Foto: Robina Weermeijer

„Hirne aus der Ferne“ – populärwissenschaftlicher Diskurs in Coronazeiten

Mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt über Neurologie und Co. diskutieren – das geht in der Vortragsreihe „Hirne aus der Ferne“ über Zoom. Organisiert wird sie vom Institut Kortizes. Im Gastbeitrag stellt Inge Hüsgen das Projekt vor, mit dem das Institut seine Kommunikation an die Coronazeit anpasst.

Früh morgens um halb vier ist keine alltägliche Zeit, um einen Vortrag zu halten. Dass sich die Neurowissenschaftlerin Ina Bornkessel-Schleswesky dennoch zu nachtschlafender Zeit vor den Rechner setzt, um von aktuellen Forschungen über den Alpharhythmus im Gehirn zu berichten, hat einen ganz einfachen Grund: Sie lebt und arbeitet als Professorin für kognitive Neurowissenschaft im australischen Adelaide. Ihr heutiges Publikum sitzt am anderen Ende der Welt in Deutschland. Es sind interessierte Menschen aus allen Fachgebieten, die nach Feierabend gern einen wissenschaftlich gehaltvollen, verständlich vorgetragenen Abendvortrag anschauen und die Gelegenheit nutzen, via Zoom online mit Expertinnen und Experten zu diskutieren.

Der Vortrag ist Teil einer neuen Veranstaltungsreihe „Hirne aus der Ferne“, die das Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs Kortizes unter den coronabedingten Einschränkungen konzipiert hat. Das 2017 ins Leben gerufene Institut Kortizes ist aus einer Nürnberger Bildungs- und Museumsinitiative hervorgegangen und hat sich zur Aufgabe gemacht, Vorträge und andere Publikumsveranstaltungen zu kognitions- und neurowissenschaftlichen Themen sowie darüber hinaus zu Fragen aus Wissenschaft und Philosophie zu organisieren und anzubieten. Ursprünglich im Nürnberger Raum aktiv, erreicht Kortizes heute dank seines jährlichen Wochenendsymposiums (siehe unten) und nun dank des konsequenten Ausbaus seines Online-Angebots ein Publikum weit über die lokalen Grenzen hinaus.

Wissenschaftliche Vorträge aus aller Welt

Im Rahmen von „Hirne aus der Ferne“ spricht – vorläufig zunächst bis zum Jahresende – immer am ersten Donnerstag des Monats eine Persönlichkeit aus dem umfangreichen Forschungsbereich der Kognitions- und Neurowissenschaften über aktuelle Forschungen in ihrem Fachbereich und stellt eigene aktuelle Studien vor. Die Vorträge werden online gehalten und stehen damit einem Publikum offen, das sich nicht an einem Ort versammeln muss. Die Vortragenden sprechen aus ihren Instituten im Ausland und bringen dem Publikum ihre Erkenntnisse aus der Ferne nah.

So hatte sich für den Eröffnungsvortrag im August der Psychologe, Soziologe und Musiker Stefan Kölsch aus seiner Wahlheimat Norwegen zugeschaltet, die oben erwähnte Ina Bornkessel-Schlesewsky im September aus Australien. Der nächste Referent ist Gerhard Northoff aus dem kanadischen Ottawa, der am 1. Oktober als Philosoph und Psychiater zum Thema „Gehirn und Selbst“ referiert. Mit Jennifer Windt, Philosophin und Fachfrau für Tagträume, Schlafträume und andere spontane Gedanken im Schlaf- wie im Wachzustand, steht am 5. November die zweite Schalte nach Australien an. Dort, an der Universität von Melbourne, untersucht sie aus philosophischer Perspektive, wie sich spontane Gedanken während des Schlafens und Wachseins unterscheiden. Zur vorerst abschließenden Veranstaltung am 3. Dezember spricht Lutz Jäncke – auch aus dem Ausland, aber diesmal aus der nahen Schweiz.

Obgleich einige der Veranstaltungen Wochen später auf Youtube einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, lohnt es sich, live dabei zu sein, um in der anschließenden Fragerunde mit den Referierenden zu diskutieren. Wann sonst besteht schon Gelegenheit, mit einer Expertin zu erörtern, ob man durch teure esoterische Geräte zur Beeinflussung der Alphawellen tatsächlich die Hirnleistung steigern kann (Spoiler: Vorsicht!). Oder mit einem ausgewiesenen Fachmann über Alltagstricks zum Einsatz von Musik zur Motivationssteigerung zu sprechen?

 

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Das Institut Kortizes

Kortex, so nennen Fachleute die Hirnrinde. In diesem Teil des menschlichen Gehirns sind, vereinfacht gesagt, all die höheren kognitiven Funktionen lokalisiert, die menschlichen Erkenntnisgewinn ermöglichen. Dem intellektuellen Austausch über (Hirn-)Forschung, Gesellschaft und darüber hinaus auch Weltanschauung hat sich das Institut verschrieben. „Kortizes“ (lat. cortices, Plural von cortex) – das sind die Gehirne, die sich für diesen Austausch und den damit verbundenen Erkenntnisgewinn interessieren.

Das Konzept des offenen Gesprächs zwischen Fachleuten und Publikum zieht sich seit den Anfängen wie ein roter Faden durch das Programm. Am Beginn stand der „Humanistische Salon“, ein kulturelles Sonntagsangebot in Nürnberg, geprägt von den Idealen des weltlichen Humanismus, ein Netzwerk Interessierter und ein Freiraum für Bildung. Der Salon ist ein Treffpunkt für aufgeschlossene Menschen, die kreative Ideen und klare Worte schätzen und gerne über den Tag hinausdenken. Ähnlich wie in den Salons der Aufklärung werden hier die Fortschritte der Wissenschaften und die Argumente der Philosophie präsentiert und diskutiert. Lebendige Livemusik am Klavier umrahmt das Programm.

Wissenschaftskommunikation vor Ort im Nürnberger Raum

Anknüpfend an die Themen des Humanistischen Salons ist die „Akademie für säkularen Humanismus“ integraler Bestandteil von Kortizes. Die Akademie fühlt sich einem wissenschaftlichen Weltbild, einem humanistischen Menschenbild und einer säkularen Ethik verpflichtet, betreibt Bildungsarbeit, Weltanschauungsdialog und Publikationstätigkeit. Ihre Angebote werden seit Oktober 2017 schrittweise entwickelt. Sie sind an der weltanschaulichen Strömung des säkularen Humanismus und an den Idealen der europäischen Aufklärung orientiert.

Mehrere lokale Vortragsreihen – zumeist im Nürnberger Planetarium – runden das Programm von Kortizes ab. Die Vortragenden der Reihen und des Humanistischen Salons sowie die Themen der Akademie speisen den Kortizes-Podcast, der zweimal monatlich erscheint. Das größte Projekt der Kortizes-Aktivitäten ist und bleibt das jährliche Wochenendsymposium, das vor Corona regelmäßig Menschen nach Nürnberg zusammenbrachte, um über Wissenschaft zu diskutieren.

So war das diesjährige Symposium unter dem Titel „Wo sitzt der Geist? Von Leib und Seele zur erweiterten Kognition“ ursprünglich für Mitte März geplant und wurde nun auf Anfang November 2020 verschoben – natürlich mit den gebotenen Einschränkungen, orientiert am Infektionsgeschehen. Prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Wolf Singer, John-Dylan Haynes oder Herta Florwerden dann zu einer Hybrid-Veranstaltung nach Nürnberg reisen – die begrenzten Plätze vor Ort sind bereits weitgehend belegt, Online-Zuschaltung wird aber ermöglicht werden. Der Themenkomplex des Symposiums ragt tief in das menschliche Selbstverständnis hinein, bietet somit zahlreiche Anknüpfungspunkte an das Alltagsleben. Das klassische Leib-Seele-Problem, also die Beziehung zwischen dem körperlichen („Leib“/Gehirn) und dem geistigen („Seele“/Bewusstsein) wird dabei ebenso zur Sprache kommen wie das relativ neue Modell des „Embodiment“, das derzeit in den Kognitionswissenschaften diskutiert wird. Darunter versteht man die Vorstellung, dass sich unser Bewusstsein durch Wechselbeziehung von Körper und Umwelt konstituiert.

In den Vorjahren gab es bereits hochkarätig besetzte Symposien1 zu den Themen „Was hält uns jung? Neuronale Perspektiven für den Umgang mit Neuem“ sowie „Hirn im Glück – Freude, Liebe, Hoffnung im Spiegel der Neurowissenschaft“.


Projektsteckbrief

Ziel: Förderung des populärwissenschaftlichen Diskurses mit dem Schwerpunkt auf Kognitions- und Neurowissenschaften, Philosophie, Ethik, säkularer Humanismus.

Zielgruppe:  Interessierte Öffentlichkeit

Budget: Die einzelnen Vorträge können jeweils ohne Bezahlschranke und Voranmeldung von jedem internetfähigen Gerät aus verfolgt werden. Als gemeinnützige GmbH startete Kortizes mit dem Stammkapital von 25.000 Euro und ist darauf angewiesen, all seine Aktivitäten kostendeckend zu betreiben, setzt also unter anderem auf Eintrittsgelder, Förderkreis-Beiträge und Spenden.

Team: Getragen wird das Institut Kortizes durch ein Team engagierter Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen, darunter Forschung und Lehre, Wissenschaftskommunikation, Pädagogik, Didaktik und Technik. Institutsleiter Rainer Rosenzweig ist promovierter Wahrnehmungspsychologe und Wissenschaftsmanager, viele aus dem Kortizes-Team waren bereits vor der Gründung des Instituts auf dem Gebiet der Wissenschaftsvermittlung tätig und bringen ihre unterschiedliche Expertise in das Projekt ein.

Weitere Infos: https://kortizes.de/