Foto: Petri Heiskanen

Kurz vorgestellt: Neues aus der Forschung im Oktober 2023

Wie berichten deutsche Medien über die Suche nach außerirdischem Leben? Welche Arten von Stigmatisierungen zu  Gesundheitsthemen finden sich auf X/Twitter? Und wann engagieren sich Menschen in Klimaprotesten? Das sind Themen im Forschungsrückblick für den Oktober.

In unserem monatlichen Forschungsrückblick besprechen wir aktuelle Studien zum Thema Wissenschaftskommunikation. Diese Themen erwarten Sie in der aktuellen Ausgabe:

  • Welche Faktoren tragen dazu bei, dass sich Menschen an Klimaprotesten beteiligen? Jagadish Thaker hat Daten über Einstellungen zum Klimawandel aus 110 Ländern verglichen.
  • Wie wird in deutschen Medien über die Suche nach außerirdischem Leben berichtet? Forscher*innen der Technischen Universität Ilmenau haben drei dominante Frames identifiziert.
  • HIV, Essstörungen oder Diabetes: Welche Formen von gesundheitlicher Stigmatisierung und Anti-Stigmatisierung finden sich auf Social Media? Forscher*innen haben Diskurse auf X/Twitter analysiert.
  • In der Rubrik „Mehr Aktuelles aus der Forschung“ geht es unter anderem um „Dark Citizen Science“, ein Zombie-Outdoor-Escape-Spie und Gesundheitsthemen auf Netflix.

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Was motiviert zu Klima-Protesten?

Was bekommen Menschen über Medien und persönliche Gespräch vom Klimawandel mit? Wie schätzen sie dessen Gefahren für sich persönlich und zukünftige Generationen ein? Würden sie an Protestbewegungen teilnehmen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat Jagadish Thaker von der University of Auckland dazu unter anderem Daten aus 110 Ländern verglichen.

Methode: Thaker verwendete Daten aus einer im Frühjahr 2022 durchgeführten Online-Umfrage des Yale Program on Climate Change Communication in Zusammenarbeit mit Data for Good at Meta, an der 108.946 erwachsene Facebook-Nutzer*innen aus 110 Ländern teilgenommen haben. Das Bewusstsein für den Klimawandel wurde gemessen, indem die Teilnehmer*innen auf einer Skala angaben, wie viel sie über den Klimawandel wissen. Sie wurden gefragt, wie oft sie im täglichen Leben über die Medien oder persönliche Gespräche vom Klimawandel hören und wie hoch sie ihre persönlichen Risiken und die künftiger Generationen durch den Klimawandel einschätzen. Auch sollten sie angeben, wie wahrscheinlich es ist, dass sie einer Gruppe beitreten würden, die Staats- und Regierungschefs davon überzeugen will, Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels zu ergreifen.

Außerdem wurden mehrere Kontextfaktoren in die Analyse einbezogen, darunter das Bruttoinlandsprodukt, der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid pro Kopf und der Global Climate Risk Index 2021 von Germanwatch, der anzeigt, inwieweit Länder und Regionen von klimabedingten Ereignissen wie Stürmen, Überschwemmungen und Hitzewellen betroffen sind. Daten zur Medienberichterstattung über den Klimawandel wurden vom Media and Climate Change Observatory (MeCCO) an der University of Colorado Boulder abgerufen.

Ergebnisse: Eine Mehrheit der Befragten in Afrika und Südamerika gab an, dass der Klimawandel ihnen persönlich „großen Schaden“ zufügen werde. Während dies in Malawi 62 Prozent, Chile 61 und in Mexiko 59 Prozent sagten, waren es beispielsweise in Tschechien drei und in Norwegen fünf Prozent. Befragte in afrikanischen Ländern wie Sambia (75 Prozent) und Malawi (74 Prozent) gaben auch am häufigsten an, dass sie sich in einer Klima-Protest-Gruppe engagieren oder engagieren wollen. In reichen europäischen Ländern wie Finnland, den Niederlanden, Schweden und Norwegen gaben nur zehn Prozent der Befragten an, bei einer solchen Gruppe mitzuwirken oder mitwirken zu wollen.

Menschen, die häufig in Kontakt mit Informationen zum Klimawandel kamen, hatten ein höheres Bewusstsein für das Phänomen, aber weniger die Absicht, sich an Protestbewegungen zu beteiligen.
Die Berichterstattung über den Klimawandel war in Annex-1-Ländern höher als in anderen Ländern. Der Begriff Annex-1-Länder bezeichnet 43 Industrieländer und einige Volkswirtschaften im Übergang zur Industrienation. Im Durchschnitt erschienen in diesen Ländern 88 Artikel zum Klimawandel pro Monat, in anderen Ländern 19.

Menschen, die häufig in Kontakt mit Informationen zum Klimawandel kamen, hatten ein höheres Bewusstsein für das Phänomen, aber weniger die Absicht, sich an Protestbewegungen zu beteiligen. Diese Menschen sahen nicht unbedingt eine größere Gefahr des Klimawandels für sich selbst, jedoch für künftige Generationen.

In der Analyse einer Teilgruppe von Ländern, in der Daten zur Medienberichterstattung verfügbar waren, zeigte sich, dass in Ländern mit mehr Berichterstattung zum Thema das Bewusstsein für persönliche und zukünftige Risiken nicht höher war. In Annex-1-Ländern und Ländern mit hohen CO2-Emissionen wurden die persönlichen Risiken als geringer eingestuft. In Ländern, die stärker von klimabedingten Wetterereignissen betroffen sind, war der Prozentsatz derjenigen Befragten höher, die den Klimawandel als persönliches Risiko sehen.

Nur ein als höher wahrgenommenes Risiko für die persönlichen Gefahren war mit einer stärkeren Absicht zur Teilnahme an Protesten verbunden. Mehr Informationen, größeres Bewusstsein für den Klimawandel und die damit verbundenen zukünftigen Risiken waren hingegen nicht mit einem stärkeren Wunsch verknüpft, sich an Protestbewegungen zu beteiligen.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen in ärmeren Ländern aufgrund geringerer Berichterstattung weniger Möglichkeiten haben, sich über den Klimawandel zu informieren. Das erklärt, warum die Befragten in Industrienationen aussagen, sie seien häufiger mit Informationen über den Klimawandel konfrontiert und hätten ein stärkeres Bewusstsein dafür. Allerdings führt eine stärkere Berichterstattung laut der Ergebnisse nicht dazu, dass die Wahrnehmung der Risiken steigt und Menschen sich stärker an Protesten beteiligen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Berichterstattung zwar Bewusstsein für den Klimawandel an sich schafft, aber nicht für dessen Risiken, was die eigene Person und zukünftige Generationen betrifft. Möglicherweise berichten Medien in Industrienationen über den Klimawandel als zeitlich und räumlich weit entferntes Phänomen. Eine andere Erklärung könnte sein, dass einige Menschen bereits unter einer gewissen „Nachrichtenmüdigkeit“ leiden, was die Berichterstattung über den Klimawandel angeht. Möglich wäre auch, dass Leser*innen den Berichten über die Auswirkungen des Klimawandels keinen Glauben schenken – oder denken, Industrienationen hätten die Mittel, um damit fertigzuwerden.

Es hat sich gezeigt, dass nur ein hohes wahrgenommenes persönliches Risiko mit einer hohen Absicht zur Teilnahme an Protesten verbunden war. Dieses ist in Nicht-Annex-1-Staaten höher. Das legt nahe, dass Menschen das Gefühl von persönlicher Bedrohung haben müssen, um sich an Protestbewegungen zu beteiligen.

Die Ergebnisse sind laut des Autors auch deshalb interessant, weil sich gerade in Ländern, in denen viel über die Klimaproteste rund um Fridays for Future berichtet wird, besonders wenig Neigung zu Protestbewegungen zeigt. Eine mögliche Erklärung sei, dass in Industrieländern Menschen eher andere Formen der demokratischen Beteiligung nutzen.

Einschränkungen: Eine Einschränkung der Studie ist, dass keine Aussagen über die individuelle Ebene getroffen werden können. Auch wird nur ein Teil der Faktoren einbezogen, die möglicherweise einen Einfluss auf die Einstellungen zum Klimawandel haben können, darunter beispielsweise das Bildungsniveau.

Thaker, J. (2023): Cross-Country Analysis of the Association between Media Coverage and Exposure to Climate News with Awareness, Risk Perceptions, and Protest Participation Intention in 110 Countries, Environmental Communication, DOI: 10.1080/17524032.2023.2272299

Über die Suche nach außerirdischem Leben

Nicht nur in der Science-Fiction-Literatur, auch in der Forschung und journalistischen Berichterstattung spielt die Suche nach außerirdischem Leben („search for extraterrestrial life, SETL“) eine Rolle. Gerade in Deutschland, wo die Astrobiologie noch ein junges Feld sei, könnten die Medien einen enormen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung, die Akzeptanz und Unterstützung dieser kostenintensiven Forschung haben, schreiben Andreas Schwarz und Eva Seidl von der Technischen Universität Ilmenau. Um zu untersuchen, welche Themen, Akteur*innen und Bewertungen dabei dominieren, haben die beiden Forscher*innen die Berichterstattung deutscher Online-Medien über die Suche nach außerirdischem Leben untersucht.

Methode: Um ihre Fragen zu beantworten, führten die Forscher*innen eine Inhaltsanalyse von fünf deutschen Online-Medien durch: tagesschau.de, Spiegel online, t-online, Focus online und Bild.de. Mithilfe von Schlüsselwörtern wie „außerirdisches Leben“, „SETI „(„search for extraterrestrial intelligent life“) oder „Astrobiologie“ suchten sie relevante Artikel, die zwischen 2009 bis August 2022 erschienen sind. Sie untersuchten daraufhin eine Stichprobe von 272 Artikeln, um dominante Frames zu identifizieren. Dabei bezogen sie sich auf die Frame-Definition von Entman1, nach der Journalist*innen bestimmte Themen rahmen, indem sie einige Aspekte einer wahrgenommenen Realität auswählen und stärker hervorheben, um (1) eine bestimmte Problemdefinition, (2) eine kausale Interpretation, (3) eine moralische Bewertung und/oder (4) eine Handlungsempfehlung zu transportieren. Matthes und Kohring2 haben einen operativen Ansatz entwickelt, um diese vier Framing-Dimensionen zu messen. Für den Aspekt der „Problemdefinition“ etwa kodierten die Forscher*innen nach diesem Ansatz die Hauptthemen der einzelnen Artikel, die Hauptakteur*innen sowie die wichtigste wissenschaftliche Disziplin, auf die Bezug genommen wurde. Für die Kausalinterpretation wurden beispielsweise Nutzen- und Risikozuschreibungen betrachtet.

Ergebnisse: Die meisten der Artikel wurden auf Focus Online (35 Prozent) veröffentlicht, gefolgt von Bild.de (25 Prozent), Spiegel Online (23 Prozent) und ARD-Aktuell/Tagesschau.de (2 Prozent). Insgesamt war die Anzahl der Artikel überschaubar, aber es wurde regelmäßig über das Thema berichtet – mit Spitzenwerten in den Jahren 2015 und 2017. Die häufigsten Themen waren Diskussionen über die mögliche Existenz von außerirdischer Intelligenz (18 Prozent), neue Forschungsarbeiten oder wissenschaftliche Veröffentlichungen (17 Prozent), die Beobachtung außerirdischer Signale (17 Prozent), die Entdeckung neuer Planeten (14 Prozent) und die Sichtung unbekannter Luftphänomene oder Flugobjekte (10 Prozent). Im Durchschnitt war die Suche nach intelligentem Leben relevanter als die Suche nach nicht-intelligentem Leben.

Die Europäische Weltraumorganisation ESA (8 Prozent) oder ihr deutsches Pendant, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (2 Prozent) wurden nur selten erwähnt.
Erwähnt oder zitiert wurden überwiegend Wissenschaftler*innen oder wissenschaftliche Einrichtungen. Fast ein Drittel der Artikel bezog sich auf die NASA, die Zivilgesellschaft oder das SETI-Institut, eine Non-Profit-Nichtregierungsorganisation, die sich mit der Suche nach intelligentem außerirdischem Leben befasst. Die Europäische Weltraumorganisation ESA (8 Prozent) oder ihr deutsches Pendant, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (2 Prozent) wurden nur selten erwähnt. Stephen Hawking wurde häufig (10 Prozent) als einzelner prominenter Wissenschaftler genannt. Explizit genannte wissenschaftliche Disziplinen waren Astronomie (46 Prozent), Astrophysik (19 Prozent), Astrobiologie (9 Prozent), Sozialwissenschaften (5 Prozent) und Luft- und Raumfahrttechnik (0,7 Prozent).

Es überwog die Erwähnung von Vorteilen gegenüber den Risiken bei der Suche nach außerirdischem Leben. Intelligentes Leben zu entdecken wurde häufiger als wahrscheinlich (24 Prozent) denn als unwahrscheinlich (15 Prozent) bewertet. Dass nicht-intelligentes Leben gefunden werden wird, wurde in 18 Prozent der Artikel wahrscheinlich und in drei Prozent als unwahrscheinlich bezeichnet.

Mithilfe der Clusteranalyse identifizierten die Forscher*innen drei dominierende Frames:
(1) Nützliche Weltraumforschung (36 Prozent)

  • Betont wird die Suche nach nicht-intelligentem Leben. Vor allem werden wissenschaftliche Quellen und Universitäten zitiert und die positiven Aspekte von SETI hervorgehoben.

(2) Unbekannte Luftphänomene (UAP)/außerirdische Intelligenz (ETI)(36 Prozent)

  • Im Gegensatz zum ersten Frame sind die Bewertungen ambivalenter. Statt wissenschaftlicher Akteur*innen spielt die US-Regierung eine größere Rolle.
  • Außerdem wird stärker über die Existenz intelligenten außerirdischen Lebens, unbekannter Luftphänomene und Flugobjekte spekuliert.

(3) Risiken der Suche nach außerirdischem Leben (SETI)

  • Im dritten Frame werden das SETI-Institut, Universitäten, die Zivilgesellschaft und Stephen Hawking als Hauptakteur*innen genannt. Gesellschaftliche Risiken werden stärker betont als in den beiden anderen Frames.
  • Sozialwissenschaften wurden insgesamt selten genannt, erschienen aber am häufigsten in diesem Frame.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen, dass in der Berichterstattung über die Suche nach außerirdischem Leben ein breites Spektrum an Themen behandelt wurde und sich die Journalist*innen vorwiegend auf seriöse wissenschaftliche Einrichtungen als Quellen stützten. Zwar war der Tenor insgesamt positiv, es wurden aber auch Risiken erwähnt. Das bewerten die Forscher*innen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation positiv, da dadurch ein Beitrag zur Meinungsbildung geleistet werde, öffentliches Bewusstsein geschaffen und Interesse geweckt werden könne.

Es zeigt sich auch, dass die NASA und das SETI-Institut einen erheblichen Einfluss auf den Gesamtdiskurs über SETL haben. Die ESA und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hingegen kommen in der Stichprobe praktisch nicht vor. Aus Sicht der Öffentlichkeitsarbeit sei das ein enttäuschendes Ergebnis, schreiben die Autor*innen. Es sei unklar, ob dies auf einen Mangel an institutioneller Kommunikation seitens der ESA und des DLR oder auf redaktionelle Entscheidungen zurückzuführen sei.

Stephen Hawkings Warnungen vor den potenziell negativen Folgen einer Begegnung oder eines Kontakts mit einer außerirdischen Intelligenz spiegeln sich im dritten Frame.
Im Gegensatz zur Astronomie und Astrophysik wird die Astrobiologie selten erwähnt. Zwar bezeichneten viele SETI-Forscher ihr Gebiet als einen Zweig der Astrobiologie, das spiegele sich in den Medien jedoch noch nicht wider, schreiben die Forscher*innen.

Die Inhalte des zweiten identifizierten Frames wiesen darauf hin, dass SETI-Forschung immer noch mit unseriösen Debatten etwa um die Sichtung von UFOs und Entführungen durch Außerirdische verwechselt werde.

Es sei bemerkenswert, dass sich der Diskurs um die Risiken von SETI nicht nur auf sozialwissenschaftliche Quellen stütze, sondern stark von einer einzelnen Person, Stephen Hawking, geprägt wurde. Seine Warnungen vor den potenziell negativen Folgen einer Begegnung oder eines Kontakts mit einer außerirdischen Intelligenz spiegeln sich im dritten Frame. Das deute auf den großen Einfluss einzelner prominenter Wissenschaftler*innen im Mediendiskurs hin, schreiben die Forscher*innen. Für die Wissenschaftskommunikation im SETI-Bereich sei der Risikodiskurs ein zweischneidiges Schwert. Einerseits errege er Aufmerksamkeit und sei aus Sicht der Risikokommunikation sinnvoll. Andererseits könne das zu Angst und Ablehnung der Forschung führen.

Einschränkungen: Zukünftige Forschungen sollten weitere Medienquellen wie Wissenschaftsmagazine, Fernsehsendungen, Blogs, soziale Netzwerke oder Videoplattformen analysieren. Darüber hinaus ist mehr länderübergreifende Vergleichsforschung erforderlich, um die öffentlichen Diskurse zur Suche nach außerirdischem Leben zu vergleichen.

Schwarz, A., & Seidl, E. (2023). Stories of Astrobiology, SETI, and UAPs: Science and the Search for Extraterrestrial Life in German News Media From 2009 to 2022. Science Communication, 0(0). https://doi.org/10.1177/10755470231206797

Gesundheitliche Stigmatisierung auf Twitter

Stigmatisierung kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken – beispielsweise, indem sie Menschen davon abhält, ärztlichen Rat zu suchen. Welche Rolle spielen dabei negative Bemerkungen auf X/Twitter? Richard Brown, Elizabeth Sillence, Dawn Branley-Bell und Claire Murphy-Morgan von der Northumbria University haben zusammen mit Lynne Coventry von der Abertay University und Abigail C. Durrant von der Newcastle University Tweets zu fünf verschiedenen gesundheitlichen Themen daraufhin untersucht, ob sie zur Stigmatisierung beitragen.

Methode: Die Forscher*innen extrahierten im Zeitraum von März bis Mai 2022 1.841.375 englischsprachige Tweets, die sich auf fünf unterschiedliche gesundheitliche Themen beziehen: HIV und AIDS (568.632 Tweets), Diabetes (496.614 Tweets), Essstörungen (197.682 Tweets), Alkoholismus (339.391 Tweets) und Substanzgebrauchsstörungen (239.056 Tweets). Diese fünf Themen wurden ausgesucht, weil sie häufig mit dem Lebensstil von Menschen in Zusammenhang gebracht werden und die vermeintliche Kontrollierbarkeit Anlass für Stigmatisierungen sein kann. Im ersten Schritt kodierten die Forscher*innen eine zufällig ausgewählte Teilmenge von 1500 Tweets manuell nach folgenden Stigma-Typen: „Markierungen“ (sichtbare Merkmale, mit denen Mitglieder einer bestimmten Gruppe identifiziert werden können), „Labels“ (Begriffe, die zur Bezeichnung einer Gruppe verwendet werden), „Verantwortung“ (Handlungsfähigkeit und Wahlmöglichkeit als Grundlage für Schuldzuweisungen) und „Gefahr“ (Bedrohungen für die Gemeinschaft), „Beleidigungen“, „Unterhaltung“ sowie „Anti-Stigma und Beratung“.

Von den manuell kodierten Tweets wurden 43 Prozent als nicht potenziell stigmatisierend eingestuft, 21 Prozent fielen in die Kategorie „Anti-Stigma oder Ratschläge“.
Zweitens führten die Forscher*innen eine automatisierte Sentiment-Analyse der kodierten Tweets durch, um zu untersuchen, ob sie eher eine positive oder negative Stimmung transportieren. Danach wurde eine weitere Sentiment-Analyse einer größeren Teilmenge (250.000 Tweets) durchgeführt. Schließlich sollten in einer thematischen Analyse Ergebnisse erklärt und kontextualisiert werden.

Ergebnisse: Von den manuell kodierten Tweets wurden 43 Prozent als nicht potenziell stigmatisierend eingestuft, 21 Prozent fielen in die Kategorie „Anti-Stigma oder Ratschläge“ und die restlichen 35 Prozent wurden als stigmatisierend bewertet. „Stigmatisierungs-Labels“ fanden sich vor allem beim Thema HIV/AIDS (33,9 Prozent der HIV/AIDS-Tweets). „Markierungen“ waren beim Thema Essstörungen sehr dominant (22,58 Prozent). Der Stigmatisierungs-Typ „Verantwortung“ zeigte sich am stärksten bei Tweets mit Bezug zu Diabetes (19,12 Prozent) und „Gefahr“ bei Tweets zu Substanzgebrauchsstörungen.

Tweets, die Stigmatisierungen enthielten, wiesen die negativste Stimmung auf. Die Untersuchung der größeren Stichprobe zeigte, dass die Stimmungswerte bei Tweets zum Thema HIV/AIDS am positivsten waren und bei solchen, die sich auf Substanzgebrauchsstörungen bezogen, am negativsten. In der Kategorie „Anti-Stigma und Ratschläge“ (273 Tweets) identifizierten die Forscher*innen verschiedene dominante Themen: (1) Soziales Verständnis (zielt darauf ab, Stigmata zu bekämpfen und Verantwortungszuschreibungen zu verringern), (2) Bedarf an Veränderung (es wird auf die Bedeutung von Versorgung und Unterstützung hingewiesen – beispielsweise die Bekämpfung struktureller Suchtursachen), (3) Ermutigung und Unterstützung (Botschaften, die andere inspirieren oder ermutigen können, (4) Informationen und Beratung (Hinweise auf Kampagnen, Veranstaltungen und Unterstützungsmöglichkeiten).

Schlussfolgerungen: Obwohl ein Drittel der Tweets potenziell stigmatisierende Inhalte enthielt, zeigte die Stichprobe eine starke Präsenz von Anti-Stigmatisierungs-Botschaften und Ratschlägen. Stigmatisierende Inhalte sind zu untersuchten Themen auf Twitter/X demnach weniger verbreitet als nicht-stigmatisierende.

Dass bei jedem der fünf Themen alle untersuchten Stigma-Typen gefunden wurden, legt nahe, dass es über verschiedene Krankheitsbilder hinweg Ähnlichkeiten in der Form der Stigmatisierung gibt. Dennoch zeigten sich auch große Unterschiede. Bei HIV/AIDS wurden beispielsweise häufig Label wie „schwul“ verwendet. Beim Thema Essstörungen gehörten die Begriffe „Gewicht“, „Fett“ und „dünn“ zu den am häufigsten getwitterten. Das weise darauf hin, dass körperlich identifizierende Stigmatisierungsmerkmale eine große Rolle spielen. Beispielsweise würden Essstörungen vor allem mit dünnen, weißen, weiblichen Menschen assoziiert. Solche Stereotype könnten dazu führen, dass dieselben Leiden bei Menschen mit anderen Körperformen seltener diagnostiziert würden und sie weniger Unterstützung bekämen.

Obwohl ein Drittel der Tweets potenziell stigmatisierende Inhalte enthielt, zeigte die Stichprobe eine starke Präsenz von Anti-Stigmatisierungs-Botschaften und Ratschlägen.
Bei Tweets, die sich auf Substanzgebrauchsstörungen bezogen, war der Stigma-Typ „Gefahr“ dominant – häufig in Kombination mit Begriffen wie „Kriminalität“,„Obdachlosigkeit“ und Verweise auf Geld- und Familienthemen. Die Stimmung der Tweets war bei diesem Thema am negativsten. Das bestätigt laut der Forscher*innen Untersuchungen, die zeigen, dass Substanzgebrauch typischerweise als moralische und kriminelle Probleme und nicht als Gesundheitsproblem diskutiert werden3.

Im Gegensatz dazu zeigt sich, dass die Stimmung beim Thema HIV/AIDS am positivsten war und dort auch der höchste Anteil an Anti-Stigmatisierungs-Botschaften zu verzeichnen war. Möglicherweise spricht das für eine positivere gesellschaftliche Wahrnehmung des Themas und einem stärkeren Bewusstsein für die Probleme als beim Thema Substanzgebrauch.

Beim Thema Essstörungen war hingegen zu beobachten, dass viele Tweets öffentliches Verständnis erhöhen wollen – beispielsweise, indem darauf hingewiesen wird, dass nicht nur eine bestimmte Altersgruppe und ein bestimmtes Geschlecht betroffen sind.

Einschränkungen: Es wurden im August 2022 Tweets von März und Mai 2022 extrahiert. Es ist möglich, dass in der Zwischenzeit Inhalte zensiert oder gelöscht wurden. Die Tweets wurden außerdem unabhängig von Antworten und Retweets kodiert. Dadurch konnte der Kontext möglicherweise nicht genau interpretiert werden. Auch muss beachtet werden, dass die untersuchten Tweets nicht unbedingt repräsentativ für die Haltung der breiten Bevölkerung sind.

Brown R, Sillence E, Coventry L, Branley-Bell D, Murphy-Morgan C and Durrant AC (2023) Health stigma on Twitter: investigating the prevalence and type of stigma communication in tweets about different conditions and disorders. Front. Commun. 8:1264373.doi: 10.3389/fcomm.2023.1264373

 

Mehr Aktuelles aus der Forschung

📚 Wie gesellschaftliche Themen in Medien verhandelt werden, hat Einfluss auf das Selbstbild und das Verhalten von Menschen. Mikel Peña und Ainize Sarrionandia von der University of the Basque Country haben untersucht, wie häufig Inhalte zu psychischer Gesundheit, Gewalt, Selbstmord, Selbstverletzung und HIV in den zehn meistgesehenen Filmen und Serien auf Netflix vorkommen. Laut den Ergebnissen spielt Gewalt in fast 39 Prozent der analysierten Filmausschnitte und in rund 37 Prozent der Serien eine Rolle. Selbstmord und Selbstverletzung werden in keinem der Filme und in knapp einem Prozent der Serien thematisiert. 0,5 Prozent der untersuchten Film- und Seriencharaktere hatten eine psychische Diagnose und keiner von ihnen eine HIV-Infektion. Die Autor*innen schreiben, dass es zu Stigmatisierung beitragen kann, wenn solche wichtigen gesellschaftlichen Themen in Serien und Filmen zu wenig vorkommen.

📚 Hinter Citizen-Science-Projekten stecken oft gute Ideen und Absichten. Aber nicht immer werden die Ideale in der Praxis umgesetzt. James Riley und Will Mason-Wilkes von der University of Birmingham haben zwei Beispiele miteinander verglichen: das Online-Astronomie-Projekt, „Galaxy Zoo“ und das Google-Projekt „reCAPTCHA”. Letzteres ordnen die Autoren der Kategorie „Dark Citizen Science“ zu. Davon sprechen sie, wenn bestimmte Ziele normative Citizen-Science-Ziele erfüllt werden, andere aber nicht. Sie kritisieren, bei reCAPTCHA hätten Leser*innen wahrscheinlich unwissentlich unbezahlte technisch-wissenschaftliche Arbeit für das Unternehmen geleistet.

📚 Mit welchen Strategien kann Wissenschaftskommunikation Menschen aus niedrigeren Einkommensschichten erreichen? Rachelle K. Gould von der University of Vermont, Mireille N. Gonzalez von der Colorado State University und Jess Graff vom Champlain Valley Office of Economic Opportunity in Franklin and Grand Isle Counties reflektieren ihre Erfahrungen mit zwei unterschiedlichen Story-basierten Workshopformaten, in denen es um wissenschaftliche Erkenntnisse zu giftigen Algenblüten ging. Bei einem Format hat das Team mit Science-Fiction-Ansätzen gearbeitet, bei dem anderen mit einer persönlichen Geschichte aus der Forschung.

📚 Mit Zombies die Welt retten? Bei dem Outdoor-Escape-Spiel „Zombie Mission” lösen die Spieler*innen im Garten der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Rätsel zu Nachhaltigkeitsthemen. Dabei nutzen sie wissenschaftliche Informationen, die sie vor Ort finden. Petra Bättig-Frey, Mirjam West, Rahel Skelton und Verena Berger von der Zürcher Hochschule untersuchen in einer Praxisstudie, wen dieser Scientainment-Ansatz anspricht, ob er Wissen vermittelt und Interesse an Wissenschaft und Umwelt weckt. Es zeigt sich, dass die Befragten Spaß hatten und sich neues Wissen aneignen konnten. Dies deutet laut den Forscherinnen darauf hin, dass das Spiel ein vielversprechendes Instrument zur Vermittlung von Nachhaltigkeit an Jugendliche sein könnte – möglicherweise auch an solche, die sich bisher nicht für Umwelt oder Wissenschaft interessiert haben.

📚 Die Berichterstattung über Klimaszenarien beeinflusst, welche Vorstellungen Menschen vom Klimawandel entwickeln und wie sie sich verhalten. Wie journalistische Medien in Deutschland, Indien, Südafrika und den USA über Klimazukünfte berichten, haben Lars Guenther, Hendrik Meyer, Katharina Kleinen-von Königslöw und Michael Brüggemann von der Universität Hamburg am Beispiel von rund 1000 Artikeln untersucht. Dabei identifizierten die Forscher*innen vier verschiedene Frames, die unterschiedliche Klimazukünfte beschreiben: „Lösungen für klimatische und soziale Folgen“, „Entfernte Bedrohungen für die Menschheit“, „Wirtschaftliche Chancen“ und „Entfernte Bedrohungen für Ökosysteme“. Die Unterschiede zwischen Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens seien dabei gering, schreiben die Forscher*innen.

📚 Klima zum Zweiten: Die Forschung zur Klimawandelkommunikation konzentriert sich häufig auf westliche Länder und nutzt standardisierte Methoden. Um diesen Blick zu erweitern, haben Daniela Mahl und Lars Guenther von der Universität Hamburg gemeinsam mit Corlia Meyer von der Stellenbosch University sowie Mike S. Schäfer und Dario Siegen von der Universität Zürich 20 Personen in unterschiedlichen südafrikanischen Communities zu ihrer Wahrnehmung des Klimawandels befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass Gemeinschaften mit höherem Bildungsniveau differenziertere Vorstellungen von Ursachen und Folgen und möglichen Gegenmaßnahmen hatten. Die meisten Befragten aller Communities betrachteten den Klimawandel als wichtiges Problem, auch wenn andere soziale Probleme als drängender empfunden wurden.