Etwa 1.000 Autorinnen und Autoren aus den Geisteswissenschaften schreiben in rund 300 Blogs auf dem Portal de.hypotheses.org auf Deutsch über ihre Forschung. Ein Gespräch mit Projektleiterin Mareike König über Motivation, Netzwerkpflege, Diskussionen und Zitierfähigkeit beim Bloggen.
Blogprojekt Hypotheses – Mut zur These und zur Diskussion
Frau König, was bringt es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern neben ihrer täglichen Arbeit, einen Blog zu führen?
Es gibt viele gute Gründe und die Motivation ist sehr unterschiedlich: Man kann mit anderen Forschenden kommunizieren und sich vernetzen, die eigenen Ergebnisse publizieren und das alles selbstbestimmt gestalten. Manche Personen können beim Schreiben ihre Gedanken strukturieren oder sie richten einen eigenen digitalen Zettelkasten ein und dokumentieren so ihre Arbeit. Und man kann das Schreiben außerhalb wissenschaftlicher Formen üben und zum Beispiel essayistisch schreiben. Fast noch wichtiger ist aber die Frage der Sichtbarkeit: Ein Blog kann der Missing Link zwischen Vortrag und Publikation sein, da gerade im geisteswissenschaftlichen Bereich die Zeit bis zum Erscheinungstermin oft sehr lange werden kann. Im Blog bleibt man zu einem Thema im Gespräch und man kann multimediale Inhalte wie Bilder, Grafiken, Animationen und Verlinkungen einbringen. Inhaltlich ist das Besondere, dass man hier auch Unfertiges und Zweifel publizieren kann. Damit tun sich Forschende oft schwer, weil sie sich so früh im Forschungsprozess Kritik aussetzen. Wissenschaft ist aber Kommunikation und Diskussion. Nur so kommt man vorwärts.
Sie betreuen mit de.hypotheses.org den deutschen Ableger einer europäischen Plattform. Wie sind Sie zu dem Projekt gekommen?
Am Deutschen Historischen Institut in Paris haben wir festgestellt, dass in Frankreich in den Geisteswissenschaften viel mehr gebloggt und getwittert wird als in Deutschland. Und zwar über alle Hierarchiestufen hinweg, von den Studierenden bis zu Professorinnen und Professoren. Wir kamen dann 2011 mit den Betreibern der französischen Plattform in Kontakt und haben uns dem Projekt angeschlossen.
Warum haben Sie kein eigenes Blogportal eröffnet?
Zum einen, weil es die Struktur von Hypotheses schon gab. Die technische Infrastruktur wird getragen von OpenEdition, eine Publikationsplattform, die vom Centre national de la recherche scientifique, dem Pendant zur Deutschen Forschungsgemeinschaft, und vier Universitäten getragen wird. Sie haben die französische Blogplattform bereits 2008 gegründet. Gemeinsam gibt es eine größere Sichtbarkeit und mehr Vernetzungsmöglichkeiten. Zum anderen fällt es in Deutschland angesichts der föderalen Struktur der Bildungslandschaft oft schwer, übergreifende Strukturen aufzubauen. Die Communitymanagerinnen des deutschsprachigen Portals – Österreich und die Schweiz sind auch mit dabei – werden von der Max Weber Stiftung finanziert. Sie helfen vor allem beim Bloggen, beantworten Fragen der Autorinnen und Autoren zum Einstellen von Beiträgen, unterstützen bei der Bildersuche, helfen bei Reichweite und Bewerbung und geben im „Bloghaus“ technische und gestalterische Tipps. Und das ist das Besondere: Bei uns können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bloggen, die sich mit Themen wie technischen Updates und Archivierung der Inhalte nicht beschäftigen können oder möchten. Sie bekommen hier Unterstützung dafür und einen werbefreien Ort der Publikation – ganz sicher und kostenlos.
Sie können also einfach einen Blog anmelden und loslegen?
Genau, man kann sich direkt über ein Formular bei uns melden. Hypotheses antwortet damit gleich auf drei große Vorbehalte. Der erste ist, dass Forschende zwar kommunizieren wollen, aber oft nicht wissen wie und wo. Da bietet das Portal eine zentrale Anlaufstelle. Eine weitere Frage ist: Kann ich die Inhalte zitieren und sind sie morgen noch da? Ja, denn die Blogs werden durch Permalinks gesichert und langzeitarchiviert. Mittlerweile erhalten sie von der Deutschen Nationalbibliothek außerdem eine ISSN, wie eine Zeitschrift und werden somit bibliothekarisch gleichgestellt mit anderen Publikationen. Die dritte Frage ist oft, ob die wissenschaftliche Qualität gesichert ist. Auch hier ein Ja. Hypotheses ist ein Angebot für Personen, die an Universitäten oder Forschungsinstitutionen tätig sind. Es ist ein von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern getragenes Portal. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch die Vielzahl an Blogbeiträgen immer aktuelle Inhalte auf der zentralen Seite sind und durch die Arbeit des Communitymanagements in den Sozialen Medien für die Sichtbarkeit und Verbreitung der Inhalte gesorgt wird. Damit erreichen auch neue Blogs direkt eine große Leserschaft, ohne sie mühsam selbst aufzubauen zu müssen.
Verändert sich durch die neue Blogkultur etwas in den Wissenschaften?
Dafür habe ich keine empirischen Daten, aber vom Gefühl her ändert sich gerade sehr viel. Jeder, der ein Forschungsprojekt umsetzt, soll mittlerweile früh darüber kommunizieren. Doch für den Einzelnen ist es eine Frage der Ressourcen und der Ziele. Es muss einen Return on Investment dafür geben. Klassische Reputation kann man mit Bloggen und Kommentieren in der Wissenschaft leider noch nicht bekommen. Für die Karriere bringt es aber trotzdem etwas, weil man sich besser vernetzen kann, sich bekannt macht und nicht mehr als Einzelgänger im stillen Kämmerlein forscht. So kann ich auch ohne Reisebudget am Wissenschaftsdiskurs teilnehmen. Ich muss aber auch wissen, was ich schreiben will.
Ist Themenfindung ein Knackpunkt?
Ja, gerade junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wissen oft nicht, was sie schreiben wollen oder dürfen. Wir versuchen, ihnen in Schulungen die Angst zu nehmen. Auch sie sind Teil der Wissenschaftslandschaft und es ist wichtig, sich zu positionieren und am Diskurs teilzunehmen. Aber das Bloggen ist unter Wissenschaftler insgesamt ein emotional besetztes Thema.
Inwiefern?
Das hat mit Zeit zu tun und der Frage: Muss ich das jetzt auch noch machen? Oder mit Karriereplanung und dem Zweifel, ob ein Blog überhaupt als wissenschaftliche Publikation anerkannt wird. Und mit der bestehenden Definition der Qualitätssicherung im Publikationsprozess. Wollen wir ein vorgeschaltetes Nadelöhr wie die Redaktion einer Zeitschrift? Oder lassen wir alle alles schreiben und die Leser müssen dann selbst filtern und entscheiden, was für sie wichtig ist? Das wird kontrovers diskutiert und hat auch Auswirkungen auf unsere Forschungskultur. Man kann im Blog öffentlich eine These aufstellen, diese mit Anderen diskutieren und dann ein halbes Jahr später zur Einsicht kommen, dass man sich geirrt hat. Dazu gehört Mut! Hinzu kommen ganz praktische Fragen wie: Plagiiere ich mich selbst, wenn ich Passagen aus dem Blog für einen anderen Beitrag oder für die Dissertation verwende?
Was raten Sie Doktorandinnen und Doktoranden, die bloggen wollen?
Die Dissertationsordnungen schweigen sich zu Blogs oft noch aus. Das schafft Unsicherheit. Wir empfehlen, bei den Betreuern nachzufragen, sowie sich selbst zu zitieren und das Blog als Quelle anzugeben. Gleichzeitig soll das Blog die Dissertation nicht aufhalten. Trotzdem können sich Doktoranden hier schon austauschen und positionieren. Wir empfehlen deshalb etwa einen Beitrag alle zwei Wochen und der Aufwand hierfür sollte im Durchschnitt nicht mehr als drei Stunden betragen. Es muss nicht immer ein komplett ausgearbeiteter Artikel, der große Wurf sein, sondern kann ein kleinerer Text mit Link als Materialsammlung oder ein kurzer Bericht von einer Veranstaltung sein. Für komplexere Beiträge bekommt man durchaus Anfragen, sie für eine Zeitschrift zu einem Artikel auszuarbeiten oder bei einer Tagung vorzustellen. Blogbeiträge sind dann Vorstufen zu Peer-Review-Artikeln.
Sind die Leser von Hypotheses eher andere Wissenschaftler oder auch Laien?
Leider können wir das nicht genau erheben. Die Startseite von Hypotheses hat etwa 1,1 Millionen Zugriffe jährlich, hauptsächlich aus Frankreich, den USA und Deutschland. Bei so hohen Zahlen muss die Leserschaft über die enge wissenschaftliche Community hinausgehen. Vom Ansatz her bloggen aber die Meisten für ihre Forscherkollegen. Wir sind also eine Art Branchenportal für die Geisteswissenschaften.
Allerdings aufgrund der Sprache nur in der deutschsprachigen Branche. Wäre es da nicht besser, auf Englisch zu schreiben?
Nein, eben nicht. Hypotheses ist auch ein Plädoyer für die eigene Sprache als Wissenschaftssprache. Wir setzen hier der Übermacht des Englischen als Publikationssprache etwas entgegen, weil man sich in seiner Muttersprache am präzisesten ausdrücken kann.
Gibt es Vorzeigeprojekte unter den Blogs?
Oh ja, viele! Ein Blick auf unsere Startseite genügt! Es gibt die großen und besonders sichtbaren Blogs wie das „Soziologieblog“, „Archivalia“ und das „Mittelalterblog“, eine Erfolgsstory von einigen jungen Postdocs. Es funktioniert schon fast wie eine Zeitschrift mit eigener Redaktion, die Beiträge einwerben und redaktionell betreuen. Ich habe den Eindruck, dass es einen Trend zum Gemeinschaftsblog mit zwei, drei oder mehr Autorinnen und Autoren gibt, die manchmal am selben Standort sitzen, manchmal aber auch verteilt und sich über das Blog vernetzen, so etwa „The Article“, ein Blog von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern oder das Blog des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und digitale Spiele. Daneben haben wir viele kreative Blogs von Einzelpersonen, wie etwa „Philosophie – Phisolophie“, ein intelligent-humorvolles Blog zur Philosophiegeschichte, das Blog „Migration and Belonging“ zu Migration und Fremdheit in europäischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert, „Art[in]Crisis“, ein Blog zu aktuellen Debatten aus Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur in kunsthistorischer Perspektive, das Blog „Aktenkunde“ oder „Chick lit – die neue Frauenliteratur?“, begleitend zu einer Dissertation. Einer der Beiträge der Bloggerin hat letztes Jahr zum fünften Geburtstag von de.hypotheses.org seine Vertonung als Podcast gewonnen, gelesen von keinem geringeren als Jens Wawrczeck, auch bekannt als zweiter Detektiv Peter Shaw bei den Drei ???.