Saurier raus, Demokratie rein? Das Berliner Naturkundemuseum baut um – nicht nur seine Ausstellung, sondern auch sein Wissenschaftsverständnis. Sarah Darwin, Ururenkelin von Charles Darwin, und Museumsdirektor Johannes Vogel erklären, warum sich die Wissenschaft stärker in die Politik einmischen muss.
Frau Darwin, Herr Vogel – wie politisch ist die Natur?
Herr Vogel, sind Dinosaurierknochen politisch?

Johannes Vogel: Oh, unsere Dinosaurierknochen hier im Berliner Naturkundemuseum sind extrem politisch, weil sie in einem kolonialen Kontext gesammelt wurden. Morgen empfange ich eine Delegation von 19 tansanischen Ministern und Beamten, um mit ihnen darüber zu diskutieren. In diesem Sinne ist die Antwort also einfach.
Aber ich glaube, Ihre Frage war, ob Dinosaurierknochen im Allgemeinen politisch sind. Und auch hier würde ich sagen: Ja. Wenn Sie unsere zentrale Halle betreten, sehen Sie das Leben auf der Erde vor 150 Millionen Jahren. Direkt vor Ihnen steht das größte Wesen, das jemals auf der Erde gelebt hat, mit einer Höhe von 14 Metern. Sie können ihm nicht einmal in die Augen sehen.
Die Dinosaurier waren lange Zeit eine der erfolgreichsten Lebewesen überhaupt. Und doch hat eine Veränderung der Umwelt – die sie nicht selbst verursacht haben – all dieser Pracht und Herrlichkeit ein Ende bereitet. Das sollte uns zum Nachdenken darüber anregen, was wir unserem eigenen Planeten antun. In vielerlei Hinsicht sind wir die Dinosaurier. Und wenn wir nicht aufpassen, könnte uns ein ähnliches Schicksal ereilen – nur dass wir es dieses Mal selbst verschuldet haben.
Die Dinosaurier in der Eingangshalle müssen nun dem „Parlament der Natur“ Platz machen. Was genau soll dort passieren?
Vogel: Wir bemühen uns – mit einigem Erfolg – schon seit Jahren, ein Parlament der Natur zu sein, was bedeutet, wissenschaftsbasierte Dialoge über die Zukunft unseres Planeten und unserer Demokratie zu führen. Dafür sind wir anerkannt, und 2018 haben wir vom Deutschen Bundestag und dem Berliner Abgeordnetenhaus 660 Millionen Euro Unterstützung erhalten, um unser Museum zu erneuern und mehr Platz zu schaffen. Wir haben die Möglichkeit, nicht nur neu zu bauen, sondern unsere Institution auf einer konzeptionellen und intellektuellen Ebene neu zu denken.
Darüber hinaus verfügt unser Museum über eine einzigartige Struktur mit drei riesigen Höfen, die viel größer sind als die Eingangshalle. Zwei dieser Höfe werden mit einem Dach überdeckt. Durch diese Erweiterung wird ein angemessenerer Raum für unsere prachtvollen Dinosaurier geschaffen, so dass sie viel mehr Platz haben. Dadurch wird die vordere Halle wieder frei.
Dieser Bereich kann dann unabhängig funktionieren – sowohl während als auch außerhalb der Öffnungszeiten des Museums, möglicherweise rund um die Uhr als Raum für Diskussionen, als Parlament der Natur.

Warum ist ein Naturkundemuseum der richtige Ort dafür?
Vogel: Im Moment hat die Natur in der politischen Debatte keine Stimme. Wenn man sich den Wahlkampf oder die Sondierungspapiere der potenziellen Koalitionspartner anschaut, fehlen zwei Dinge: Natur und Kultur. Sie sollten im Zentrum jeder ernsthaften Vision für die Zukunft einer Welt- und Industriemacht wie Deutschland stehen.
Die Wissenschaft wird erwähnt, aber auch sie steht nicht im Mittelpunkt der politischen Debatte. Die Wissenschaft muss mehr tun, als nur Ergebnisse zu veröffentlichen und zu hoffen, dass die Menschen zuhören. Das ist das Problem – die Wissenschaft ist zu sehr auf sich selbst bezogen und nicht genug mit der Gesellschaft verbunden, um die Unterstützung zu erhalten, die sie verdient.
Unser Museum zieht jedes Jahr rund 800 000 Besucher an, die den Kontakt zur Wissenschaft suchen. Wir sind das meistbesuchte, vielleicht auch beliebteste und vertrauenswürdigste Museum in Berlin. Das gibt uns eine gewisse Handlungsfähigkeit.
Was Sie in diesem Parlament der Natur sehen wollen, ist, dass sich diese Begeisterung in…
Vogel: … in Wissen und dann in Taten umgesetzt wird. Leider ist – wenn wir Hannah Arendt folgen – die Hoffnung der Feind des Handelns. Wir müssen für die Natur handeln, nicht nur für die Natur hoffen.
Sarah Darwin: Diese Idee ist Teil der Neugestaltung des Museums, des Zukunftsplans. Das Museum arbeitet schon lange auf diese Weise mit der Öffentlichkeit zusammen. Wissenschaft sollte ein Dialog sein, kein einseitiger Vortrag. Wir müssen reden und wirklich zuhören, was die Menschen bewegt.
Das haben wir bereits in verschiedenen Projekten getan. Das sieht man an unseren Ausstellungen: Sie vermitteln nicht nur Fakten. Sie laden die Besucher ein, auf Entdeckungsreise zu gehen. Das Besondere an diesem Museum ist, dass die Leute nicht auf ihre Handys starren, während sie herumlaufen. Sie diskutieren über das, was sie sehen, und weisen ihre Freunde auf Dinge hin. Das ist genau die Art von Dialog, die wir in Zukunft fördern wollen.
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie Ihr Museum als das politischste Naturkundemuseum der Welt. Was macht es so politisch?
Vogel: Wir glauben, dass nichts ist so politisch wie die Natur ist. Wenn wir das akzeptieren, dann muss das „Haus der Natur“ in Bezug auf die Themen, die es behandelt, per Definition auch politisch sein. Die Dringlichkeit von Themen wie das sechste Massenaussterben, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Aushöhlung der Menschenwürde und -rechte. Dies sind Themen, die wir nicht ignorieren können.
Wir sind jedoch darauf bedacht, uns von Parteipolitik fernzuhalten. Unser Ansatz ist im weitesten Sinne politisch. Wir engagieren uns in der Politik, wir engagieren uns in unserer Gemeinschaft, und wir denken darüber nach, was die Gesellschaft anpassungsfähiger und dynamisch macht. Wir glauben, dass es wichtig ist, zu Themen Stellung zu beziehen, die die Zukunft einer demokratischen, wissensbasierten Gesellschaft beeinflussen.
Sie schreiben, dass Umweltkrisen und die Krise der Demokratie miteinander verbunden sind. Auf welche Weise?
Vogel: Jeder Mensch hat eine Pyramide der Bedürfnisse. An der Basis stehen die Grundbedürfnisse: Nahrung, Wasser, Obdach und Luft. Wenn die Ausbeutung natürlicher Ressourcen unseren Zugang zu diesen Grundbedürfnissen untergräbt, beginnt die Gesellschaft zu zerbrechen.
Wie wir in den letzten Jahrhunderten gesehen haben, kann ein solcher Zusammenbruch zum Aufstieg von Populist*innen und nicht-demokratischen Systemen führen. Und ich möchte nicht, dass das passiert. Mir liegt sehr viel daran, einen nachhaltigen Weg zu finden, damit so viele Menschen wie möglich ein gutes Leben auf diesem Planeten führen können. Es ist genug für alle da.
Wenn grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Gemeinschaft und Sicherheit nicht mehr gewährleistet sind oder aktiv untergraben werden, ist die Stabilität der Demokratie gefährdet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Demokratie dies mittelfristig überleben kann.
Frau Darwin, Sie argumentieren, dass Rituale, die von religiösen Gewohnheiten inspiriert sind, die Bemühungen um den Naturschutz unterstützen könnten. Könnten Sie das genauer erklären?
Darwin: Psycholog*innen weisen oft darauf hin, dass schlechte oder traurige Nachrichten nicht immer zum Handeln führen. In manchen Fällen führen sie sogar zur Untätigkeit. Die Art und Weise, wie die Medien über Umweltkrisen berichten, ist nicht hilfreich. Schlagzeilen über fast ausgestorbene Arten, wie die 10 Nashörner, die an einem Ort übrig geblieben sind, erinnern ständig an die Negativität, aber sie tragen wenig dazu bei, dass sich die Menschen für Lösungen einsetzen.
Vor einigen Jahren schrieben Dr. Stephen Cave und ich einen Artikel für AEON über das Potenzial von Ritualen, umweltfreundlicheres Verhalten zu fördern. Einige der Rituale, die wir ausprobiert haben, wurden von Aktivist*innen entwickelt, um diese negativen Auswirkungen auszugleichen und ein Gefühl von Gemeinschaft und gemeinsamen Zielen zu schaffen. Ein wichtiger Punkt, den wir bei unserer Recherche herausgefunden haben, ist, dass das Zusammenkommen, das regelmäßige Praktizieren von Gemeinschaft mit anderen, denen die Natur am Herzen liegt, tatsächlich verhindert, dass Negativität die Oberhand gewinnt. Denn seien wir ehrlich: Naturschutz kann manchmal eine deprimierende Angelegenheit sein.
Was könnten Wissenschaftskommunikator*innen besser machen?
Darwin: Wissenschaftskommunikator*innen und Journalist*innen müssen der Öffentlichkeit komplexe Sachverhalte zugänglich machen. Wenn man sich die Veröffentlichung von „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ vor Augen führt, so wollte Charles Darwin damit die Öffentlichkeit erreichen, nicht nur die wissenschaftliche Gemeinschaft. Das Buch wurde an Bahnhöfen verkauft und war bereits am ersten Tag der Veröffentlichung ausverkauft.
Die Wissenschaft kann das auch heute noch, aber sie muss sich selbst zugänglicher machen, angefangen bei jüngeren Zielgruppen in der Schule und darauf aufbauend durch lebenslanges Lernen und Bürger*innenwissenschaft. Dieser Ansatz kann dazu beitragen, wissenschaftliche Konzepte für Menschen aller Altersgruppen verständlicher zu machen, so wie wir es mit dem Mathematikunterricht für Kinder machen.
Man lernt ein bisschen Algebra, und im darauf folgenden Jahr wird es ein bisschen komplizierter, man baut darauf auf. Und genau das müssen wir auch mit der Wissenschaft tun, damit jede*r an einer wissenschaftlich fundierten, rationalen Entscheidungsfindung für unsere Demokratie und unsere Zukunft teilhaben kann.
Wie können wir Ihrer Meinung nach die Neugierde junger Menschen für die Natur neu wecken?
Darwin: Die Liebe zur Natur ist uns von Geburt an mitgegeben. Gehen Sie mit einem zweijährigen Kind in den Garten, und es wird jeden Stein umdrehen und Käfer oder Würmer bestaunen. Diese natürliche Neugier und das Staunen müssen wir ein Leben lang pflegen und fördern.
Wenn Sie 16-Jährige fragen, wie viele Stunden sie am Tag mit dem Handy verbringen, sind es wahrscheinlich etwa 6 Stunden im Durchschnitt. Das eigentliche Problem ist nicht der Zeitmangel, sondern die Frage, wie man sie mit etwas beschäftigen kann, das sie interessiert. Geselligkeit spielt eine große Rolle, und das ist etwas, das wir an Orten wie Museen anbieten können.
Ich kann nicht verstehen, warum nicht mehr wissenschaftliche Einrichtungen diesen Ansatz verfolgen. Es scheint, dass viele gut finanzierte Wissenschaftsorganisationen in Deutschland nicht bereit sind, mehr Risiken einzugehen, abenteuerlustiger zu sein.
Ein ständiger Dialog mit der Gesellschaft und die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse hätten die Wissenschaft für die kommenden Herausforderungen und Mittelkürzungen gewappnet. Es wurde viel zu wenig getan, um die möglichen Mittelkürzungen, die die deutsche Wissenschaft treffen könnten, zu vermeiden.
Herr Vogel, Sie haben wiederholt einen „Tag für die Demokratie“ in der Wissenschaft vorgeschlagen – warum?
Vogel: Ich würde sagen, dass Wissenschaftler*innen von Natur aus unternehmerisch und passioniert sind, aber sie machen ihre Arbeit oft mit dem Geld der Öffentlichkeit – alles völlig legitim. Wenn man jedoch seine Geldgeber*innen zufrieden stellen will, sollte man in engem Kontakt mit ihnen bleiben, sowohl intellektuell als auch emotional. Wir müssen uns darum kümmern, wie unsere Arbeit mit der Gesellschaft und den politischen Systemen um uns herum interagiert. Ich glaube, dass es im besten Interesse der Forschenden sein sollte, dies zu tun.
Darwin: Wir sollten auch deutlich machen, dass Johannes natürlich alle Mitarbeitenden des Museums dazu ermutigt, dies zu tun.
Vogel: Ja, das ist etwas, woran wir im Museum aktiv arbeiten. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich hier um eine institutionelle Verpflichtung handelt, nicht nur um eine persönliche. Nicht alle müssen ihr Werkzeug weglegen, aber das System muss so strukturiert sein, dass die Institutionen etwa 20 Prozent ihrer Gesamtarbeit dafür reservieren. Und das Museum für Naturkunde Berlin ist damit fast am Ziel.
Viele Wissenschaftler*innen vermeiden es, sich an gesellschaftlichen Debatten zu beteiligen, weil sie befürchten, des Aktivismus bezichtigt zu werden. Was sagen Sie denen, die befürchten, dass die Wissenschaft ihre Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie eine politische Haltung einnimmt?
Vogel: Das ist ein heikles Thema. Ein gutes Beispiel, wie wir das lösen, war der Beginn der „Fridays for Future“ Demonstrationen in Berlin. Kurz nach deren Beginn öffneten wir jeden Freitagnachmittag unsere Türen für die Demonstrant*innen, die „Follow the science!“ skandierten. Wir waren völlig einverstanden mit dem, wofür sie eintraten – einen wissenschaftsgeleiteten Ansatz zur Bewältigung der Klimakatastrophe. Wir haben dann Forschenden aus den relevanten Disziplinen in Deutschland und Berlin, auch aus unserer eigenen Organisation, eingeladen, um mit diesen jungen Menschen wissenschaftliche Debatten zu führen.
Nun, unter bestimmten Definitionen könnte man sagen, dass das Museum und die Wissenschaft selbst damit aktivistisch wurde. Ich würde jedoch argumentieren, dass es unsere Pflicht als Leibniz-Forschungsmuseum ist, einen Raum für einen wissenschaftsbasierten Dialog zu schaffen. Wenn die Diskussionen sachlich sind und auf Fakten beruhen, mit Handlungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, dann ist das kein Aktivismus – es ist die Essenz der Wissenschaft.
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