Foto: Alexis Brown

„Kooperationen zwischen Wissenschaft und Schulen sind dringender denn je erforderlich“

Im Projekt „Aller Anfang ist…? Ankommen multiperspektivisch – Schüler:innen forschen nach“ werden Jugendlichen Instrumente an die Hand gegeben, um Geschichte und Gegenwart ihres Umfelds selbst zu erforschen. Die Projektleiterinnen Lisa Jöris und Lena Herzog berichten im Gastbeitrag von den Herausforderungen des Projekts und davon, welche Themen für die Jugendlichen besonders spannend waren.

Wie wird einem als Geflüchteter in Berlin bei der Ankunft geholfen? Wie ist es, mitzuerleben, wie das eigene Stadtviertel sich im Laufe der Zeit verändert? Welche Herausforderungen hatten Mütter unterschiedlicher Generationen, wenn sie nach der Elternzeit wieder ins Arbeitsleben starteten? Das Fragenstellen steht in unserem Projekt „Aller Anfang ist…? Ankommen multiperspektivisch – Schüler:innen forschen nach“ im Mittelpunkt, ganz nach dem Motto des Wissenschaftsjahrs 2022 – Nachgefragt!, in dessen Rahmen es durchgeführt wurde. Und anstatt Antworten lediglich durch Internetrecherche oder dem Studieren von Schulbüchern zu bekommen, zogen die teilnehmenden Jugendlichen selbst los, um Zeitzeug*innen nach ihren Erlebnissen zu befragen.

Doch von vorne, schließlich soll es hier ja auch um Wissenschaft und ihre Methoden gehen. Die Schüler*innen bearbeiteten nicht nur ein Thema aus dem Geschichts- oder Politikunterricht, sondern lernten gleichzeitig auch sozialwissenschaftliche Forschungsprozesse kennen. Den sechs teilnehmenden Klassen aus verschiedenen Städten Deutschlands wurde dazu zu Beginn ein thematischer Rahmen vorgegeben: „Ankommen“. Das eröffnete vielfältige Anknüpfungspunkte, von historischen Alltagskontexten bis hin zu aktuellen Erfahrungen unserer Gesellschaft, wodurch auch Themen des Lehrplans untergebracht werden konnten. Letzteres war für die meisten beteiligten Lehrkräfte wichtig, denn oft herrscht in Schulen Zeitnot und es gibt wenig Raum für Projekte, die sich mit komplett anderen Themen beschäftigen.

Dass der Plan aufging und ein diverses Themenspektrum im Projekt abgebildet werden konnte, zeigte sich schnell. Beispielsweise interessierte sich eine Klasse für das Berufsleben von Müttern unterschiedlicher Generationen nach der Geburt eines Kindes. Eine andere Klasse wollte herausfinden, welche Erfahrungen sogenannte Russlanddeutsche bei der Ankunft in Deutschland in den 1990er Jahren gemacht haben. Ob sich Berlin nach dem Mauerfall für die Bewohner*innen wie eine neue Stadt anfühlte war eine weitere Fragestellung. Andere Schüler*innen wollten wissen, wie neu gewählte Abgeordnete in ihrer Rolle in der Demokratie ankommen.

Nach dem sich die Schüler*innen gemeinsam mit ihren Lehrkräften im Klassenverband in das Thema eingearbeitet hatten, waren wir als durchführendes Projektteam vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) gefragt. In einem ersten Workshop kamen wir für zwei Doppelstunden in die Klasse, um die Jugendlichen auf ihre Interviews vorzubereiten. Dabei haben wir zuallererst erklärt, was Sozialwissenschaft überhaupt ist, was man durch verschiedenen Befragungsformen herausfinden kann – und was nicht. In praktischen Übungen erarbeiteten Kleingruppen die Vor- und Nachteile von Fragebögen, Gruppeninterviews und Leitfadeninterviews.

Schülerinnen aus Celle interviewen eine Zeitzeugin. Foto: Andreas Glück

Die verfügbare Zeit war leider zu kurz, um die Fragestellungen der Klassen mithilfe verschiedener Methoden der Datenerhebung zu erarbeiten. Daher wurde sich nach der Einführung auf die Methode des narrativen Leitfadeninterviews konzentriert, da sie sich am besten eignet, um Zeitzeug*innen nach ihren Erfahrungen zu befragen. In diesem Workshop wurden auch die Fragen für die Interviews vorbereitet und mit uns diskutiert. Um alle Schritte der Forschung im Überblick zu behalten, haben wir ein Forschungstagebuch entwickelt und allen Teilnehmenden als gedrucktes Exemplar zur Verfügung gestellt.

Nach dem Workshop wurde es dann ernst: Das echte Interview mit einer in der Regel fremden Person stand bevor. Die Schüler*innen führten ihr Interview in Kleingruppen von zwei bis vier Personen. Ihre Interviewpartner*innen mussten sie sich so weit wie möglich eigenständig suchen, oft konnte hier durch Kontakte von uns, der Lehrkräfte oder der Mitschüler*innen unterstützt werden. Für viele war das Interview eine große Herausforderung, umso stolzer waren die Schüler*innen, als es dann geschafft war und sie viele spannende Geschichten erfahren haben. Oft wurde uns sogar von Interviews in ganz ungezwungenem Rahmen bei Kaffee und Kuchen berichtet. „Ich wäre sonst nie so mit dieser Person ins Gespräch gekommen“ war ein Feedback, das wir häufiger von den Jugendlichen bekamen.

Damit die Geschichten aus den Interviews dann noch in eine Form gebracht wurden, die veröffentlicht und präsentiert werden kann, kamen wir als Projektteam nach einigen Wochen für eine weitere Doppelstunde in die Klasse. Darin reflektierten wir mit den Schüler*innen die Interviews methodisch und inhaltlich. Anschließend erklärten wir, wie man das Erfahrene am besten in einem Text zusammenfasst. Sobald alle Texte einer Klasse fertig waren, wurden sie gesammelt auf der Projektwebseite präsentiert.

Für alle Klassen gab es das Angebot, eine*n Wissenschaftler*in als Projektpat*in zur Seite gestellt zu bekommen, sei es zu Beginn um Fragen zum Thema zu stellen oder am Ende, um die Ergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren. Diese Projektpat*innen konnten eine große Bereicherung darstellen – allerdings nahmen nur die Hälfte der Klassen das Angebot an. Als Begründung wurden häufig Zeitgründe genannt. Das zeigt, dass für Projekte dieser Art oft wenig Zeit im Schulalltag besteht. Insbesondere Fächer wie Geschichte oder politische Bildung bzw. Sozialkunde sind hiervon betroffen, da sie nur mit wenigen Wochenstunden auskommen müssen. Auch für uns als Projektteam war es eine Herausforderung, uns diesem engen und wenig flexiblen Zeitrahmen anzupassen, könnte man doch auch ein ganzes Schuljahr damit verbringen, über sozialwissenschaftliche Forschungsprozesse zu sprechen und verschiedene Methoden zu erproben.

Die Schüler*innen präsentieren ihre Ergebnisse. Foto: Lena Herzog

Dass unser Konzept jedoch aufging und den Schüler*innen sowohl gute Einblicke in die Forschung als auch die selbstständige Erarbeitung eines Themas ermöglichte, zeigt das durchweg positive Feedback. „Das Forschungstagebuch hat total geholfen zu verstehen, welche Schritte für das Interview befolgt werden müssen.“ oder „Ich habe etwas gelernt, was mir auch für mein Berufsleben helfen kann.“, waren nur einige der Stimmen aus den Klassen. Die Lehrkräfte schrieben in ihrem Feedback unter anderem: „Ich begrüße dieses außerschulische Lernangebot sehr, da es zum wissenschaftlichen Arbeiten und problemlösenden Denken meiner Schüler*innen beigetragen hat.“ oder „Ich nehme mit, dass Kooperationen zwischen Wissenschaft und Schule dringender denn je erforderlich sind.“

Dass Wissenschaftskommunikation an Schulen auch außerhalb der MINT-Fächer gewünscht ist, haben wir spätestens seit Projektbeginn festgestellt. Insbesondere auch die Verbindung von historischer und politischer Bildung und Wissenschaftskommunikation, die das Projekt schaffte, wurde wertgeschätzt. An den Materialien bestand seitens der Lehrkräfte großes Interesse und wir haben sie so angepasst, dass sie auch außerhalb unserer Workshops eigenständig von Pädagog*innen genutzt werden können. Zu guter Letzt können wir auch sagen, dass das Projekt selbst aus Sicht der Forschungsergebnisse der Schüler*innen interessant ist. Denn eins zeigte sich in den Klassenprojekten: Unterstützung durch andere Menschen erleichtert den Prozess des Ankommens enorm, egal in welchem Kontext das Ankommen stattfindet.

Während die Ergebnisse und Materialien noch eine ganze Weile auf der Webseite verfügbar sein werden, können die Workshops nach Dezember 2022 leider nicht fortgeführt werden. Eine ausreichende Anschlussförderung für ein weiteres Jahr konnten wir trotz Kontaktaufnahme mit zahlreichen Förderern im Bereich Wissenschaft und Bildung nicht bekommen, sei es weil wir bestimmte Förderkriterien nicht erfüllen (z.B. dürfen Projekte oft noch nicht begonnen worden sein), viele Stiftungen den Fokus auf Wissenschaftskommunikation in den MINT-Fächern setzen oder weil Bewerbungsdeadlines in der ersten Jahreshälfte liegen.


Projektsteckbrief

Projektträger: „Aller Anfang ist…? Ankommen multiperspektivisch – Schüler:innen forschen nach“ ist ein Projekt des Leibniz-Zentrums Moderner Orient (ZMO), einem außeruniversitären, sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungszentrum in Berlin-Nikolassee. Entwickelt und durchgeführt wurde das Projekt von Lisa Jöris, Lena Herzog (Projektleiterinnen) und Pamina Henke (Projektassistenz).

Budget: Gefördert wurde das Projekt vom Bundesministerium für Bildung- und Forschung im Rahmen des Wissenschaftsjahrs 2022 – Nachgefragt! mit einer Summe von rund 90.000 Euro. Darin enthalten waren Personalkosten, Reisekosten, Budget zur Programmierung einer Projektwebseite sowie Materialkosten. Bisher konnte das Projekt keine ausreichenden Mittel akquirieren um 2023 fortgesetzt zu werden.

Ziele: „Aller Anfang ist…?“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schüler*innen sozialwissenschaftliche Forschungsprozesse und deren Relevanz zu vermitteln. Den Schüler*innen wird in anschaulicher Weise gezeigt, dass Experimente und Forschung nicht nur Teil von MINT-Fächern sind, sondern auch in Fächern wie Politische Bildung, Geschichte oder Ethik eingesetzt werden können. Mit dem Projekt sollen außerdem Lehrerkräfte in der Vermittlung dieser Inhalte und speziell der Interviewführung als partizipative Unterrichtsmethode gestärkt werden. Dafür entwickelte das Projektteam ein Schulungskonzept, bestehend aus Workshops und Materialien für die eigenständige Arbeit der Schüler*innen. Des Weiteren fördert das Projekt die Kooperation zwischen Wissenschaft und Schule im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften.

Zielgruppen: Das Projekt eignet sich in erster Linie für Schulklassen, Leistungskurse oder AGs ab Jahrgangsstufe 9 in allen Schulformen. Angesprochen werden nicht nur die Schüler*innen, sondern auch gezielt die Lehrkräfte. Wissenschaftler*innen werden als Projektpat*innen für die Klassen eingesetzt.

Zahlen zur Zielerreichung: Im Jahr 2022 haben wie geplant sechs Schulklassen der Jahrgänge 9-12 in fünf deutschen Städten teilgenommen (Berlin (2x), Celle, Halle (Saale), Hannover und Hamburg). Insgesamt waren sieben Lehrkräfte und 140 Schüler*innen beteiligt. Es konnten drei wissenschaftliche Projektpat*innen gewonnen werden. Neben dem Konzept für die Workshops wurden zehn unterschiedliche Materialkomponenten entworfen, darunter beispielsweise ein Forschungstagebuch und eine Gruppenarbeits-Übung zum Kennenlernen verschiedener Befragungsformen.