Partizipation und gesellschaftlichen Austausch fördern: Das haben sich viele Museen auf die Fahnen geschrieben. Doch klappt das auch? Welche Menschen gehen überhaupt ins Museum und welche werden nicht erreicht? Gun-Brit Thoma und Lorenz Kampschulte haben dazu geforscht.
„Für uns ist das primäre Ziel, ein Museum für alle zu sein“
Sie haben in einer empirischen Studie untersucht, welche Menschen in welche Museen der Leibniz-Gemeinschaft gehen. Wie lässt sich das herausfinden? Und woher weiß man, wer gar nicht kommt?
Lorenz Kampschulte: Der breiteste Ansatz wäre eine groß angelegte Bevölkerungsbefragung, um herauszufinden, welche Bevölkerungsteile in welche kulturellen Einrichtungen gehen. Das wäre natürlich ein großer Aufwand, weil man einen repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung braucht. Deswegen haben wir einen kleineren Ansatz gewählt und Besucher*innen befragt, die in unsere Häuser kommen. Wir wollten wissen: Was sind das für Menschen? Davon ausgehend versuchen wir zu erschließen: Wer kommt eigentlich nicht? Dadurch, dass wir unseren Fragebogen an das Nationale Bildungspanel (NEPS) und die PISA-Studie angelehnt haben, können wir die Daten, der von uns befragten Besucher*innen, gut mit denen der Gesamtbevölkerung vergleichen.
Sie haben die Besucher*innenstruktur der acht Leibniz Forschungsmuseen verglichen. Um welche Arten von Museen geht es?
Gun-Brit Thoma: Die Museen umfassen drei verschiedene Typen: Naturkundemuseen, naturwissenschaftlich-technische Museen und kulturhistorisch-archäologische Museen. Wir gehen davon aus, dass die verschiedenen Typen untereinander Ähnlichkeiten haben, z.B. in der Art der Präsentation von Ausstellungen– und dadurch jeweils bestimmte Besuchendengruppen anziehen. In vielen Naturkundemuseen findet man zum Beispiel Dioramen oder Inszenierungen von verschiedenen Lebensräumen, die naturwissenschaftlich-technischen Museen setzen auf besondere technische Ausstellungsstücke und versuchen Funktion und gesellschaftlichen Kontext zu erläutern, bei den kulturhistorischen Museen sprechen häufig einzelne Objekte für sich.
Was wollten Sie von den Besucher*innen wissen?
Thoma: Wir wollten mit unserer Studie nicht nur an der Oberfläche kratzen. Bei bisherigen Besuchendenbefragungen wurden sehr viele demographische Aspekte abgefragt. Wir wissen also ungefähr, wie alt Museumsbesucher*innen sind, welches Geschlecht sie haben und welchen Bildungsgrad. Wir wissen aber aus der Bildungsforschung, dass nicht nur solche Faktoren Einfluss darauf haben, wie die Freizeit gestaltet wird. Auch die Persönlichkeit, Motivationen und Erwartungen spielen eine Rolle. Deshalb haben wir stärker psychologische Konstrukte wie die Offenheit für neue Erfahrungen eingesetzt, die zum Beispiel ein guter Indikator für kulturelle Aktivitäten ist. Das führte dazu, dass der Fragebogen mit einer durchschnittlichen Antwortdauer von 20 Minuten ungewöhnlich lang war.
Kampschulte: Bei der Entwicklung geholfen hat uns, dass nicht nur Museen, sondern auch fünf große Bildungsforschungseinrichtungen Teil dieser Kooperation sind. So bringt zum Beispiel meine Kollegin Gun-Brit Thoma vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) die Fachexpertise für Befragungen von pädagogisch-psychologischen Themen mit, die an Museen normalerweise nicht vertreten ist.
Wann und wie haben Sie die Befragung durchgeführt?
Kampschulte: Wir haben in den acht Museen von Herbst 2018 bis Herbst 2019 insgesamt gut viereinhalb Tausend Besucher*innen befragt. Ziel war, in jedem Museum eine möglichst breite Besucherschaft zu erreichen. Über das Jahr schwanken nicht nur die Zahlen, auch die Zusammensetzung der Besucher*innen variiert. Zum Beispiel haben wir in den Osterferien im Deutschen Museum in München extrem viele Besuchende aus dem Bayrischen Raum. Im Sommer kommen sehr viele Tourist*innen, im November jedoch kaum welche. Deshalb haben wir drei unterschiedliche Messzeiträume definiert, die diese verschiedenen Besucherschichten abdecken sollen.
Forschungsmuseen in der Leibniz-Gemeinschaft
Die empirische Untersuchung wurde in acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft durchgeführt, die sich gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologisch relevanten Fragestellungen widmen und erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung betreiben.
Naturkundemuseen:
Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (MfN) in Berlin.
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SNG): Naturmuseum in Frankfurt.
Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB): Museum Koenig in Bonn
Kulturhistorische und archäologische Museen
Deutsches Schifffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DSM) in Bremerhaven.
Germanisches Nationalmuseum – Leibniz-Forschungsmuseum für Kulturgeschichte (GNM) in Nürnberg.
Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA): Museum für Antike Schifffahrt in Mainz.
Naturwissenschaftlich-technische Museen
Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik (DM) in München.
Deutsches Bergbau-Museum – Leibniz-Forschungsmuseum für Georessourcen (DBM) in Bochum.
Kampschulte: Die soziodemografischen Daten der Besuchendenschaft unterscheiden sich über die Häuser hinweg sehr deutlich. Wir sehen zum Beispiel, dass ins Museum für Naturkunde in Berlin sehr viele Jugendliche zwischen 15 und 29 Jahren gehen. In den anderen Häusern sind das deutlich weniger. Ein möglicher Grund ist, dass das Museum für Naturkunde schon lange sehr eng mit Fridays for Future zusammenarbeitet und dadurch wahrscheinlich mehr junge Besucher*innen anzieht.
Die Befragung hat uns auch das hohe Bildungslevel unserer Besucher*innen vor Augen geführt. Obwohl wir das eigentlich wussten, hat uns das Ergebnis doch schockiert. 70 Prozent der Besuchenden haben Abitur, in der deutschen Gesamtbevölkerung sind es 35,7 Prozent. Das ist für uns schon ein bisschen frustrierend. Denn diese Problematik haben wir bisher vor allem den Kunstmuseen zugeschoben und gesagt: Wir sind die niedrigschwelligen Museen, die keine großen Hürden haben. Aber wir haben sie anscheinend doch. Von hier müssen wir weiterdenken und überlegen, wie wir uns für neue Zielgruppen öffnen können.
Wie sieht es bei Menschen mit Migrationshintergrund aus?
Die Städte, in denen sich die Museen befinden, unterschieden sich unter anderem in ihrer Größe und ihrer Einwohner*innenstruktur. Inwiefern kann man die Ergebnisse vergleichen?
Thoma: Klar beeinflusst der Ort sehr deutlich die Besuchendenstuktur – nehmen Sie nur die zwei Extreme Deutsches Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven am nördlichen Rand von Deutschland und das Museum für Naturkunde mitten in Berlin. Aber es gibt noch mehr Einflussfaktoren: Man muss bei der Interpretation auf jeden Fall immer im Hinterkopf behalten, dass wir nur acht Museen betrachten, die Befragungen an unterschiedlichen Tagen stattgefunden haben, dass das Wetter möglicherweise unterschiedlich war und die Städte verschieden groß sind. Wir können nicht schlussfolgern: Naturkundemuseen haben immer das und das Publikum. Wir müssen einschränkend sagen: Für diese drei Museen haben wir das herausgefunden. Aber dadurch, dass wir relativ große Stichproben und immer mehrere Museen von einem Typ dabei haben, können wir schon Tendenzen erkennen. In einer weiteren Besucher*innenstrukturanalyse wollen wir versuchen, noch weitere Aspekte und Faktoren miteinzubeziehen – etwa das Wetter und die Größe des Museums.
Sie wollten auch wissen, welche Rolle Persönlichkeitsmerkmale spielen. Was haben Sie herausgefunden?
Thoma: Die ,Big Five’ Persönlichkeitsmerkmale – Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus – sind ein klassisches Instrument, um verschiedene Persönlichkeiten zu charakterisieren: Besonders hat uns dabei die Offenheit für neue Erfahrungen interessiert. Dieser Aspekt setzt sich aus drei unterschiedlichen Faktoren zusammen: ästhetisches Empfinden, Einfallsreichtum und intellektuelle Neugierde. Die bisherigen Befunde stammten eher aus dem Bereich der Kunstmuseen, aber zeigten, dass je nach Persönlichkeit unterschiedliche Kunstpräferenzen bestehen. Darauf aufbauend kann man die Hypothese aufstellen, dass unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale auch beeinflussen, welcher Museumstyp besucht wird. Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Merkmal Offenheit für neue Erfahrungen tatsächlich einen Einfluss darauf hat, dass überhaupt Museen besucht werden. Habituelle Besucher*innen, die mehr als fünfmal im Jahr ins Museum gehen, zeichnen sich dadurch aus, dass sie offener für neue Erfahrungen sind.1
Was hat Sie an den Ergebnissen überrascht?
Thoma: Ich fand bemerkenswert, dass das Merkmal „Offenheit für Neues“ und damit die Persönlichkeit eines Menschen mit dafür verantwortlich ist, wie häufig sie ins Museum gehen. Das fand ich sehr spannend. Meines Wissens nach wurde das bisher noch nie außerhalb von Kunstmuseen berücksichtigt.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus den Ergebnissen für Ihre Arbeit – und in Bezug auf die Frage, welche Rolle Museen zukünftig in der Gesellschaft spielen wollen?
Kampschulte: Für uns ist das primäre Ziel, ein ‚Museum für alle‘ zu sein. Das haben sich eigentlich alle Museen, die beteiligt waren, auf die Fahnen geschrieben. Die Daten zeigen, dass wir noch nicht an diesem Punkt sind. Es wird immer einen Teil der Bevölkerung geben, den wir nicht erreichen. Aber der Teil, den wir potenziell erreichen können, ist größer als der, den wir aktuell erreichen. Insofern lautet die Frage: Welche Maßnahmen müssen wir einleiten, um besser zu werden? Die Daten helfen uns dabei auf drei Arten: Zum einen können wir mit diesen harten Fakten in Richtung der Geldgeber*innen und des Managements argumentieren, dass wir etwas tun müssen. Zweitens können wir damit die Zielgruppen, die wir ins Haus bekommen wollen, besser definieren: zum Beispiel Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen. Drittens – und das ist für mich eigentlich der wichtigste Punkt – können wir durch die vergleichbare Datengrundlage mit den anderen Museen und den Bildungseinrichtungen in die Diskussion gehen und gemeinsam Ideen und Formate entwickeln, die wir an verschiedenen Museen ausprobieren und forschungsbegleitend analysieren können.
Gibt es konkrete Ideen, wie es weitergeht?
Thoma: Zum einen planen wir eine neue Besucher*innenstrukturanalyse. Die erste Befragung ist gerade vor Beginn der Pandemie fertig geworden. Deshalb ist es spannend, jetzt noch mal zu schauen. Corona hat die Museen deutlich verändert – aber wir wissen noch nicht genau, wie. Wir wollen zum Beispiel wissen: Welche der neuen digitalen Angebote – wie virtuelle Rundgänge oder Videos – nutzen Besucher*innen vor oder nach ihrem Besuch. Ein zweiter spannender Punkt ist die Frage des Vertrauens. Während der Pandemie haben wir viel über Vertrauen in die Wissenschaft gesprochen – aber war ist mit den Museen? Wir halten uns für relativ glaubwürdig, wollen diese Annahme aber genauer hinterfragen. Für den Herbst planen wir eine Tagung mit dem Schwerpunkt „Vertrauen in Museen“. Auch im Vergleich zu anderen Ländern wollen wir gucken, wie wir uns als deutsche Museen positionieren.
Thoma: Außerdem wollen wir unsere Daten und Methoden nutzen, um andere Museen zu befähigen, selbst Befragungen durchzuführen. Gerade in den kleineren Häusern gibt es dafür oft keine Kapazitäten. Wir sind dabei eine Plattform aufzubauen, die es erlaubt sehr niedrigschwellig einen Fragebogen zum Beispiel aus bestehenden Modulen zusammenzubauen und die Ergebnisse zu analysieren. Auch hier spielt natürlich der Vergleich mit anderen, ähnlichen Einrichtungen eine zentrale Rolle. Parallel dazu wird vom Kompetenzzentrum ein Schulungssystem aufgebaut, um gerade auch kleineren Museen den Start in die Besucher*innenforschung zu erleichtern.