Foto: Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker

Kontinuierlicher Austausch mit Kultur und Gesellschaft: Zur Neudefinition der Museen

Sind Museen für „soziale Gerechtigkeit“ und das „Wohl des Planeten“ zuständig? Der Internationale Museumsrat ICOM diskutiert derzeit angeregt über eine neue Definition des Begriffs Museum. Im zweiten Teil unseres Pro und Kontras geht Stephan Schwan vom Leibniz-Institut für Wissensmedien auf die Stärken des aktuellen Vorschlags ein.

Ein Komitee des Internationalen Museumsrats (International Council of Museums, ICOM) machte im Sommer einen Vorschlag für eine überarbeitete Definition des Begriffs Museum. Diese sollte sich stärker als bisher an den Aufgaben und Rahmenbedingungen der Museumsarbeit im 21. Jahrhundert orientieren. Schon vor der offiziellen Abstimmung darüber auf der ICOM-Weltkonferenz Anfang September in Kyoto regte sich jedoch Widerstand: 24 Nationalkomitees, darunter auch der deutsche Verband, beantragten eine Vertagung der Entscheidung, um Zeit für eine Überarbeitung des Textes zu gewinnen. Den Kritikern sind einige Formulierungen der Neudefintion zu politisch, während ihnen traditionelle Aspekte von Museen, etwa Sammlungen, zu kurz kommen. Wir beleuchten die Argumente für und gegen den eingebrachten Vorschlag in einem Pro und Kontra. (Red.)

 

Brauchen wir eine neue Museumsdefinition? Dafür gibt es nach meiner Meinung eine Reihe von guten Gründen. Die Bedingungen, unter denen Museen arbeiten, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert. Dies gilt auf allen Ebenen, vom Sammeln über das Konservieren und Forschen bis zum Ausstellen und Vermitteln.

„Es stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit Sammeln und Bewahren überhaupt noch ein distinktes Merkmal von Museen darstellt.“ Stephan Schwan
Sammeln ist gesamtgesellschaftlich wie auch individuell zu einem Phänomen geworden, das nicht mehr nur auf Museen, Behörden und eine überschaubare Zahl von Privatleuten beschränkt ist. Wir leben in einer Epoche der fast unbegrenzten Speichermöglichkeiten, persönliche Lebensverläufe werden in tausenden von digitalen Fotos, Videos und Messdaten dokumentiert, multinationale Internetkonzerne verfügen über unüberschaubar große Datenrepositorien. Nicht nur muss allein durch die schiere Masse an Artefakten und Digitalisaten heutiger Überflussgesellschaften die Frage nach den Konzepten, Kriterien und Strategien des musealen Sammelns neu gestellt werden. Die Debatte um das Recht auf Vergessen zeigen auch, dass Sammeln und Bewahren keine Werte an sich mehr sind, sondern zunehmend kritisch hinterfragt werden. Bei alledem stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit Sammeln und Bewahren überhaupt noch ein distinktes Merkmal von Museen darstellt.

Ähnliches gilt für die museale Forschung an den Sammlungen. Durch den immensen technischen Fortschritt steht heutzutage eine breite Palette apparativer Methoden bereit – von der Genanalyse bis zur Computertomographie – die neuartige Analyseperspektiven eröffnen. Bedingt durch hohe Anschaffungskosten und die Notwendigkeit einer hinreichenden Auslastung sind diese Technologien allerdings häufig nicht innerhalb der einzelnen Museen verfügbar, sondern werden in Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen genutzt. Museen werden dadurch in interdisziplinäre Forschungsnetzwerke eingebunden und die Grenzen zwischen Forschung innerhalb und außerhalb der Museen werden zunehmend durchlässiger.

Natürlich hat sich auch die Praxis des Ausstellens und Vermittelns in den letzten Jahren stark verändert. Auch hier „entgrenzen“ sich viele Museen: Durch digitale Initiativen wie Europeana oder Google Arts & Culture wird es in Zukunft zu den Selbstverständlichkeiten gehören, dass museale Sammlungen nicht nur durch Ausstellungen oder Besuch der Archive für die Öffentlichkeit zugänglich sind, sondern gleichermaßen im Internet erkundet werden können.

Stephan Schwan erprobt eine Virtual-Reality-Station
Stephan Schwan erprobt 2018 im Museum für Antike Schifffahrt in Mainz eine Virtual-Reality-Station, mit der sich die Rekonstruktion eines versunkenen römischen Frachtschiffs erkunden lässt. Seine Arbeitsgruppe erforscht unter anderem, wie solche digitalen Darstellungen zur Wissensvermittlung beitragen können. Foto: Leibniz-Institut für Wissensmedien

Viel wichtiger erscheinen mir aber die Wandlungen des Besucherbilds der Museen. Fragte noch vor 20 Jahren Zahava Doering von der Smithsonian Institution in einem Aufsatz , ob Besucherinnen und Besucher „Strangers, Guests, or Clients?“ seien, besteht heute weitgehend Konsens über die Notwendigkeit einer Publikumsorientierung. Die kulturelle Vielfalt der Besuchenden wird ernst genommen, es werden barrierefreie Präsentationsmodi entwickelt und mit partizipativen Ausstellungsformaten experimentiert. Dadurch hält gleichzeitig auch die Gegenwart Einzug in die Museen. Ihre traditionelle Aufgabe, den Blick des Publikums für das Historische zu schärfen, wird ergänzt durch Ausstellungen mit Bezügen zu aktuellen, häufig in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Themen.

Im Licht dieser Veränderungen greift die bisherige Museumsdefinition zu kurz. Etwas überspitzt ausgedrückt beschreibt sie die Tätigkeit von Museen als einen Prozess, der weitgehend in eine Richtung erfolgt, bei dem das materielle und immaterielle Erbe in die Institution eingespeist, dort verarbeitet, und das Ergebnis – eher Faktum als Interpretation – schließlich der Öffentlichkeit mitgeteilt und präsentiert wird. Die vorgeschlagene Neudefinition der ICOM wird den aktuellen Verhältnissen besser gerecht, denn sie betont  das Multiperspektivische, das Dialogische und Partizipatorische heutiger Museumspraxis ebenso wie ihren Bezug zur Gegenwart und Zukunft. Die Definition trägt zudem der Erkenntnis Rechnung, dass Museen sich kontinuierlich in regem Austausch mit ihrem gesellschaftlichen, politischen und kulturellem Umfeld befinden. Gegen die Neudefinition ist kritisch eingewendet worden, sie sei wenig trennscharf und würde die Spezifika von Museen gegenüber anderen kulturellen Institutionen vernachlässigen. Die oben diskutierten Entwicklungen zeigen aber, dass es die Museen selbst sind, deren Eigenschaften und Grenzen zunehmend an Trennschärfe einbüßen.

Trotzdem hat die Neudefinition sicher noch nicht zu ihrer endgültigen Form gefunden, und ich begrüße es, dass die Diskussion über angemessene Formulierungen erneut aufgenommen und eine abschließende Entscheidung auf das kommende Jahr vertagt wurde. Aus der empirischen Besucherforschung ist bekannt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Typen mit vielfältigen Besuchsmotiven den Weg ins Museum finden. Von deren Bedürfnissen wird erstaunlich wenig Notiz genommen – im Vergleich zur bisherigen Definition kann man nachgerade sogar von einem Rückschritt sprechen.

„Lernen und Wissenserwerb gehören zu den zentralen Besuchsanlässen für Museen.“ Stephan Schwan
Dies gilt zum einen für die Rolle von Museen als zentrale non-formale Bildungsinstitutionen, die in der vorliegenden Fassung auf ein unverbindliches „enhance understanding“ reduziert wird. Dies wird den breit gefächerten Bildungsaufgaben von Museen ebenso wenig gerecht wie empirischen Befunden, die Lernen und Wissenserwerb als einen der zentralen Besuchsanlässe identifiziert haben. Zugleich ist der aktuellen Fassung aber auch das Leichte und Genusshafte verloren gegangen. Ausstellungen sollen auch, aber eben nicht nur „schwere Kost“ sein, die sich sehr ernsthaft mit den Kernproblemen unserer Zeit auseinandersetzt. Museen sind durchaus auch ein entschleunigender Kontrapunkt zum reizüberfluteten Alltagsleben außerhalb ihrer Mauern; der Besuch einer Ausstellung ist (hoffentlich) immer auch mit ästhetischem Genuss, Staunen und Spielfreude verbunden. Die bisherige Definition trägt diesen wichtigen Aspekten Rechnung. Es ist zu wünschen, dass sie auch in der Neudefinition Berücksichtigung finden, damit diese die Charakteristiken von Museen in ihrer ganzen Vielfalt angemessen wiederspiegelt.

 

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider. Das Aufmacherbild zeigt eine Ansicht der Ausstellung „Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode-Museum“ (Museumsinsel Berlin, 27.10.2017–24.11.2019).