Aus den ZEIT-Ressorts Wissen und Chancen wird ab Spätsommer ein neues, zentrales Ressort der ZEIT. Noch fehlt ein Name, aber der Prozess ist längst in Bewegung. Ein Gespräch mit den Ressortleitern Andreas Sentker und Manuel Hartung über Ziele, Veränderungen und die Zukunft.
„Mehr Themen, mehr Tiefe, mehr Orientierung“
Herr Sentker, Herr Hartung, wie kommt es, dass Sie die Ressorts Chancen und Wissen der ZEIT zusammenlegen?
Sentker: Die Idee ist naheliegend. Unser Chefredakteur Giovanni di Lorenzo ist auf uns zugekommen und sagte, dass die beiden Bereiche Chancen und Wissen ähnliche Themenkomplexe aus unterschiedlichen Perspektiven behandeln und ob es nicht deshalb sinnvoll wäre, diese Perspektiven künftig gemeinsam zu denken. Hinzu kommt, dass es eine gemeinsame Historie gibt. Das Chancen-Ressort wurde vor 20 Jahren aus dem Wissen-Ressort heraus gegründet, wir bauen also auf eine gemeinsame Vergangenheit auf.
Hartung: Neben dieser Historie spielt auch die Entwicklung der Gesellschaft eine Rolle. Wenn wir wirklich ernst nehmen, dass wir in einer Bildungs- und Wissensgesellschaft leben, dann muss man diese Bereiche gemeinsam denken. Aus unserer Sicht kann man in der heutigen Zeit Schule nicht ohne Hirnforschung betrachten. Man kann die Exzellenzstrategie nicht nur strukturell abhandeln, sondern muss auch über die Inhalte reden. Hinzu kommt: Fast jedes politische Thema hat heute auch eine Bildungs- oder Wissenschaftskomponente. Dem wollen wir nun gerecht werden und Themen noch stärker als bisher zusammendenken – als sehr starkes gemeinsames Ressort in der Mitte der Zeitung. Für uns ist das ein logischer Schritt, das zeigt uns auch die Rückmeldung der Leser, mit denen wir sprechen.
Der Zusammenschluss zweier Bereiche führt oft auch zu personellen Veränderungen, wie verhält es sich damit in diesem Fall?
Hartung: Eine Botschaft ist uns besonders wichtig: Es handelt sich bei diesem Projekt um ein Investitionsprogramm. Wir bauen das Ressort aus und stellen auch neue Kolleginnen und Kollegen ein. Das neue Ressort wird mehr Seiten haben als Chancen und Wissen zusammen. Andreas und ich werden es gemeinsam leiten.
In einer ersten Pressemitteilung wurde verkündet, dass das neue Ressort „Bildung“ heißen soll. Inzwischen ist davon nicht mehr die Rede. Weshalb? Und wie soll es denn nun heißen?
Hartung: Wir sind da noch mitten im Entwicklungsprozess. Wir haben die wunderbare Herausforderung, dass das neue Ressort so umfangreich ist, dass es in zwei Zeitungsbüchern gedruckt werden muss – die beide in der Mitte des Blattes aufeinanderfolgen. Ich finde, dass ‚Wissen‘ ein starker und sehr klarer Begriff ist. Es ist aber noch keine Entscheidung gefallen.
Sentker: Es handelt sich um einen richtigen Werkstattprozess. Dieser findet natürlich in der Redaktion statt, aber wir wollen bewusst unsere Zielgruppen mit einbinden. So haben wir beispielsweise auch das Gespräch mit Leserinnen und Lesern gesucht. In solchen Diskussionen entstehen wichtige Impulse für unsere Entwicklung. Das Dilemma dabei ist, dass die Befragten eigentlich nie etwas streichen wollen, sondern von allem immer mehr haben möchten: mehr Themen, mehr Tiefe, mehr Orientierung. Dem hoffen wir durch die neuen Strukturen gerecht werden zu können. Vor allem, weil wir keine Seiten streichen, sondern welche dazu bekommen. Die Neustrukturierung bedeutet deshalb auch, dass wir künftig mehr Raum haben werden, auf dem wir flexibler agieren können. Die Ressorts Chancen und Wissen sind beide sehr erfolgreiche Titelressorts und produzieren gemeinsam pro Jahr etwa 14 Titel in der ZEIT. Einen Titel zu machen bedeutete bisher, dass man sein Ressort komplett frei räumt und die Aktualität wegfällt. Mit mehr Platz können wir jetzt sowohl einen Titel groß präsentieren, als auch die Aktualität im Blatt wahren.
Was haben Sie sich inhaltlich für das Ressort vorgenommen?
Sentker: Wir haben einen spannenden Prozess hinter uns, währenddessen wir viel mit den Kolleginnen und Kollegen über ihre Vorstellungen und Ideen gesprochen haben. Da ging es auch darum, was unsere Zielsetzung ist. Spannend war, dass dabei immer wieder ein ganz alter Begriff genannt wurde: Aufklärung – ein Auftrag, der mehr als 250 Jahre alt ist und heute aktueller ist als je zuvor. Dabei geht es nicht nur um Aufklärung nach außen, sondern auch um Aufklärung nach innen. Das bedeutet, dass wir sehr transparent agieren wollen. Deshalb wagen wir einen für eine Zeitung sehr ungewöhnlichen Schritt und führen Quellenangaben ein. Wir sagen also ganz deutlich, woher wir unsere Informationen haben.
Wieso machen Sie das?
Sentker: Wir haben gelernt, wie wichtig das ist, und zwar aus den großen Debatten der letzten Zeit. Bei der Diskussion um die Stickoxide kam beispielsweise immer wieder die Frage auf, weshalb man uns und nicht den Lungenärzten vertrauen sollte. Durch klare Quellenangaben kann man dies jetzt sofort nachvollziehen.
Hartung: Diese Transparenz ist wichtig, weil es auch darum geht, das Vertrauen in den Journalismus zu stärken. Wir bieten also Orientierung für unsere Leserinnen und Leser und wollen es ihnen ermöglichen, durch fundiertes Wissen an Diskursen in unserer Gesellschaft teilhaben zu können. Außerdem wollen wir damit versuchen deutlich zu machen, wie Wissenschaft funktioniert. Wir wollen die Methoden wissenschaftlicher Forschung innerhalb der Zeitung sichtbar werden lassen.
Sie sprachen bereits von Fußnoten und Quellen. Wird es noch andere neue Formate innerhalb der Zeitung geben?
Sentker: Selbstverständlich. Wir entwickeln diverse neue Formate und erhalten mehr Platz für Debatten, Kommentare und Gastbeiträge. Außerdem werden wir den Stellenmarkt aufwerten, da dieser ein wichtiger Informationsmarktplatz ist und als solcher auch von unseren Leserinnen und Lesern wahrgenommen wird. An dieser Stelle werden künftig beispielsweise Einblicke in verschiedene wissenschaftliche Disziplinen gegeben werden.
Wie funktioniert die Verknüpfung mit dem Onlinebereich?
Sentker: Die Neustrukturierung lief von Anfang an unter Einbeziehung der Kolleginnen und Kollegen von ZEIT ONLINE, unsere Zusammenarbeit wird deutlich intensiver werden. Das Themenspektrum des fusionierten Ressorts ist ein viel größeres, wenn man dies in einer großen Redaktionskonferenz verhandeln wollen würde, könnte man den ganzen Tag diskutieren. Deshalb haben wir das Ressort in einer Clusterstruktur mit acht Themenbereichen strukturiert. In diesen Clustern sitzen zum einen die Expertinnen und Experten für das Themenfeld und dann jeweils noch jemand, den wir liebevoll den „Deppen“ nennen, damit es nicht zu fachspezifisch wird. Diese Umstrukturierung wird uns auch bei der Zusammenarbeit mit Online helfen, denn dort war bisher das Problem, dass wir unterschiedliche Ressortstrukturen hatten. Im Gegensatz zu den alten Ressorts passen unsere Cluster nun zu denen der Onlineredaktion. In den Clusterkonferenzen sind die Onliner mit einbezogen und so entsteht eine enge Verknüpfung – übrigens nicht nur zu Online, sondern auch zu unseren Magazinen. Hinzu kommt, dass wir in die Clusterkonferenzen auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ressorts einladen, die mit den Themen zu tun haben. Dadurch erreichen wir eine viel bessere Vernetzung.
Hartung: Das klingt erstmal einfach, es ist aber eine große Veränderung für eine Zeitung. Wir werden dadurch interdisziplinärer, agiler, und die einzelnen Redakteurinnen und Redakteure erhalten durch die Cluster mehr Verantwortung – wenn das gelingt, profitiert die Zeitung insgesamt davon.
Wann ist das Experiment denn aus Ihrer Sicht erfolgreich?
Hartung: Das großartige am Zeitungmachen ist ja, dass es so ein agiler Prozess ist. Wir können uns also ständig und von Ausgabe zu Ausgabe weiterentwickeln. Ich glaube wir müssen beweisen, dass wir dem Versprechen gerecht werden, Aufklärung zu schaffen und Orientierung zu geben. Wir müssen es aus inhaltlicher Sicht schaffen, die Interdisziplinarität der Themen deutlich zu machen, ein noch größeres Spektrum an Themen abzudecken und den eigenen qualitativen Ansprüchen gerecht zu werden.
Sentker: Es gibt aber auch klar messbare Kriterien. Wir wollen weiterhin möglichst viele Titelthemen stellen, da sind wir schon jetzt sehr erfolgreich und so soll es bleiben. Auch Leitartikel zu schreiben, ist für uns wichtig. Darüber hinaus gibt es harte Maßzahlen aus unserem digitalen Abomodell. Hier sieht man ganz klar, welche Artikel Logins und Abos kreieren.
Hartung: Eine weitere Größe ist die Zuneigung unserer Leserinnen und Leser. Damit meine ich sowohl die, die wir neu oder weiterhin begeistern wollen, als auch die, die sich täglich mit Wissenschaft beschäftigen. Deren Rückmeldungen sind für uns sehr wichtig.
Wie läuft die Zusammenarbeit als Doppelspitze?
Hartung: Sehr gut und zwar bereits bevor wir Doppelspitze waren. Wir kennen uns seit über 15 Jahren und haben schon viel zusammengearbeitet. Ich finde eine Doppelspitze kann sehr bereichernd sein, vor allem, wenn man wie wir so unterschiedliche berufliche Hintergründe haben. Andreas‘ Perspektive als Biologe und meine als Historiker ergänzen sich sehr gut.
Ändert sich aus Sicht der Wissenschaftskommunikatorinnen und Wissenschaftskommunikatoren etwas in der Zusammenarbeit mit Ihrem Ressort?
Sentker: Zum einen rücken die Themen der Kommunikatorinnen und Kommunikatoren stärker in das Zentrum der Zeitung. Außerdem wird die Begleitung noch intensiver, da wir mehr Platz haben. Der Stellenmarkt wird darüber hinaus aufgewertet – mit einem intensiveren Blick hinein in die akademische Arbeitswelt. Außerdem glauben wir, dass wir mit den neuen Formaten noch viel besser abbilden können, was in der Wissenschaft passiert und so am Ende mehr Vertrauen in Wissenschaft schaffen.
Hartung: Das Signal einer solchen Investition ist erstmal, dass das Thema Wissenschaft eine große Relevanz hat. Wir werden deshalb viele Themen ganz groß denken und aufbereiten, wie beispielsweise die Wissenschaftsfreiheit. Diese Dimension und die stärkere Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft wird dabei die Hochschule als Debattenraum in den Fokus rücken. Das wird allen nutzen.
Sie sprechen von Vertrauen schaffen, sowohl in Journalismus als auch in die Wissenschaft. Ist das auch eine Reaktion auf Kritik?
Sentker: Ja, die Veränderungen sind auch eine Reaktion auf die Kritik am Journalismus. Sie gehen aber weit darüber hinaus. Es ist vielmehr der Versuch, echte Substanz zu schaffen, in einer Zeit, in der Kommunikation und Berichterstattung immer beiläufiger, schneller und eben ungefilterter werden. Dem wollen wir entgegenwirken.
Hartung: In unserem Verständnis war Wissenschaftsjournalismus noch nie eine Nische, sondern immer zentral und immer politisch. Dieses Verständnis stärken wir durch die Neuerungen und natürlich hoffen wir auch, dass dies Signalwirkung für andere hat.
Sentker: Wir erfinden den Wissenschaftsjournalismus – zumindest den, den wir betreiben – damit nicht neu. Wir haben immer schon interdisziplinär gedacht und nie Hofberichterstattung betrieben, sondern Wissenschaftsjournalismus mit der Betonung auf Journalismus gemacht. Aber wir lernen beständig dazu. Daraus resultiert eine noch größere journalistische Strenge, was beispielsweise die Differenzierung zwischen Formaten angeht. Wir machen nach außen viel deutlicher, was wir tun und was unsere journalistischen Grundsätze sind.