerreichung: Nach den ersten vier Veranstaltungen konnten bisher circa 150 Teilnehmende bei den Veranstaltungen vor Ort anwesend sein und über 500 Personen den Podcast anhören. Nach Umfragen ergab sich die Verteilung nach Bildungsabschluss wie folgt: Schüler*innen 5.9 Prozent, Berufsausbildung 11.8 Prozent, Allg. Hochschulreife (Abitur) 23.5 Prozent, Bachelor-Abschluss 11.8 Prozent, Master-Abschluss 17.6 Prozent, Promotion 17.6 Prozent. Die deutliche Mehrheit der Evaluationsteilnehmenden gibt an, dass sie sich mehr Veranstaltungen wie diese wünscht. Dem wollen wir mit Anträgen über eine Anschlussfinanzierung zur Erweiterung der medialen Möglichkeiten, Erweiterungen im inhaltlichen Format und der Zugänglichkeit für alle, zum Beispiel für Gehörlose in Gebärdensprache, nachkommen.