71 % der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt und viele Mechanismen und Spezies darin noch zu erforschen. Dafür wollen Wissenschaftler künftig auf die Mithilfe der Bevölkerung setzen. Wie genau? Die Arbeitsgruppe Citizen Science des European Marine Board (EMB) stellt dazu eine Strategie vor. Oliver Zielinski, ein Mitglied der Arbeitsgruppe, erklärt sie im Interview.
Marine Citizen Science – Partizipation mit und ohne Tauchschein
Herr Zielinski, das EMB bezeichnet sich selbst als Think Tank zur Meeresforschungspolitik. Was sind seine Ziele?
Das EMB setzt sich zusammen aus verschiedenen nationalen Institutionen und ist ein übergeordneter Verein von Meeresforschungseinrichtungen. Für Deutschland ist das Konsortium Deutsche Meeresforschung Mitglied des EMB, und vertritt die deutschen Forschungseinrichtungen. Man kann das EMB also als Interessenvereinigung auf europäischer Ebene bezeichnen. Ziel ist es, wichtige Themen der Meeresforschung aufzugreifen und diese dann in die politische Diskussion einzubringen – zum Beispiel mit dem neuen Policy Brief Marine Citizen Science: Towards an engaged and ocean literate society . Wenn es funktioniert, fließen diese Themen in Strategien und Ausschreibung der Europäischen Union ein. Ein anderes Medium ist der European Maritime Day, bei dem Wissenschaftler und Bürger mit Politikern diese Themen diskutieren und der jedes Jahr in einem anderen Land stattfindet.
Überfischung, Wasserverschmutzung oder Rohstoffabbau in der Tiefsee – diesen Umweltproblemen sollen mit Ocean Literacy begegnet werden, die Bürger durch Citizen-Science-Projekte erwerben sollen. Was kann Marine Citizen Science (MSC) noch erreichen?
Auf die Probleme im Meer aufmerksam zu machen, also das Wissen über das Meer und damit die Ocean Literacy zu fördern, ist nur eines der Ziele von Marine Citizen Science. Anstatt vom hohen Turm zu erzählen, wie der Ozean funktioniert, werden die Menschen direkt in die Forschung einbezogen und können so viel mehr erfahren. Ein zweites Ziel ist es, mehr Daten zu gewinnen, die für die Forschung genutzt werden können. Doch es gibt noch einen dritten Aspekt: Über das reine Crowd-Sourcing geht hinaus, was im Englischen Participatory Science genannt wird. Die Menschen nehmen auch an der inhaltlichen Diskussion teil, zum Beispiel dazu, welche Aspekte erforscht werden können und wie man Methoden verbessern kann. Damit können wir ein höheres Level der Citizen Science erreichen. Denn auch wir als Forscher können vom Wissen der Bürger und deren Ideen nur profitieren. Nach meiner Erfahrung bekommt man besonders wertvolle Anregungen von Menschen, die einen besonderen Bezug zum Meer haben, weil sie am Strand wohnen und das Meer jeden Tag sehen oder im Hobbybereich mit dem Meer zu tun haben. Ich forsche zum Beispiel auch in Grönland und frage dort zuerst den Fischer, worauf ich achten sollte.
Wie findet man als interessierter Bürger ein MCS-Projekt? Und kann auch mitmachen, wer in Oberbayern wohnt?
Zum Beispiel auf dem Portal Bürgerschaffenwissen.de. Da kann man nach Themen sortieren und Projekte mit Meeresbezug finden. Oder im Positionspapier des EMB, in dem wir einige Projekte auflisten und beschrieben. Es stimmt natürlich, dass man sich an vielen dieser Projekte nur beteiligen kann, wenn man direkt am Meer ist. Doch es gibt auch Gewässerprojekte, die an Flüssen und Seen forschen.
Beim Ocean Sampling Day konnten sich Bürger beispielsweise an jedem Fluss beteiligen, der in die deutsche Nord- oder Ostsee fließt. Mit der App „Eye on Water“, eines meiner Projekte, können sich aber auch Menschen an der Forschung beteiligen, die nur zum Urlaub am Meer sind. Hier wird ein Foto vom Wasser geschossen, zum Beispiel beim Fähre fahren, und dann können wir anhand einer Farbskala die Art und Menge der Inhaltsstoffe im Wasser bestimmen. So sehen wir, ob zum Beispiel viele Algen vorkommen oder Sedimente angespült werden.
Wir haben in dem Positionspapier auch festgestellt, dass viele Projekte der MCS in Wirklichkeit Küstenprojekte sind. Thiel et al. (2014) haben dazu 227 Projekte untersucht und 94 % davon waren Projekte, die am Strand oder in der Nähe der Küste durchgeführt werden und nur 6 % Projekte, die tatsächlich auf dem offenen Meer stattfinden. Bisher werden eher Quallen am Strand gezählt, Verschiebungen von Küstenlinien beobachtet oder Müll analysiert. Hier möchten wir gerne bessere Rahmenbedingungen schaffen, um MCS-Projekte auf das Meer auszuweiten.
Gibt es für MSC-Projekte zentrale Unterstützung und Kontakte zu Institutionen wie dem Fischerei- und Angelverband?
Die Projekte knüpfen da meist individuell ihre Kontakte. Für „Eye on Water“ haben wir zum Beispiel Kontakt zu den Sportbootfahrern und den Seekajakfahrern aufgenommen, die sogar auf europäischer Ebene organisiert sind. Dabei wäre es wichtig, die Erfahrungen zu teilen und bestehende Netzwerke und Technologien für andere Forschungsprojekte verfügbar zu machen. Darauf müssen wir hinarbeiten. Wenn ich als Wissenschaftler eine tolle Citizen-Science-Idee habe, muss ich bisher ganz vorne anfangen und tappe dabei in jede Falle. Was ist Citizen Science? Wie erreiche ich die Bürger? Wie halte ich sie bei der Stange? Wie baue ich eine App? Wie muss ich sie pflegen? Das dauert zu lange, verbraucht viel Energie und bleibt deswegen manchmal auf der Strecke.
Ein langfristiges Ziel soll deshalb sein, ein Kompetenzzentrum an einer Universität einzurichten. Das kann auch interdisziplinär sein, nicht nur für die Meeresforschung, und auf nationaler oder internationaler Ebene arbeiten. Die Frage ist, wer das finanziert. Hier geht es nicht um die Förderung von Einzelprojekten. So ein übergeordnetes Kompetenzzentrum kann vielen Projekten Starthilfe zu geben, Werkzeuge bereitstellen und bei der Erstellung von Datenbanken und Apps unterstützen.
Am Ende des Briefings fordern Sie mehr Unterstützung der MCS durch die Politik. Was wünschen sie sich hier konkret?
Da haben wir national und international Bedarf. Man kann zum Beispiel Förderung für Citizen Science beim Bundesministerium für Bildung und Forschung beantragen. Die reicht aber nicht aus. Das Ministerium hat hier zuletzt 13 von 300 eingereichten Projekte gefördert.
Ein Positivbeispiel ist Österreich: Sie haben mit der Initiative Top Citizen Science bereits eine nationale Plattform und verfolgen damit die Verbindung von Citizen Science und Schulen. Hierfür haben sie extra ein Büro eingerichtet, das praktisch unterstützt, aber auch mit Geld fördert. Forscher können, wenn sie ein Projekt haben, noch on top, deshalb Top Citizen Science, ein Bürgerwissenschaftsprojekt draufsetzen und damit zusätzliche Daten sammeln bzw. Bürger einbinden. Bürgerschaffenwissen.de ist auch eine tolle Plattform, die die Projekte vernetzt, aber hier kann man keine Mittel beantragen.
Was sind die nächsten Schritte?
Auf europäischer Ebene hat das EMB Kontakt zu Politikern und Ausschüssen und gibt auch die entsprechenden Pressemitteilungen heraus. Das Konsortium Deutsche Meeresforschung hat es auch an entsprechende Politiker übergeben und mit Bundestagsabgeordneten gesprochen. Hier warten wir noch die Koalitionsverhandlungen ab, um an die entsprechenden Fachpolitiker heranzutreten. Außerdem streben wir ein Regelwerk, Leitlinien und langfristig eine zentrale europäische Plattform für Projekte der MCS an. Das muss aber zuerst politisch unterlegt werden, damit es eine Ausschreibung dafür geben kann.
Wir müssen aber auch als Wissenschaftler bei den Kollegen für MCS werben, um Vorurteile abzubauen und Potenziale aufzuzeigen. Vorurteile sind zum Beispiel, dass Forschende die Qualität der Daten anzweifeln. Man gibt natürlich ein Stück weit die Kontrolle an die Bürger ab, die Beobachtungen machen und Proben nehmen. Mit diesem Gefühl muss man umgehen. Auf der anderen Seite bekommt man viel mehr Daten, was statistisch gesehen ein großer Gewinn ist. Ein Fehler wird über die Zahl der Messungen reduziert. Ich kann also als hoch ausgebildeter Wissenschaftler an einem Ort eine präzise Beobachtung machen, oder 1.000 Bürger beobachten 1.000 Orte, die ich vielleicht selbst nie erreicht hätte.
Das Strategiepapier „Policy Brief Marine Citizen Science: Towards an engaged and ocean literate society“ ist die Kurzfassung eines 114-seitigen Positionspapieres der Arbeitsgruppe Citizen Science des European Marine Board. Die Publikation mit dem Titel „Advancing Citizen Science for Coastal and Ocean Research“ wurde im Mai herausgegeben. |