Mit der App Flora Incognita können Menschen automatisch Pflanzen bestimmen. Dies sensibilisiere für Artenschutz sagen die Projektbeteiligten Anke Bebber und Michael Rzanny und sprechen im Interview über Herausforderungen bei der Entwicklung und den Nutzen für die Biodiversitätsforschung.
„Menschen müssen Biodiversität selbst sehen, um sich damit identifizieren zu können“
Sie schreiben in einer Veröffentlichung, dass Kommunikationsbemühungen um Artenschutz nicht erfolgreich sein können, wenn das Verständnis für Diversität fehle. Mit der App Flora Incognita können Menschen Pflanzen automatisch bestimmen lassen und sollen so für Artenschutz sensibilisiert werden. Wie gelingt dies?
Michael Rzanny: Wir möchten, dass Menschen Spaß daran haben, Pflanzen zu bestimmen, weil es dazu führt, dass sie Vielfalt wahrnehmen. Wenn Menschen eine Wiese nur als grüne Fläche sehen, dann nehmen sie nur Gras wahr. Wenn man aber mit seinem Smartphone dieses Gras untersuchen kann und sieht, was da für kleine Pflanzen und Blumen vorkommen, dann schafft das eine Identifikation mit Diversität. Wir bekommen viel Feedback von Leuten, die erstaunt waren, dass es so viele verschiedene Arten gibt und dass das Bestimmen richtig süchtig gemacht habe. Und das ist genau der Effekt, den wir erzielen wollen. Die Leute sollen sich dafür interessieren, was in ihrer Umgebung wächst und gleichzeitig beginnen, diese Vielfalt zu dokumentieren. Auf lange Sicht sollen sie sehen können, wo verschiedene Pflanzenarten in Deutschland und der ganzen Welt vorkommen und wie sie sich verändern. Menschen müssen Biodiversität selbst sehen, um sich damit identifizieren zu können.
Wie ist die Idee für diese Bestimmungs-App entstanden?
Anke Bebber: Zuerst war die App für Biolog*innen gedacht. Die Projektleiterin Jana Wäldchen ist selbst Biologin und wollte eine Arbeitserleichterung für Botaniker*innen schaffen, denn die korrekte Bestimmung einer Art kann recht zeitaufwendig sein. Der Gedanke, diese App auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, kam erst später.
Rzanny: Was auch daran lag, dass die technischen Voraussetzungen noch nicht gegeben waren. Die Idee zu diesem Projekt kam 2012. Zu dieser Zeit war noch nicht klar, ob eine voll automatische Pflanzenbestimmung überhaupt technisch möglich ist, daher war es zunächst als halb automatische Pflanzenbestimmung gedacht.
Bebber: Die Entwicklung der App war ein großes Forschungsprojekt der Technischen Universität Ilmenau und des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena. Seit 2014 forschen und entwickeln Computerwissenschaftler*innen und Botaniker*innen gemeinsam an der Architektur aus tiefen neuronalen Netzen, die für eine vollautomatische Bestimmung nötig ist. Es handelt sich bei der App um eine künstliche Intelligenz, die selbst lernt, die Pflanzen zu unterscheiden und zu bestimmen. Hierbei gab es einige Herausforderungen zu überwinden.
Welche Herausforderungen waren das zum Beispiel?
Rzanny: Zunächst war es eine große Herausforderung, wirklich alle und nicht nur die bunten und auffällig blühenden der mehr als 3600 in Deutschland heimischen Gefäßpflanzenarten per App bestimmbar zu machen. Gerade bei schwierigeren, unscheinbaren Arten sind gute Bilder aus bestimmten Perspektiven für eine korrekte Bestimmung sehr wichtig. Mit den aktuellen Smartphones und vor allem ein wenig Geduld geht das aber schon erstaunlich gut, wie unsere Forschungen zeigen.
Eine App-Entwicklung ist für eine Forschungseinrichtung ein schwieriges Projekt, weil es sehr viele Ressourcen benötigt. Allein damit die App auf dem jetzigen Niveau funktioniert, muss man permanent daran arbeiten. Deswegen wird es auch keine Entwicklungen neuer Apps mehr geben. Das können andere mit den Algorithmen machen, die wir mit unserem Projekt zur Verfügung stellen.
Was ist ihr Resümee, war der Entwicklungsaufwand für die App lohnenswert? Besonders mit dem Output, den Sie für die Forschung erhalten?
Rzanny: Ja, ganz klar. Natürlich wird es umso interessanter, je länger solche Beobachtungsreihen vorliegen. Die App ging 2018 an den Start, in den ersten Jahren gab es ein paar Hunderttausend Beobachtungen. Aktuell liegen wir bei 85 Millionen Beobachtungen. Das geht hoffentlich nun jedes Jahr so weiter. Interessant ist es natürlich, über einen längeren Zeitpunkt diese Beobachtungen zu vergleichen: Welche Arten werden häufiger beobachtet, welche seltener? Auch durch die Brille der Nutzer*innen: welche Biodiversität nehmen Menschen wahr? Flora Incognita liefert kein repräsentatives Abbild der gesamten Biodiversität, sondern das, was Menschen aus verschiedensten Gründen inspirierte, zu fotografieren.
Die Wissenschaftskommunikation über dieses Projekt nahm von Beginn an einen großen Stellenwert ein und wird explizit als wichtiger Pfeiler genannt. Warum legte das Projekt darauf viel Wert?
Bebber: Wir sind seit App-Launch auf Social Media unterwegs. Für uns war klar, wenn wir eine App haben möchten, die für alle Menschen nutzbar sein soll, dann müssen wir auch dort unterwegs sein, wo die Menschen sind. Wir sind zudem sehr auf das Feedback der Nutzer*innen zur Verbesserung der App angewiesen. Facebook ist hierfür großartig, da die Facebook-User*innen gerne ihr Feedback teilen. Wir ermuntern die Menschen auch, ihr Feedback in den App Stores zu lassen. Das ist sehr wichtig, denn nur mit einem guten Rating wird die App in den App-Stores oben angezeigt und so leichter gefunden. Es gab auch eine große Umfrage mit etwa 1000 Nutzer*innen als das Projekt evaluiert wurde, mit der wir Feedback zur App eingeholt haben.
Wie erreichen Sie Menschen, die nicht in den sozialen Medien unterwegs sind?
Rzanny: Wir sind viel auf öffentlichen Veranstaltungen unterwegs, wie zum Beispiel Tage der offenen Tür oder zur Langen Nacht der Wissenschaft. Dort erhalten wir auch immer viel Feedback. Manchmal kommen wir auch mit interessierten Passant*innen bei Freilandarbeiten ins Gespräch, wenn wir im Feld mit dem Smartphone Pflanzen fotografieren.
Wie gehen Sie mit kritischen Kommentaren um?
Rzanny: Wir bekommen hauptsächlich negatives Feedback, was die Bedienung der App angeht. Eine intuitive Bedienung für so eine große Vielfalt an Menschen zu schaffen ist schwierig. Oft wird auch kritisch nachgefragt, warum der Fundort der Art freigegeben werden soll. Viele Menschen haben Sorge, dass wir Bewegungsprofile erstellen würden. Wir machen so etwas natürlich nicht. Den Fundort der Pflanze benötigen wir, damit wir ein Diversitätsmonitoring machen können. Das ist ein Thema, das in der Kommunikation sehr wichtig ist, weil es oft missverstanden wird. Wir haben verstanden, je mehr wir kommunizieren, je erreichbarer wir auf verschiedenen Kanälen sind, desto weniger negatives Feedback kommt.
Was ist künftig geplant?
Bebber: Basierend auf den Algorithmen, die trainiert wurden, um Bilder zu klassifizieren, versuchen wir in verschiedenen anderen Projekten die künstliche Intelligenz mit anderen Lebensformen zu trainieren. Mit Schmetterlingen und Vögeln funktioniert das schon ganz gut, Pilze sind in einer Pilotstudie. Am Ende soll ein Bestimmungsservice entstehen, den beispielsweise Organisationen nutzen können, um Diversitätsmonitoring in Citizen Science oder Forschungsprojekten durchzuführen.
Rzanny: Der Fokus liegt auch nicht nur auf Bildern. Stattdessen fließen noch eine Reihe von anderen Informationen mit ein, wie der Fundort, um welches Biotop es sich handelt oder in welcher Gesellschaft die Pflanze wächst. Das ist ein wichtiges Forschungsthema. Botaniker*innen können aus dem fahrenden Auto heraus mit Blick auf das Biotop und die Jahreszeit bereits viele Pflanze bestimmen. Diesen Blick mit der App zu simulieren, ist ein künftiges Ziel.
Flora Incognita
Flora Incognita ist ein Projekt der Technischen Universität Ilmenau und des Max-Planck-Institutes für Biogechemie mit den Projektleiter*innen Jana Wäldchen und Patrick Mäder. Basis des Projektes ist die Flora Incognita App, mit der Menschen seit 2018 automatisch Pflanzen bestimmen können. Die Daten aus diesen Erfassungen werden unter anderem für ein globales Biodiversitätsmonitoring genutzt. Die entwickelte Technologie dient mittlerweile als Basis für weitere Projekte.
Gefördert wird Flora Incognita durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz sowie durch das Thüringer Ministerium für Umwelt, Energie und Naturschutz.