Um zu erfahren, wann und wie Partizipation in der wissenschaftlichen Praxis gelingt, hilft der Blick auf empirische Forschungsansätze. Über deren Herausforderungen, Methoden und Ziele spricht Hochschul- und Wissenschaftsforscher Ronny Röwert.
„Forschung ist in ihrer DNA partizipativ angelegt“
Welche Herausforderungen birgt die Erforschung partizipativer Wissenschaft?
Zuerst einmal ist es schwierig, abzugrenzen: Wann ist Wissenschaft partizipativ und wann eher nicht? Dieser Gegenstand ist für die Hochschul- und Wissenschaftsforschung zunächst schwer greifbar, denn Forschung ist in ihrer DNA partizipativ angelegt, nur kommt dies nicht immer zur Geltung. Sie ist auf Impulse und zur Verfügung gestellte Daten aus der Gesellschaft angewiesen. Partizipative Wissenschaft wird zwar als aktuelles Phänomen behandelt, das auch wissenschaftspolitisches Interesse weckt, man denke an das gerade unter dem Motto „Nachgefragt!“ vom BMBF ausgerufene Wissenschaftsjahr 2022, aber natürlich ist es kein neues Phänomen. Bereits vor knapp 100 Jahren zeigte die bis heute Maßstäbe für die empirische Sozialforschung setzende Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ des Forschungsteams um Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel, wie breit das methodische Repertoire durch teilnehmende Beobachtungen, Gespräche bei Hausbesuchen, Interventionen bei der Sozialversorgung bis hin zu quantitativen Erhebungen zu Ressourcenbudgets der betroffenen Bevölkerung auf eine partizipative Art ausgeschöpft werden kann. Auch heute noch würde man es als „State of the Art“ bezeichnen, denn es wurde versucht, Forschungsansätze sehr partizipativ mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam zu entwickeln. Bis heute sehen wir ähnliche, aus Perspektive partizipativer Wissenschaft sehr vorbildhaften Ansätze, die jedoch von den Forschenden selten so verstanden und benannt werden. Dadurch wird partizipative Wissenschaft empirisch schwer greifbar.
Was ist Ziel der Erforschung partizipativer Wissenschaft?
Natürlich möchte man daraus am Ende gestaltungs- und handlungsorientierte Aussagen ableiten – im Sinne von: Wie können wir als Forschende die Gesellschaft, die breite Wissenschaft und auch strukturell benachteiligte Wissenschaftscommunities leichter und besser beteiligen? Auch hier gilt, dass Partizipation in der Wissenschaft keinem Selbstzweck dient, sondern eine partizipative Forschungspraxis neue Impulse zulässt und auch den Transfer von Ergebnissen und Erkenntnissen in die Gesellschaft wesentlich erleichtern kann. Zumindest ist mein Ansatz, dass ich dafür ein gewisses Orientierungswissen mitgeben möchte, wenn ich entsprechende Phänomene beforsche.
Mit welchen Methoden lassen sich partizipative Wissenschaftsprojekte erforschen?
Ebenso denke ich, dass die Option zu wenig genutzt wird, uns als Forschende selbst zu reflektieren und autoethnografische Forschung zu betreiben. Denn wir sind als partizipativ Forschende zugleich selbst ein wunderbares Untersuchungsobjekt.
Ein weiteres Beispiel für vielversprechende methodische Zugänge sind soziale Netzwerkanalysen, also die eher quantitative Erfassung und Analyse sozialer Beziehungen und sozialer Netzwerke. Für die Beforschung von Citizen-Science-Projekten lassen sich so neue Erkenntnisse gewinnen. Es kann untersucht werden: Wer beteiligt sich an einem Vogelbeobachtungsprojekt, um ein klassisches Citizen-Science-Beispiel zu nennen? Denn Partizipation bedeutet immer auch, dass sich nur bestimmte Gruppen beteiligen. Wer nimmt beispielsweise an klassischen Ringvorlesungen teil? Dies sind meist, das zeigen uns neueste Evaluationsergebnisse, interessierte akademisch gebildete Menschen. Man geht also gar nicht so sehr aus dem Wissenschaftskosmos heraus, wie man möchte. Mit diesen neuen Perspektiven mehr zu forschen wäre enorm gewinnbringend, erfordert aber eine kritische Haltung zu partizipativer Forschung auch vonseiten der Beteiligten, insbesondere der Forschenden, selbst.
Findet also zu wenig kritische Reflexion partizipativer Forschungsprojekte statt?
HochHochschul heißt, Partizipation ist eine Ressourcenfrage?
Absolut. Im Rahmen meines Dissertationsvorhabens richte ich den Blick besonders auf die bereits engagierten Wissenschaftler*innen im Bereich Open Science. Von ihnen höre ich immer wieder, dass das zusätzliche Arbeit ist. Das Engagement wird beispielsweise als „20 Prozent zusätzlicher Aufwand“ beschrieben. Wenn Forschende besonders partizipativ forschen sollen, muss man dem Mehraufwand Rechnung tragen.
Möglichkeiten, dem gerecht zu werden, wären aus meiner Sicht beispielsweise eine gewisse Reputationsrelevanz. Dass es also das eigene Forschungsprofil stärken kann oder in der Drittmittelförderung Berücksichtigung findet, wenn man nicht nur Daten erhebt, sondern sie auch zum Beispiel interaktiv webbasiert visualisiert, wie wir das in der Coronapandemie gewinnbringend gesehen haben. Es ist sehr integrativ, das zu tun, aber auch ein zusätzlicher Aufwand.
Wichtig wären also Anreize für Forschende, diese zusätzliche Arbeit zu leisten. Man kann als Universität oder Forschungsförderung relativ leicht offene oder partizipative Wissenschaft oder Wissenschaftskommunikation einfordern. Aber man muss überlegen: Welche Ressourcen und Förderformate braucht es dafür? Andernfalls wird das Ganze zu einer Partizipationsfassade.
Können Sie die Erforschung partizipativer Wissenschaft an einem weiteren Beispiel erklären?
Das Projekt trägt aber auch den Gedanken von partizipativer Wissenschaftskommunikation Rechnung. Wir wollten einen Eindruck geben, wie es Menschen in der Wissenschaft geht und zeigen, dass wir nicht nur rein rationale, neutrale und immer ausgeschlafene Wissenschaftler*innen sind, die jetzt ganz leicht über Nacht aufs Digitale umstellen, sondern einen Blick hinter die Kulissen erlauben: Wie macht das mit der Entgrenzung von Arbeit und Privatheit? Wie sehr kann ich meine Forschungsprojekte weiter umsetzen? Vor welche neuen Alltagsherausforderungen stellt mich das? Unsere Einblicke teilen wir bis heute medial, zum Beispiel via Twitter.
Was hat sich durch die Digitalisierung verändert?
Wenn wir den Blick weiter auf die Forschungspraxis richten und das anhand von Open Science betrachten, hat die Coronapandemie gezeigt, dass sich interne und externe Wissenschaftskommunikation gar nicht mehr trennen lässt, wenn ich es mal radikal formuliere. Als Beispiel: Wenn in der Virologie ein Preprint veröffentlicht wird, um ihn wissenschaftsintern im Sinne des Open Peer-Review zu diskutieren, wird er inzwischen schnell auch in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und besprochen. Das sah man eindrucksvoll am Beispiel eines von der Arbeitsgruppe um Christian Drosten im April 2020 veröffentlichten Preprint, das schnell mediale Aufmerksamkeit erfuhr, wie Claudia Frick in einer Fallanalyse anschaulich rekonstruiert. Dadurch, dass Publikationen per Preprint bereits früh digital auffindbar sind, kommt es so dann auch teils unbeabsichtigt zu einer partizipativeren Wissenschaft.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die Erforschung von digitalen Forschungsprojekten?
Ein gutes Beispiel wäre das Projekt coronarchiv, eine Plattform, auf der Bürger*innen ihre Alltagseindrücke der Pandemie fotografisch teilen können. So sammelt die Geschichtswissenschaft im Sinne von Public History während der Pandemie in Echtzeit Daten, die später für Forschungszwecke spannend sein können. Ich glaube, solche Projekte müssen sich auf die Lebenswelt der Menschen beziehen, dann kann das im digitalen Raum sehr gut funktionieren. Vermutlich schafft das coronarchiv bereits einen Mehrwert, bevor es erforscht wird – einfach, indem man Alltag teilen und Gemeinschaftlichkeit in Zeiten der Distanz herstellen kann.
Sie beschäftigen sich in Ihrer eigenen Forschung vor allem mit Open Science. Was kann man aus diesem Bereich für die Erforschung von partizipativer Wissenschaft mitnehmen?
Ein Punkt wäre die bereits angedeutete Entgrenzung. Denn wenn Wissenschaft offen ist, also Daten, Software und Publikationen öffentlich zugänglich sind, lässt sich die Aufteilung in ein Drinnen und Draußen im Bereich der Wissenschaft kaum noch aufrechterhalten. Die Grenze, die da gezogen wird, wird zunehmend zu einer künstlichen. Das wirft die Frage auf, was dies mit Forschung und Wissenschaft macht sowie daran anschließend, welche veränderten politischen Rahmenbedingungen dafür notwendig sind. Ein mehr als vielversprechendes Betätigungsfeld für die Hochschul- und Wissenschaftsforschung.