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Kurz vorgestellt: Neues aus der Forschung im Februar 2023

Freie Meinungsäußerung versus Falschmeldung – Wie entscheiden Bürger*innen, welche Inhalte im Netz gelöscht werden sollten? Welche Risikowahrnehmung haben Indigene in Nordamerika in Bezug auf Covid-19? Verfügen Wissenschaftskommunikator*innen über ein gemeinsames professionelles Selbstverständnis? Das sind Themen im Forschungsrückblick für den Februar.

In unserem monatlichen Forschungsrückblick besprechen wir aktuelle Studien zum Thema Wissenschaftskommunikation. Diese Themen erwarten Sie in der aktuellen Ausgabe:

  • Löschen oder nicht löschen? Bei der Moderation von Online-Inhalten wird zwischen dem Wert der Meinungsfreiheit und möglichen Folgen von Falschnachrichten abgewägt. Forscher*innen haben in einem Experiment Bürger*innen befragt, wie sie entscheiden würden.
  • Welche Risikowahrnehmung haben Indigene in Nordamerika in Bezug auf Covid-19? Was motiviert sie, sich impfen zu lassen? Ein Team von der Washington State University hat dazu Interviews mit Native Americans im Nez Perce Reservat in Idaho geführt.
  • Verfügen Wissenschaftskommunikator*innen über ein gemeinsames professionelles Selbstverständnis? Liliann Fischer von der Universität Passau und Wissenschaft im Dialog* sowie Hannah Schmid-Petri haben darüber mit Praktiker*innen gesprochen.
  • In der Rubrik „Mehr Aktuelles aus der Forschung“ geht es unter anderem um das Framing sowie die öffentliche Wahrnehmung von Mikroplastik.

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Dilemmata bei der Moderation von Online-Inhalten

Die Moderation von Online-Inhalten ist eine heikle Angelegenheit – unter anderem, weil dabei Wertvorstellungen miteinander in Konflikt geraten: freie Meinungsäußerung auf der einen und das Verhindern von negativen Auswirkungen durch Falschmeldungen auf der anderen Seite. Wenig sei bisher darüber bekannt, wie Bürger*innen über diese Problematik denken, schreibt ein Forschungsteam um Anastasia Kozyreva und Stefan M. Herzog vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Stephan Lewandowsky von der University of Bristol. Die Forscher*innen haben in einem Experiment Menschen vor die Entscheidungen gestellt, ob sie bestimmte Posts löschen oder Accounts sperren würden.

Methode: In ihrer Studie variierten die Forscher*innen systematisch Faktoren, die moralische Urteile beeinflussen könnten. 2.564 Menschen in den USA nahmen zwischen dem 8. Oktober und dem 3. Dezember 2021 an dem Umfrage-Experiment teil. Jede*r Studienteilnehmer*in wurde gebeten, in 16 verschiedenen Fällen zwei Entscheidungen zu treffen: Beiträge zu entfernen oder das Konto, das sie gepostet hatte, zu sperren.

Die Posts bezogen sich auf eines von vier Themen: Wahlverweigerung (Politik), Impfgegnerschaft (Gesundheit), Holocaustleugnung (Geschichte) und Klimawandelleugnung (Umwelt). Die Studienteilnehmer*innen bekamen Informationen über Merkmale des Kontos (die Person, die dahinter steht, ihre Parteizugehörigkeit und die Anzahl der Follower*innen), Merkmale des geteilten Inhalts (Thema der Fehlinformation und ob die Fehlinformation völlig falsch oder nur irreführend war). Auch wurde mitgeteilt, ob es sich um eine wiederholte Falschmeldung von diesem Account handelte und was deren Folgen waren (beispielsweise eine gewaltfreie Demonstration oder eine gewalttätige Demonstration mit Verletzten).

Ergebnisse: Über alle vier Themen hinweg entschieden sich die Studienteilnehmer*innen meistens, Beiträge mit falschen oder irreführenden Informationen zu entfernen. Posts, in denen der Holocaust geleugnet wurde, wurden am häufigsten entfernt in (71 Prozent der Fälle), Posts zur Wahlverweigerung wurden in 69 Prozent der Fälle und Posts gegen Impfungen in 66 Prozent der Fälle entfernt. Posts, in denen der Klimawandel geleugnet wurde, wurden am seltensten entfernt (58 Prozent).

Es war weniger wahrscheinlich, dass die Studienteilnehmer*innen Konten sperrten, als dass sie Beiträge entfernten. Das Thema der Fehlinformation hatte den größten Einfluss auf die Entscheidung, Beiträge zu entfernen. Außerdem war es umso wahrscheinlicher, dass die Befragten handelten, je schwerwiegender die Folgen der Fehlinformationen waren. Ein dritter wichtiger Faktor war, ob es sich um einen wiederholten Verstoß handelte. Die Merkmale des Kontos (die Person, ihre Parteizugehörigkeit und die Anzahl ihrer Follower*innen) sowie die Frage, ob die Informationen irreführend oder völlig falsch waren, hatten relativ wenig Einfluss auf die Entscheidungen der Befragten.

Es war weniger wahrscheinlich, dass die Studienteilnehmer*innen Konten sperrten, als dass sie Beiträge entfernten.

Demokrat*innen entschieden sich häufiger dafür, Fehlinformationen zu entfernen oder Maßnahmen gegen Accounts zu ergreifen als Republikaner*innen. Beim Szenario der Klimawandel-Leugnung entschied sich eine Mehrheit der republikanischen Befragten, nichts zu tun. Entgegen der Erwartungen der Forscher*innen gab es kaum Hinweise darauf, dass Teilnehmer*innen eher Beiträge von Konten entfernten, die nicht ihren eigenen politischen Ansichten entsprachen.

Bei einem Wissenstest zeigte sich, dass Republikaner*innen eher als Demokraten oder Unabhängige falsche Behauptungen glaubten und korrekte bezweifelten. Wie stark die Unterschiede waren, hing jedoch vom Thema ab. Bei einer korrekten Information zum Holocaust gab es über die Parteigrenzen hinweg große Einigkeit. Einer korrekten Information zum Klimawandel stimmten Demokrat*innen hingegen wesentlich häufiger zu.

Der Wissenstest wirft die Frage auf, ob sich unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob Informationen korrekt sind, auf Moderationsentscheidungen auswirken. Weitere Analysen zeigten, dass sich Befragte mit korrekten Annahmen viel wahrscheinlicher dafür entschieden, falsche und irreführende Beiträge zu entfernen. Davon unabhängig blieben die identifizierten Unterschiede zwischen den Parteizugehörigkeiten jedoch bestehen, schreiben die Autor*innen.

Schlussfolgerungen: Trotz großer Unterschiede zwischen Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen zeigt sich, dass sich die meisten US-Bürger*innen im Zweifelsfall gegen den Schutz der Meinungsfreiheit und für die Bekämpfung von Fehlinformationen entscheiden.

Die Forscher*innen schlussfolgern, dass die Ergebnisse einen sogenannten konsequentialistischen Ansatz zur inhaltlichen Moderation von Online-Fehlinformationen stützen. Demnach werde die moralische Zulässigkeit von Handlungen auf der Grundlage ihrer Ergebnisse beurteilt.

Es zeigt sich, dass das wiederholte Teilen von Fehlinformationen ein entscheidender Faktor bei der Entscheidung von Menschen war, Beiträge zu entfernen oder Accounts zu sperren. Das könnte daran liegen, dass Wiederholung als Zeichen von Vorsätzlichkeit und böswilliger Absichten interpretiert werde, überlegen die Forscher*innen. Eine andere Möglichkeit sei, dass die Studienteilnehmer*innen bei diesen Entscheidungen im Blick hatten, dass sich dadurch auch die Folgen verstärken könnten.

In liberalen Demokratien seien Entscheidungsträger*innen normalerweise zögerlich, die Verbreitung von Falschinformationen zu regulieren, schreiben die Forscher*innen. Ein Grund sei, dass sie die Meinungsfreiheit nicht einschränken wollen. Die Ergebnisse der Studie könnten Hinweise darauf liefern, welche Moderationsregeln Bürger*innen als legitim erachten – und insofern dazu beitragen, transparente und konsistente Regeln für die Moderation von Inhalten zu etablieren.

Einschränkungen: Bei der Interpretation muss beachtet werden, dass in der Studie nur US-Amerikaner*innen befragt wurden und die Ergebnisse in anderen Ländern anders aussehen könnten. Wichtig ist auch zu beachten, dass Demokrat*innen und Republikaner*innen sich bei vielen der behandelten Themen uneinig über die Faktenlage sind. Auch das könnte die Ergebnisse beeinflussen. Eventuell wäre es deshalb gewinnbringend, noch weitere, weniger umstrittene Themen zu untersuchen.

Kozyrevaa, A., Herzoga, S. A., Lewandowsky, S., Hertwiga, Philipp Lorenz-Spreena, P., Leiserd, M., Reiflere, J. (2023). Resolving content moderation dilemmas between free speech and harmful misinformation. PNAS, Psychological and Cognitive Sciences, https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2210666120

Indigene Perspektiven auf Covid-19-Impfungen

Nordamerikanische Indigene waren stark von der Pandemie betroffen. Unverhältnismäßig viele von ihnen seien – trotz hoher Impfquoten – an Covid-19 gestorben, schreiben Rachel Ellenwood, Amanda D. Boyd und Zoe Higheagle Strong von der Washington State University. Die Infektionsrate der Native Americans sei dreimal so hoch wie die der weißen Bevölkerung. Zu den Gründen zählen ein höheres Maß an Vorerkrankungen und ein schlechterer Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum und sauberem Wasser. Die Forscherinnen haben qualitative Interviews mit Indigenen aus dem Nez Perce Reservat geführt, um mehr über ihre Risikowahrnehmung in Bezug auf Covid-19-Impfungen herauszufinden – und die sozialen, historischen und kulturellen Faktoren, die dazu beitragen. Ausgehend vom Health Belief Model wollten sie auch verstehen, wie die Gesundheitskommunikation zu den hohen Impfraten beigetragen haben könnte.

Methode: Risikowahrnehmung definieren die Forscherinnen als subjektive Urteile, die Menschen über die Merkmale und den Schweregrad eines Risikos abgeben1 (Slovic, 1987). Menschen nähmen Risiken unterschiedlich wahr – abhängig von verschiedenen Faktoren wie Vertrauen in den*die Kommunikator*in oder frühere Erfahrungen mit Gefahren. Das Health Belief Model geht davon aus, dass das Gesundheitsverhalten einer Person davon abhängt, wie sie die damit verbundenen Vorteile und Hindernisse wahrnimmt2 (Rosenstock, 1974). Das Modell wird zum Beispiel für Gesundheitsförderungs- und Kommunikationskampagnen verwendet. Dabei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, unter anderem die Wahrnehmung des Risikos, an einer Krankheit zu erkranken und die Annahme darüber, wie gefährlich eine potenzielle Ansteckung eingeschätzt wird.

Die Studie wurde mit Mitgliedern der Volksgruppe der Nimiipuu im Nez Perce Reservat in Idaho in den USA durchgeführt. Die Forscherinnen interviewten zwischen Mai und Juni 2021 insgesamt 30 Bewohner*innen über 18 Jahren, die über Social Media und Mundpropaganda rekrutiert wurden. In den Gesprächen ging es um Covid-19, die Wahrnehmung von Impfungen und Fragen, die sich am Health Belief Model und Risikowahrnehmungen orientierten.

Ergebnisse:

  • Die Interviewten sagten, dass demografische Merkmale (insbesondere das Alter) und der Gesundheitszustand (Vorerkrankungen) die persönliche Anfälligkeit für Covid-19 beeinflussen. Einige sagten, sie seien nicht anfällig, weil sie die Vorsichtsmaßnahmen einhielten und zu Hause blieben.
  • Die Mehrheit war der Meinung, dass amerikanische Indigene aufgrund der Ungleichheiten im Gesundheitssystem im Allgemeinen anfälliger für Covid-19 seien. Zwölf sagten, die Gemeinschaft sei besonders anfällig, weil viele im Reservat aufgrund des Wohnungsmangels sehr eng beisammen lebten – zum Beispiel in Mehrgenerationenhäusern.
  • Die Mehrheit der Befragten schätzte Covid-19 als gefährliche Krankheit ein.
    Als Motivation für die Impfung nannten fünf Befragte ausdrücklich ihren starken Glauben an die Wissenschaft.
  • Die meisten sagten, dass die Vorteile der Impfung die Risiken überwiegen. Viele wiesen darauf hin, dass die amerikanischen Indigenen, insbesondere die Nimiipuu, es sich nicht leisten können, Bevölkerungsmitglieder durch eine Pandemie zu verlieren. Als Risiko nahmen einige wahr, dass sowohl das Virus als auch die Impfung noch neu und unbekannt seien.
  • 26 von 30 Befragten waren gegen Covid-19 geimpft. Eine Teilnehmerin konnte wegen ihres Gesundheitszustandes nicht geimpft werden, die anderen drei ließen sich aus persönlichen Gründen oder Überzeugungen nicht impfen.
  • Als Motivation für die Impfung nannten fünf Befragte ausdrücklich ihren starken Glauben an die Wissenschaft. Mehrere waren schon einmal an Covid-19 erkrankt und wollten sich lieber impfen lassen, als sich noch einmal zu infizieren. Weitere Gründe waren die geringere Wahrscheinlichkeit, die Krankheit an Angehörige weiterzugeben, keinen Mund-Nasenschutz mehr tragen zu müssen und die Vorteile für die psychische Gesundheit: weniger Angst und Depression.
  • Eine Aufforderung zum Handeln bezog sich auf die historischen Verluste, Todesfälle und Traumata vergangener Pandemien und Krankheiten.
  • Die Mehrheit der Befragten bezog ihre Informationen zu Covid-19 Impfungen über das Internet und soziale Medien. Die meisten informierten sich auf der Website des Centers for Disease Control and Prevention, über die Nimiipuu Health-Website und die Nimiipuu-Facebook-Seite. Der Nez Perce Tribe hat ein Notfallteam entwickelt, das dabei hilft, Fakten in Echtzeit herauszufiltern. Informationen, die über die Nimiipuu-Kanäle bereitgestellt wurden, stammen also von medizinischen Fachleuten.
  • Selbstwirksamkeit ist ein weiteres Konstrukt, das für das Health Belief Model von Bedeutung ist. Es wurde deutlich, dass fast alle Befragten es als einfach empfanden, sich im Reservat gegen Covid-19 impfen zu lassen. Einige erzählten von Nimiipuu, die außerhalb des Reservats lebten und zurückkamen, weil sie sich dort so einfach impfen lassen konnten.

Schlussfolgerungen: Die Nimiipuu waren sich der Risiken bewusst und benannten Gründe, warum sie und ihre Gemeinschaft anfälliger für die Verbreitung von Covid-19 seien. Es zeigte sich, dass insbesondere die Vulnerabilität von Älteren die Risikowahrnehmung der Befragten beeinflusst. Das liege daran, dass in der Kultur der amerikanischen Indigenen ältere Menschen als Bewahrer*innen von Wissen, Kultur und Traditionen respektiert und geschätzt werden, schreiben die Forscherinnen.

Es zeigte sich, dass insbesondere die Vulnerabilität von Älteren die Risikowahrnehmung der Befragten beeinflusst.

Auch der historische Kontext sei ein wichtiger Faktor für die Risikoeinschätzung. Viele Befragte bezogen sich auf weiter zurückliegende Beispiele für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten, die zur Dezimierung von indigenen Gemeinschaften führten. Im 18. Jahrhundert etwa wurden Pocken durch infizierte Decken oder Kleidung auf die amerikanischen Indigenen übertragen. Die Forscherinnen unterstreichen, wie wichtig es sei, historische Kontexte zu verstehen, die Einfluss auf die Wahrnehmung von Impfungen hätten. Hinzu kommen aktuelle gesellschaftliche Ungleichheiten, die zu einer höheren Betroffenheit von Indigenen führen.

Obwohl es in indigenen Gemeinschaften auch Misstrauen gegenüber westlicher Medizin und Forschung gibt3 (Regan-Udall Foundation, 2021) – begründet unter anderem durch den Völkermord durch medizinische Experimente mit Indigenen4 (Pacheco et al., 2013) – betonten viele Befragte ihr Vertrauen in die Impfstoffentwicklung. Das Vertrauen könnte zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass die Befragten in ihrem eigenen indigenen Gesundheitszentrum geimpft werden konnten und Informationen aus ihrer eigenen Community erhielten, schreiben die Forscherinnen. Sie unterstreichen die positiven Effekte einer selbstorganisierten Gesundheitsversorgung. Die Versorgung mit Impfstoffen habe auf diese Weise gut und unkompliziert funktioniert. Im Zentrum der Entscheidung, sich impfen zu lassen, standen bei den Befragten nicht individuelle Erwägungen, sondern das Ziel, die eigene Gemeinschaft und Kultur zu schützen.

Einschränkungen: Es wurden nur in einem begrenzten regionalen Gebiet Interviews geführt. Es kann also aus Ergebnissen nicht unbedingt auf andere Regionen und indigene Gemeinschaften geschlossen werden. Im Schnitt waren die Befragten älter als der Durchschnitt der Reservatsbewohner*innen. Weitere Forschung könnte auch die Perspektiven der unter 18-Jährigen berücksichtigen.

Ellenwood, R., Boyd, A. D., & Higheagle Strong, Z. (2023). Communication and Perspectives About COVID-19 and Vaccinations Among Native Americans. Science Communication, 0(0). https://doi.org/10.1177/10755470221151184

Zur professionellen Identität von Wissenschaftskommunikator*innen

Wissenschaftskommunikation ist ein relativ junges Berufsfeld, in dem Menschen mit diversen fachlichen Hintergründen arbeiten, die Arbeit unterschiedlich verstehen. Liliann Fischer von der Universität Passau und Wissenschaft im Dialog* sowie Hannah Schmid-Petri von der Universität Passau haben qualitative Interviews mit 15 deutschen Wissenschaftskommunikator*innen geführt. Ziel der Studie war zu untersuchen, ob es eine kollektive professionelle Identität gibt und wenn ja, wie diese charakterisiert werden kann. Dafür haben sie Typologie aus der Organisationssoziologie weiterentwickelt, um die Auswirkungen verschiedener organisatorischer Kontexte in der Wissenschaftskommunikation zu erforschen.

Methode: Je fünf der 15 Interviewpartner*innen arbeiteten in keiner formalen Organisation (zum Beispiel als Freelancer*innen), in einer Organisation (zum Beispiel einem Museum oder Wissenschaftszentrum) oder in einer Unterabteilung einer größeren Organisation (zum Beispiel in der Pressestelle einer Universität). Die Forscherinnen achteten darauf, dass die Interviewpartner*innen ein möglichst breites Spektrum des Berufsfeldes abdeckten, also auf unterschiedliche Formate spezialisiert sind (Comics, Podcasts) und in unterschiedlichen Organisationen arbeiten. Die Interviews wurden zwischen dem 14. Oktober und dem 4. November 2021 geführt. Die Transkripte kodierten die Forscherinnen nach der Methode einer strukturierten Inhaltsanalyse nach Mayring5. Sie orientierten sich bei ihrem deduktiven Vorgehen an vier Dimensionen der Theorie professioneller Identität: Zentrum der Identität, Inhalt, kurz- und langfristige Ziele, Werte. Sie bezogen sich dabei auf in der Forschungsliteratur beschriebene Rollen6 und Ziele7 sowie auf die in den Richtlinien für gute Wissenschafts-PR vom Siggener Kreis formulierten Werte. In der ersten Kodierrunde wurden weitere induktive Codes ergänzt.

Ergebnisse:

Kern der professionellen Identität:

  • Viele der Befragten bezweifelten, dass Wissenschaftskommunikator*in überhaupt ein Beruf sei, weil es keine standardisierte Ausbildung und keine fixe Jobbeschreibung gibt. Für andere ist Wissenschaftskommunikation nur ein Teil dessen, was sie in ihrem Job tun.
  • Unabhängig davon, ob sie sich als Wissenschaftskommunikator*innen betrachteten, wurden sie nach ihrem professionellen Selbstverständnis gefragt. Die Antworten wurden vier Themenblöcken zugeordnet.
  • Bei „Auswahl an Themen“ wurden zwei Rollen unterschieden: Agenda-Setter, die interessante Themen aufspüren, und Gatekeeper, die aus unterschiedlichen Themen aussuchen.
  • Beim zweiten Thema, der „Präsentation wissenschaftlichen Inhalts“ wurden vier Rollen identifiziert: Übersetzer*innen wollen Informationen verständlich machen, Popularisierer*innen wollen sie erfahrbar machen, Kontextualisierer*innen wollen Informationen mit der Alltagserfahrung von Menschen oder aktuellen Ereignissen verbinden und Advokat*innen verstehen sich selbst als Personen, die einen Unterschied machen.
  • Beim Thema „Position der Wissenschaftskommunikator*innen“ zeigte sich, dass sich alle als Grenze zwischen Systemen wie Wissenschaft, verschiedenen Institutionen und Zielgruppen wie auch dem politischen System sehen.
  • Beim Thema „Unterstützung“ können einige Befragte als Multiplikator*innen bezeichnet werden, andere sahen sich als Dienstleister*innen.
  • Jede Person nahm gleichzeitig mehrere Rollen an.

Kurz- und langfristige Ziele: 

  • Mitarbeitende von Unterabteilungen größerer Organisationen sagten im Gegensatz zu den beiden anderen Organisationskontexten, sie versuchten, sowohl den Ruf ihrer Organisation als auch den einzelner Wissenschaftler*innen zu verbessern.
  • Die meisten Befragten sprachen von einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Über alle Organisationsformen hinweg wurde auch der Wunsch erwähnt, Wertschätzung für Wissenschaft zu fördern, Wissenschaft und Gesellschaft näher zusammenzubringen und zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen.
    Die meisten Befragten sprachen von einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft.
  • Bei den kognitiven Aspekten wurde vor allem Zugang zu Informationen erwähnt. Andere Ziele waren, Wissen über wissenschaftliche Arbeit zu fördern und die Öffentlichkeit dabei zu unterstützen, aktiv an der Wissenschaft mitzuwirken.
  • Einige sagten, dass sie die öffentliche Meinung explizit beeinflussen wollen – damit Menschen beispielsweise nicht aus Verschwörungstheorien hereinfallen.

Inhalt der Identität: Werte 

  • Wissenschaftskommunikation sollte laut der Befragten auf der Offenheit gegenüber dem Publikum basieren, unabhängig zum Beispiel von politischen Interessen sein.
  • Nur Wissenschaftskommunikator*innen, die in Unterabteilungen größerer Organisationen arbeiten, erwähnten die Anerkennung der Autorität von Wissenschaftler*innen als zentralen Wert.
  • Wahrhaftigkeit war der mit Abstand am häufigsten genannte Wert, der Wissenschaftskommunikation zugrunde liegen sollte. Als andere Werte wurden der Nutzen für die Gesellschaft, Transparenz, Klarheit der Kommunikation, Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis genannt, Kommunikation auf Augenhöhe und Teilhabechancen benannt.
  • Die Frage, ob sie Konflikte bezüglich der Ziele und Werte ihrer Arbeit erlebten, verneinten diejenigen, die außerhalb formaler Organisationsstrukturen arbeiten. Diejenigen, die für Institutionen im Bereich der Wissenschaftskommunikation arbeiten, erlebten Konflikte eher selten und dann in Bezug auf Verwaltungsabläufe. Befragte, die in Unterabteilungen größerer Organisationen arbeiten, sprachen über Konflikte zwischen Zielen und Werten – beispielsweise, weil in ihrer Organisation klare Kommunikationsziele fehlten. Andere berichteten, dass die strategischen Ziele ihrer Organisation in Konflikt mit ihren persönlichen, auf die Gesellschaft ausgerichteten Zielen stünden.
  • Die Frage, ob es eine Community von Wissenschaftskommunikator*innen gibt, verneinten einige, andere stimmten zu.
  • Einige grenzten sich bewusst ab von Wissenschaftsjournalist*innen und Menschen, die in Wissenschafts-PR arbeiten.
  • Die Befragten sahen sich selbst näher an Wissenschaftsjournalist*innen als an Menschen aus der Wissenschafts-PR, aber grenzten sich trotzdem von beiden Berufsgruppen ab.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse geben einen Eindruck der unterschiedlichen Facetten professioneller Identität von Wissenschaftskommunikator*innen. Es scheine unterschiedliche Bausteine zu geben, aus denen die vielfältigen Identitäten zusammengesetzt sind, schreiben die Forscherinnen8. Die Befragten identifizieren sich – unabhängig von organisatorischen Kontexten – mit mehreren Rollen. Außer den in der Fachliteratur beschriebenen Rollen wurden noch weitere identifiziert: Agenda-Setter*in, Kontextualisierer*in, Advokat*in und Multiplikator*in.

Organisationsspezifische Unterschiede zwischen den Befragten zeigten sich in Bezug auf die Ziele ihrer Arbeit: Nur diejenigen, die für eine Unterabteilung arbeiten, berichten von strategischen Zielen ihrer Organisation. Gesellschaftliche Ziele im Bereich der Wissenschaftskommunikation waren für die Befragten unabhängig von dem organisationsspezifischen Kontext ihrer Arbeit wichtig.

Unterschiede zeigten sich auch bei der Frage nach Konflikten zwischen Zielen und Werten. Trotzdem scheine die Identifikation mit den meisten Identitätsbausteinen unabhängig vom Organisationskontext zu sein, schreiben die Forscherinnen. Sie vermuten, dass die Anbindung an einen bestimmten organisatorischen Kontext es wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher aber nicht unmöglich machen können, bestimmte Bausteine zu wählen.

Die Vielfalt von Rollen weise auf die Diversität des beruflichen Alltags hin. Gerade Menschen, die in Unterabteilungen größerer Organisationen arbeiten, haben laut der Studienergebnisse damit zu kämpfen, dass es in ihren Arbeitskontexten häufig immer noch kein einheitliches Bild von Wissenschaftskommunikation gibt. Ein Grund mag sein, dass sich der Beruf erst in den letzten 40 Jahren entwickelt hat. In der Zwischenzeit hat Wissenschaftskommunikation an Bedeutung gewonnen. Dennoch fehle es den Kommunizierenden immer noch an einem einheitlichen Verständnis ihrer Rolle, der Ziele, die sie verfolgen, und der Werte, die sie leiten, schreiben die Autorinnen. Das alles aber wäre aus ihrer Sicht nicht nur wichtig für die Entwicklung eines einheitlichen Berufsbildes, sondern auch dafür, ihre wichtige gesellschaftliche Rolle zu erfüllen.

Ein Grund mag sein, dass sich der Beruf erst in den letzten 40 Jahren entwickelt hat.

Einschränkungen: Aufgrund des qualitativen, explorativen Designs der Studie können keine Schlussfolgerungen für die Wissenschaftskommunikation im Allgemeinen gezogen werden. Eine Wiederholung in anderen Ländern könnte Aufschlüsse darüber geben, inwiefern die Ergebnisse auch für andere Regionen gelten.

Fischer, L. and Schmid-Petri, H. (2023). ‘“There really is a lot of shared understanding, but there are also differences”: identity configurations in science communicators’ professional identity’. JCOM 22 (01), A07. https://doi.org/10.22323/2.22010207.

Mehr Aktuelles aus der Forschung

📚 In der Forschung zu künstlicher Intelligenz sind Frauen bislang unterrepräsentiert. Mediale Darstellungen von Berufsfeldern können einen Einfluss darauf haben, welche Karrierewege Menschen in Betracht ziehen und wählen. Deshalb haben Stephen Cave, Kanta Dihal, Eleanor Drage und Kerry McInerney von der Cambridge University 142 einflussreiche Filme zum Thema KI untersucht, die zwischen 1929 und 2020 erschienen sind. Es zeigt sich: Nur acht Prozent der Film-Protagonist*innen, die im Bereich künstliche Intelligenz arbeiten, sind weiblich. Nur bei einem der Filme hat eine Frau allein Regie geführt. Die Forscher*innen diskutieren mögliche Erklärungen und Parallelen zwischen Gender-Ungleichheiten im Film und in der realen Welt.

📚 Inwiefern spiegeln Zeitungs-Cartoons in Südafrika den gesellschaftlichen Diskurs über Corona wider? Herman Wasserman und Marina Joubert von der Stellenbosch University in Südafrika haben fast 1200 Cartoons aus dem Jahr 2020 untersucht. Dabei zeigte sich beispielsweise, dass die meisten Cartoons eine negative Stimmung transportierten. Die Forscher*innen schreiben, dass die untersuchten Cartoons den durch Angst charakterisierten Mediendiskurs unterstützten und zur Politisierung der Pandemie beitrugen, indem häufig Politiker*innen als Charaktere gewählt wurden. Wissenschaftler*innen hingegen tauchen nur selten auf. Zur Aufklärung der Bevölkerung hätten die Cartoons kaum beigetragen.

📚 Die Impfquote in Bezug auf das Humane Papillomviren (HPV) war in Dänemark relativ hoch – bis über mögliche Nebenwirkungen berichtet wurde. Die bisherige Forschung habe diese Entwicklung negativer oder irreführender Berichterstattung in Verbindung gebracht, schreiben Torben E. Agergaard, Màiri E. Smith, Ane Kathrine Gammelby, Marie Louise Tørring und Kristian H. Nielsen von der Universität Aarhus. Um das zu überprüfen, haben sie dänische Medienberichte zum Thema HPV-Impfungen, die zwischen 1991 und 2019 in sechs Zeitungen erschienen sind, untersucht. Es zeigte sich, dass im Jahr 2015 Nebenwirkungen das dominierende Thema darstellten. Allerdings sei die Berichterstattung weder positiv noch negativ, sondern divers gewesen, schreiben die Forscher*innen. So wurden beispielsweise Wissenschaftler*innen zitiert, die sich in Bezug auf die Nebenwirkungen nicht einig waren.

* Wissenschaft im Dialog ist einer der drei Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de