Ein Besuch im Gießener Mathematikum ermöglicht es, Mathematik bunt und experimentell zu erleben. Im Interview berichtet der Gründer Albrecht Beutelspacher von den Ursprüngen und Zielen des Mitmachmuseums sowie seinen Erfahrungen in der Wissenschaftskommunikation.
Mathematik zum Anfassen
Herr Beutelspacher, auf welche Art versucht das Mathematikum, Mathematik zu visualisieren und erlebbar zu machen?
Das Stichwort lautet: interaktive Experimente. Wir versuchen mit unseren Experimentierstationen das Publikum so direkt wie möglich an ein mathematisches Phänomen heranzuführen. Die Schwelle ist von uns bewusst so niedrig wie möglich gehalten, sodass jeder und jede gerne anfängt zu experimentieren. Nach einer gewissen Zeit erscheint eine Hürde, wodurch die Besucherinnen und Besucher realisieren, dass es doch viel schwieriger ist als gedacht. In diesen Situationen entsteht automatisch Kommunikation über Mathematik zwischen ihnen.
Das Mathematikum ist das erste Museum dieser Art. Was hat Sie inspiriert, solch ein Mitmachmuseum zu eröffnen?
Eigentlich hatte ich gar nicht die Absicht, ein Museum zu gründen. Als Professor an der Uni Gießen habe ich immer wieder Neues ausprobiert. Dazu gehörte ein Seminar, bei dem Studierende ein reales Modell eines geometrischen Objektes konstruieren und die dazugehörige Mathematik erklären sollten. Sie haben unglaublich gute Modelle gebaut, viel nachgedacht und super Erklärungen gefunden. Es war eine Begeisterung zu spüren wie in keiner Vorlesung zuvor. Wir entschieden, dass mehr Leute diese Modelle sehen müssen und haben eine Ausstellung auf die Beine gestellt und Schulklassen eingeladen. Damit waren wir sehr erfolgreich und plötzlich haben Kollegen aus anderen Städten angerufen und ihr Interesse an der Ausstellung bekundet. So kam es zur Idee, etwas Dauerhaftes zu machen.
Wen wollen Sie erreichen ?
Unser Anspruch ist es, alle zu erreichen, insbesondere Menschen jeden Alters und mit jedem Bildungshintergrund. Angefangen bei Leuten, die zum Beispiel kein Deutsch können, über jene, die vielleicht in der Schule schlechte Erfahrungen mit Mathematik gemacht haben, bis hin zu Mathematikstudierenden. Der Schlüssel dazu ist etwas, was in der didaktischen Fachsprache „natürliche Differenzierung“ heißt. Das bedeutet, dass die Objekte, Phänomene oder Experimente bei uns auf ganz unterschiedliche Art und Weise genutzt werden können. Man kann also auf verschiedenen Ebenen wirklich etwas davon haben und mit den Erkenntnissen weiterarbeiten. Beim Alter müssen wir natürlich gewisse Abstriche machen. Trotzdem versuchen wir auch die Drei- bis Achtjährigen mit unserem „Mini-Mathematikum“ zu erreichen. Es sind tolle Experimente mit dem gleichen Anspruch wie in den Abteilungen für die Großen: direkten Zugang zu mathematischen Phänomenen schaffen. Das funktioniert auch sehr gut.
Und was mögen Ihre Besucherinnen und Besucher besonders gern?
Allgemein kommt es darauf an, wie man die Menschen anspricht. Meist möchten sie selbst entscheiden, welches Experiment sie machen, wie lange sie sich damit beschäftigen und wie tief sie einsteigen. Natürlich gibt es auch inhaltliche Favoriten. Das Highlight ist die große Seifenhaut – man steht in einem Ring, zieht an einer Schnur den Ring um sich hoch und steht plötzlich mitten in einer großen Seifenblase. Aber es gibt auch viele Besucher, die eher Konzentrations- oder Geduldsspiele mögen.
Sie vermitteln Mathematik auch außerhalb des Mathematikums mit verschiedensten Formaten. Welches liegt Ihnen am meisten?
Ich schreibe sehr gerne Bücher, habe in den letzten Jahren aber auch sehr gute Erfahrungen mit einem Audio-Format des Hessischen Rundfunks gemacht. Als die Redakteurin mich zum ersten Mal ansprach, habe ich mich gefragt, wie das gehen soll. Wann immer wir Mathematik populär darstellen wollen, arbeiten wir mit Bildern, mit Zeichnungen oder Fotos und müssen die Formeln daher nicht detailliert erklären. Nur wie geht das ausschließlich verbal? Es klappt über Geschichten. Ich hab meist von einem Mathematiker erzählt und bin darüber zu Themen wie Unendlichkeit, Abzählbarkeit oder der Lösbarkeit von Gleichungen gekommen. Das hat mir richtig Spaß gemacht.
Haben Sie denn auch eine Zielgruppe, mit der Sie am liebsten arbeiten?
Zwei sehr unterschiedliche. Zum einen Kinder, für die ich häufig Kindervorlesungen halte. Eigentlich ist es eher ein Gespräch, bei dem wir auch zusammen Objekte bauen oder Experimente machen. Und dann gibt es eine weitere sehr dankbare Gruppe, und das sind ältere Menschen. Wir haben für sie sogar ein neues Format entwickelt, was sehr erfolgreich ist: „Mathematik bei Kaffee und Kuchen“. Dann sitzen die Besucherinnen und Besucher und ich gemeinsam beim Kaffeekränzchen am Tisch und diskutieren über ein vorher definiertes Thema. Das ist jedes Mal eine Herausforderung, macht aber viel Spaß.
Hat denn Ihr Engagement in der Wissenschaftskommunikation auch Ihre Arbeit als Wissenschaftler beeinflusst?
Also sicher meine Arbeit als akademischer Lehrer. Denn die Frage, die man sich stellen muss, wenn man mit Kindern oder Laien über Mathematik redet, ist ja: Kannst du es noch einfacher sagen? Kannst du das Wesentliche noch besser ausdrücken? Diese Fragen sind auch für die normalen Vorlesungen unglaublich wichtig und ich bin überzeugt, dass meine Vorlesungen an Qualität gewonnen haben – allein dadurch, dass ich mir im Vorfeld diese Fragen gestellt habe.
Als Forscher hat mich die Haltung, die wir im Mathematikum haben, bereichert: Wir versuchen immer, sehr grundsätzlich nachzudenken, wenn wir eine Ausstellung oder ein Exponat gestalten, so als hätten wir keine finanziellen oder zeitlichen Beschränkungen. Kompromisse machen wir erst anschließend. Ganz grundsätzlich nachzudenken, hat auch sehr viel mit guter Forschung zu tun, nämlich dass ich nicht versuche, ein Paper zu schreiben um des Publizierens Willen, sondern dass ich versuche, einer Frage richtig auf den Grund zu gehen. Und auch, wenn ich sie dann nur teilweise beantworten kann, ist es für mich, aber auch für die Community gut, diese Fragen überhaupt einmal gestellt zu haben.
Als Anerkennung für Ihre Kommunikation haben Sie den ersten Communicator-Preis erhalten, danach folgten weitere Auszeichnungen und Ehrungen. Hat Sie das motiviert, um weiter und mehr zu kommunizieren?
Absolut! Der Communicator-Preis ist natürlich das Größte, was es überhaupt gibt. Und ich glaube, das Mathematikum gäbe es nicht ohne diesen Communicator-Preis. Durch ihn war klar, dass das Mathematikum nicht nur die Idee irgendeines Provinzprofessors ist. Meine Ansätze wurden vielmehr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Stifterverband abgesegnet und in einer großartigen Feier gewürdigt. Er hat mir persönlich unglaublich viel gebracht, aber noch mehr für die Institution. Ich nehme Preise natürlich als Anerkennung wahr, aber auch als Ansporn, auf diesem Weg weiterzumachen und neue, mutige Gedanken zu haben, denen auch Taten folgen.
Welchen Tipp würden Sie jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geben, die andere Menschen für ihr Fachgebiet begeistern wollen?
Wichtig ist auf jeden Fall die Wissenschaft selbst – man muss auch mal sozusagen „an der Front“ gewesen sein, die Freuden und Enttäuschungen der Forschung mitbekommen haben. Außerdem sollte man zwar versuchen, Wissenschaft zu kommunizieren, aber man muss auch rechtzeitig aufhören können. Im Mathematikum ist die Versuchung groß, begeisterten Besucherinnen und Besuchern direkt noch die Differenzialgleichung zum Exponat zu erklären. Das ist absolut kontraproduktiv. Natürlich kann man ihnen etwas erklären oder mit ihnen Dinge diskutieren, aber da muss man den Punkt finden, aufzuhören. Sie wollen ja nicht Mathe studieren, sondern kommen als Privatpersonen am Sonntagnachmittag. Wenn man das richtig macht, dann gibt es eine unglaubliche Anerkennung, eine Art Wärmestrom, der zurückkommt – viel mehr, als man das aus der wissenschaftlichen Arbeit kennt.
Eines Ihrer Mottos lautet „Mathe macht glücklich“. Warum macht Sie denn die Wissenschaftskommunikation glücklich?
Es ist einfach unglaublich toll, welche Rückmeldungen man bekommt. Wenn ich irgendwo einen Vortrag halte, kommt in der Regel immer jemand zu mir und erzählt mir, dass er ohne mein Buch sein Mathestudium aufgegeben hätte. Oder wenn ich am Wochenende hier im Mathematikum bin, kommt ein älteres Semester zu mir und schwärmt: „Wenn ich doch nur so einen Matheunterricht gehabt hätte!“ So wusste ich nach einer gewissen Zeit, dass ich auf einem richtigen Weg bin und es sich lohnt, meine Kräfte, Energie und Ideen zu investieren, weil das offenbar ein Weg ist, der bei den Menschen ankommt.