„Hey, hast du eine Streit- oder Konfliktsituation, über die du reden möchtest?”

Mit einem Mediatruck fährt das Projekt „Streitkultour“ quer durch Deutschland, spricht mit Menschen über alltägliche Streitsituationen und gibt Tipps aus der Forschung. Im Interview sprechen Mathias Jaudas und Rune Miram über ihr Ziel, die Streitkultur in Deutschland ein „klitzekleines bisschen“ zu verbessern.

Mathias Jaudas ist promovierter Psychologe und Mitarbeiter an der Professur für Sozial- und Konfliktpsychologie an der Universität der Bundeswehr München und Projektleiter von „Streitkultour“.

Unter dem Motto „Wenn wir streiten, dann richtig“! ist das Team von „Streitkultour“ mit einem Mediatruck in ganz Deutschland unterwegs, um mit Menschen über ihre alltäglichen Streitsituationen zu sprechen. Daraus entstehen Videos mit Tipps aus der Forschung für einen besseren Umgang mit Konflikten. Wie ist die Idee zu dem Projekt entstanden?

Mathias Jaudas: Die Grundidee war, Wissenschaftskommunikation zur Konfliktpsychologie zu machen. Es gibt einige Ansätze in der Konfliktpsychologie, die gut kommunizierbar sind und Menschen helfen können, reflektierter mit Streit- und Konfliktsituationen umzugehen. So begannen wir, damals noch ohne Budget, Videos zu diesem Thema zu produzieren. Wichtig war uns schon bei diesen ersten Versuchen zu evaluieren, ob die Menschen tatsächlich etwas aus diesen Videos lernen. Und da gab es positive Ergebnisse. Daraufhin haben wir uns um Fördermittel beworben und entwickelten das Forschungsprojekt „KOKO. Konflikt und Kommunikation“, in dem der Mediatruck ein wichtiger Bestandteil ist.

Streiten ist sehr persönlich. Wie überzeugen Sie die Menschen in den Truck zu steigen und darüber zu reden?

Rune Miram ist Doktorand im Forschungsprojekt „KOKO. Konflikt und Kommunikation“ und angehender Psychotherapeut. Im „Streitkultour“-Mediatruck führt er Interviews mit Passanten und moderiert zusammen mit Marvin die Videos auf dem dazugehörigen Youtube- und TikTok-Kanal.

Jaudas: Tatsächlich stießen wir damals bei der konzeptionellen Entwicklung auf viel Skepsis. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass Menschen vor der Kamera über persönliche Streit- und Konfliktsituationen sprechen und dabei auch authentisch bleiben. Natürlich gibt es viele Menschen, für die das nicht infrage kommt. Aber vielen müssen wir das Projekt nur in ein paar Sätzen vorstellen und sie machen sofort mit. Wirklich überzeugen mussten wir bisher noch niemanden. Mittlerweile haben wir über 50 Gespräche geführt. Bisher ist es nur einmal vorgekommen, dass jemand im Nachhinein nicht wollte, dass das Video ausgestrahlt wird, weil das Gespräch sehr emotional und persönlich war. Das respektieren wir natürlich.

Gibt es immer ein festes Thema für die Gespräche und die daraus entstehenden Videos? 

Jaudas: Am Anfang hatten wir einen festen Plan, welche Themen wir wann behandeln möchten. So starr sind wir dann auch in die ersten Interviews gegangen, nach dem Motto: „Heute Bayreuth: die Themen sind Emotionen, Eifersucht und wie man damit umgeht”. Dadurch sind die Videos sehr theoretisch geworden. Wir hatten die Befürchtung, dass dadurch die Hürde, sie nebenbei zu konsumieren, zu hoch sein könnte. Jetzt sprechen wir die Leute einfach an: „Hey, hast du eine Streit- oder Konfliktsituation, über die du reden möchtest?” Die Leute erzählen dann von Streitigkeiten in der WG oder mit dem Partner. In den Videos analysieren Rune und Marvin dann die Interviews und erklären Prinzipien der Konfliktpsychologie.
Auf unserem Youtube-Kanal ergänzen wir diese längeren Videos dann mit kürzeren Clips, in denen sich die User*innen kurz über spezifische Themen wie Eifersucht oder Emotionen informieren können.

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Herr Miram, Sie führen die Interviews mit den Passant*innen. Worauf achten Sie bei den Gesprächen?

Rune Miram: Im Truck selbst versuchen wir eine Atmosphäre zu schaffen, die möglichst vergessen lässt, dass außer mir noch weitere Personen anwesend sind. Durch die Lichtverhältnisse versuchen wir, die anderen im Raum im Dunkeln verschwinden zu lassen. Das funktioniert erstaunlich gut. Den Leuten soll es so leichter gelingen in ihre Konfliktsituationen einzusteigen. Vor unserer Kamera ist zudem ein Spiegel angebracht, in dem die Leute mich sehen können, obwohl sie eigentlich in die Kamera blicken. Das soll sie vergessen lassen, dass sie vor einer Kamera sitzen.
Für das Gespräch selbst haben wir einen festen Fragenkatalog, den wir abarbeiten möchten. Es ist aber auch wichtig, auf das einzugehen, was die Leute sagen, damit eine persönliche Gesprächsatmosphäre entstehen kann.

Das Projekt ist auf vielen Social Media Kanälen mit unterschiedlichen Formaten vertreten. Allein der TikTok-Kanal hat bereits mehr als 12.000 Follower*innen. War diese breit gestreute Social Media Taktik von Anfang an geplant?

Jaudas: Die Idee des Projekts war es, Menschen auf verschiedenen Ebenen abzuholen. Jene, die gezielt nach Informationen zur Konfliktbewältigung suchen, aber auch jene, die vielleicht nur zufällig auf unsere Beiträge stoßen. Für die Umsetzung dieser Strategie und den Erfolg des Projekts ist die Zusammenarbeit mit den Agenturen für Marketing und Videoproduktion sehr wichtig. Wir hatten wenig Ahnung von Marketing und hätten manche Formate wahrscheinlich nicht ausprobiert. Die Social-Media-Agentur und die Filmagentur haben uns zum Beispiel mit viel Nachdruck dazu geraten, TikTok als Plattform zu nutzen. Auf diese Idee wären wir selbst vielleicht nicht gekommen.

@streitkultour Du bist neidisch? 🥺 Rune zeigt dir, wie du mit diesen Gefühlen besser umgehen und dein Selbstwertgefühl stärken kannst. Wann und wie Neid eigentlich entsteht? Auch darüber hat Rune gesprochen. Das Video findest du auch hier auf unserem Kanal. #emotionen #neidisch #neid #psychologie ♬ Originalton – Streitkultour

Warum müssen wir streiten überhaupt lernen?

Jaudas: Die meisten von uns hatten weder Zuhause noch in der Schule die Gelegenheit, ein richtiges Verhältnis zum Thema Streiten zu entwickeln. Viele von uns sind dazu erzogen worden, Konflikte eher zu vermeiden, als auszutragen.
Wir möchten den Menschen zeigen, dass Streiten wichtig ist, wenn es wertschätzend und konstruktiv ist.

Miram: Bei dem Projekt war es uns wichtig, nicht über „Frontalunterricht“ konfliktpsychologische Ansätze vorzutragen. Wir wollten erstmal zuhören und erfahren wie Menschen mit Konfliktsituationen umgehen, egal ob sie das nun gelernt haben oder intuitiv tun.
Denn jeder macht schon etwas gut. Darauf bauen wir auf und zeigen in den Videos, wie man in der gezeigten Konfliktsituation vielleicht noch besser reagieren könnte.
Die Menschen, die die Videos sehen, sollen sich mit der Person und der Konfliktsituation identifizieren können. Im besten Fall reflektieren sie dann ihren eigenen letzten Streit und machen es mit den Tipps beim nächsten Mal ein bisschen besser.

Herr Jaudas, sie erwähnten, dass Streitkultour Teil des Forschungsprojekts „KOKO. Konflikt und Kommunikation“ ist. Was genau wird in diesem Projekt erforscht?

Jaudas: Mit repräsentativen Befragungen wollen wir herausfinden, wie Menschen konkret mit Konflikten umgehen. Sind sie beruflich oder familiär belastet? Wo, mit wem und wie wird gestritten? Dazu gibt es bisher kaum empirische Daten. Dafür arbeiten wir mit Kolleg*innen aus verschiedenen Fachrichtungen zusammen, etwa aus der Soziologie und der Journalistik. Mit Kolleg*innen aus der Journalistik diskutieren wir beispielsweise, welche Rolle der Medienkonsum spielt und welche Bedeutung dieser im Umgang mit politischen und gesellschaftspolitischen Konfliktthemen hat. Dieser interdisziplinäre Rahmen ermöglicht es, das Thema Konflikt in seiner ganzen Breite zu betrachten.

„Die meisten von uns hatten weder Zuhause noch in der Schule die Gelegenheit, ein richtiges Verhältnis zum Thema Streiten zu entwickeln." Mathias Jaudas

Ein weiterer Teil des Projektes ist, Erfolge und Rückschläge mit anderen Akteur*innen der Wissenschaftskommunikation zu teilen. Wie findet dieser Austausch statt?  

Jaudas: Dafür nutzen wir zum Beispiel Konferenzen wie das diesjährige Forum Wissenschaftskommunikation. Dort luden wir die Teilnehmer*innen in unseren Truck ein, um über ihre – auch negativen – Erfahrungen mit Wisskomm-Projekten zu sprechen.
Generell müssen wir uns aber leider eingestehen – und das kann in so einem Projekt auch passieren -, dass wir mehr Austausch zeitlich nicht schaffen. Das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir in erster Linie an einem echten Kontakt mit der Bevölkerung interessiert sind. Das kostet so viele Ressourcen, dass wir den Austausch mit der Wissenschaftskommunikationsblase derzeit zurückfahren mussten. Wir hoffen aber, ihn bald wieder beleben zu können.

Gibt es Menschen, die zunächst verunsichert oder skeptisch sind, wenn sie erfahren, dass „Streitkultour“ ein Projekt der Bundeswehr Universität München ist?

Jaudas: Ja, das kommt immer mal wieder vor, aber viel seltener, als wir es befürchtet haben. Viele Menschen wissen nicht, dass die Strukturen denen einer zivilen Universität ähneln. Es sind normale Studiengänge, wir unterrichten ja nicht in Kriegsführung. Das müssen wir häufiger erklären. Für die meisten Leute spielt das keine Rolle, aber es gibt auch Leute, die ihre Grundsatzkritik gegenüber der Bundeswehr an uns adressieren. Als Wissenschaftler*in an der Universität der Bundeswehr hat man dieses Päckchen wohl zu tragen.

Herr Miram, Sie wünschen sich, dass durch das Projekt die Streitkultur in Deutschland ein „klitzekleines bißchen besser wird“. Sehen Sie sich diesem Ziel schon näher kommen?

Miram: Innerhalb der Interviews habe ich das Gefühl immer wieder. Es entstehen oft sehr persönliche Gespräche und viele Menschen nehmen neue Ideen oder Ansätze mit. Online trauen sich bisher nur wenige, ihre Eindrücke direkt unter unsere Videos zu schreiben. Insofern sind wir momentan noch auf eine Evaluationsstudie angewiesen, die eine Kollegin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt begleitend durchführt. Die ersten Ergebnisse stimmen uns positiv, denn sie scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass die Menschen durch das Projekt tatsächlich ein bisschen besser streiten.