Foto: Jan Kopřiva

 „Expert*innen wollen nicht aufs Glatteis geführt werden“

Während der Coronapandemie sind viele Wissenschaftler*innen ins Rampenlicht getreten, die vorher kaum Erfahrungen mit Medien und Öffentlichkeit hatten. Der Kommunikationswissenschaftler Daniel Nölleke hat Expert*innen in Österreich dazu befragt, wie sie diese Situation erleben. 

Sie haben mit Ihren Kolleg*innen Folker Hanusch und Birte Leonhardt eine qualitative Studie zu den Erfahrungen österreichischer Expert*innen in der Coronapandemie durchgeführt. Was wollten Sie herausfinden?

Daniel Nölleke ist Juniorprofessor für Sportjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit am Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Deutschen Sporthochschule Köln. An der Universität Wien, wo Nölleke zuvor als Postdokorand tätig war, hat er mit Folker Hanusch und Birte Leonhardt eine qualitative Studie zu den Erfahrungen österreichischer Expert*innen in der Coronapandemie durchgeführt. Er hat am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster mit einer Arbeit zum Thema Expert*innen im Journalismus promoviert. Foto: Michael Winkelmann

Ausgangspunkt war, dass wir während der Pandemie gesehen haben, wie Expert*innen im Journalismus immer wichtiger wurden. Es ging in den Diskursen dann auch sehr prominent um Fragen wie: Wer ist der*die richtige Expert*in, wer hat den*die beste*n Expert*in? Wir haben auch gesehen, dass Leute ins Licht der Öffentlichkeit geraten sind, die sehr wenig darauf vorbereitet waren. Gerade solche Bereiche wie Virologie oder Epidemiologie waren vorher vielleicht noch stärker unter dem Radar als andere Wissenschaften. 

Wir haben uns dann gefragt: Was macht es mit Wissenschaftler*innen, wenn sie plötzlich im Scheinwerferlicht von Medien und Politik stehen? Ihnen war bewusst, dass Wissenschaft nicht in der Lage ist, das politisch gewünschte, definitive, handlungsrelevante Wissen adhoc bereitzustellen. Unsere Frage war: Wie haben sie sich in einer solchen Situation zurechtgefunden – auch vor dem Hintergrund zunehmender Wissenschaftsskepsis?

Wen haben Sie befragt?

Da ich aus der Journalismusforschung komme, hat mich besonders interessiert, wie im Journalismus Expert*innen eingesetzt werden. Wir haben deshalb nicht danach geschaut, wer auf Twitter oder bei Bürgerveranstaltungen besonders aktiv ist, sondern wer tatsächlich in journalistischen Medien präsent ist. Um das Ganze kohärent zu gestalten, haben wir entschieden, uns auf Virolog*innen und Epidemiolog*innen, beziehungsweise Lebenswissenschaften und Naturwissenschaften zu beschränken – wohlwissend, dass der Kreis an Expert*innen im Laufe der Zeit zurecht deutlich größer wurde und beispielsweise auch Rechtswissenschaftler*innen und Kommunikationswissenschaftler*innen umfasste. Mithilfe einer österreichischen Datenbank haben wir 71 Wissenschaftler*innen identifiziert und angefragt, die im ersten Jahr der Pandemie medial präsent waren. Uns war wichtig, auch solche zu befragen, die nur sehr sporadisch medial aktiv waren und sich dann möglicherweise bewusst entschieden haben, da nicht mehr mitzumachen. 

„Sie haben Verständnis dafür, dass die Politik auch anderen Interessen verpflichtet ist. Aber sie kritisieren, wenn ihre Expertise verwässert oder nicht berücksichtigt wird.“ Daniel Nölleke
So haben wir eine Stichprobe von 24 Wissenschaftler*innen zusammenbekommen, darunter 17 Männer. Das spiegelt in etwa die Geschlechterverteilung der Berichterstattung wider. Wir hatten allerdings angestrebt, noch mehr Frauen zu ihren Erfahrungen zu befragen. Denn bisherigere Erfahrungsberichte und erste Studien deuten darauf hin, dass Wissenschaftlerinnen online noch häufiger und noch gröber beleidigt werden als ihre männlichen Kollegen. Uns hat daher besonders interessiert, wie sie mit dieser belastenden Situation umgehen.

In den Interviews, die im Schnitt 50 Minuten lang waren, haben Sie verschiedene Themenfelder abgeklopft. Was sagen die befragten Expert*innen zur staatlichen Coronapolitik?

Die Wissenschaftler*innen beneiden Politiker*innen nicht darum, so viele Interessen abwägen zu müssen. Sie haben Verständnis dafür, dass man wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zur alleinigen Entscheidungsgrundlage machen kann. Im Detail aber wird auch Unmut deutlich, was die Berücksichtigung von wissenschaftlicher Expertise betrifft. Die Befragten attestieren der Politik, dass diese von den Ereignissen überrollt wurde und ihren Job zu Beginn ganz gut gemacht habe. Aber im Laufe der Zeit seien die Maßnahmen und deren Kommunikation immer inkohärenter geworden. Auch hätten Politiker*innen mit viel zu vielen Auftritten und Pressekonferenzen einer Sensibilisierung der Bevölkerung eher entgegengewirkt und zu einer gewissen Abstumpfung beigetragen. 

„Die grundsätzlichen Erfahrungen mit Journalist*innen sind positiv, auch was das Thema Fairness angeht.“ Daniel Nölleke
Wenn auf wissenschaftliche Expertise gesetzt wurde, sei das häufig nicht passiert, um auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen, sondern um ohnehin getroffene Entscheidungen zu legitimieren. Dadurch fühlten sich Expert*innen instrumentalisiert oder missbraucht. Sie haben Verständnis dafür, dass die Politik auch anderen Interessen verpflichtet ist. Aber sie kritisieren, wenn ihre Expertise verwässert oder nicht berücksichtigt wird. Trotz negativer Erfahrungen aber sehen sie sich weiterhin in der Pflicht, etwas beizutragen und politische Entscheidungen mit ihrer Expertise zu unterstützen. 

Was ist mit den Medien? Wie schätzen die befragten Expert*innen die journalistische Berichterstattung während der Coronapandemie ein? 

Auch hier ist die Haltung ambivalent. Wir können erst mal von einer grundsätzlichen Zufriedenheit sprechen. Den meisten Medien wird in der Pandemie attestiert, sensibel und kompetent gehandelt zu haben. Die Wissenschaftler*innen zeigten sich eher erstaunt, dass Journalist*innen, die sich noch nie mit dem Thema beschäftigt hatten, letztendlich gut und solide über die Pandemie berichtet haben. Die grundsätzlichen Erfahrungen mit Journalist*innen sind positiv, auch was das Thema Fairness angeht. Es ist den Wissenschaftler*innen ganz wichtig, dass sie in Eins-zu-eins-Interviews nicht bewusst missverstanden werden. 

Das „Aber“, das es auch hier gibt, betrifft den Umgang mit wissenschaftlicher Expertise. Den Wissenschaftler*innen ist bewusst, dass Medien auf sie angewiesen sind, was auch zur Entwertung von Expertise führen kann. Zum einen dadurch, dass zu viele Leute als Expert*innen präsentiert werden, und zum anderen dadurch, dass die relevanten Expert*innen sehr stark belastet werden – auch mit Fragen, zu denen sie keine Spezialkompetenz haben. In Live-Situationen erleben Expert*innen oft False-Balancing. Das heißt, sie werden instrumentalisiert, um eine Gegenposition zu einer Meinung darzustellen, die aus ihrer Perspektive nicht legitim ist.

Welche Wünsche und Forderung lassen sich aus den Interviews gegenüber der Medienberichterstattung ableiten?

Ich glaube, ganz wichtig ist: Die Expert*innen wollen nicht aufs Glatteis geführt werden. Es gibt unterschiedliche konkrete Aspekte, die sie von Journalist*innen erwarten oder sich wünschen. Das eine ist die Autorisierung von Interviews im Nachhinein, das andere das Briefing im Vorhinein. Sie möchten, dass gerade für Live-Formate klar ist: Worum geht es eigentlich? Damit sie sich gut vorbereiten und auf Basis vollständiger Informationen entscheiden können: Mache ich mit oder mache ich nicht mit? 

„Die Befragten haben enorm harsches, feindseliges und beleidigendes Feedback erfahren, das sie als extrem belastend empfanden.“ Daniel Nölleke
Ein weiterer Punkt ist die Einschätzung tatsächlicher Kompetenz. Expert*innen wünschen sich, dass Journalist*innen recherchiert haben, wer die bessere Evidenz hat und nicht in einem Beitrag Expert*innen und Pseudo-Expert*innen aufeinandertreffen lassen, um Konflikte zu erzeugen. Eine weitere Kritik lautet, dass Journalist*innen oft schon vorher wussten, was sie hören wollten und der*die Expert*in nur noch das erwartete Statement geben sollte, um die Dramaturgie des Beitrags abzurunden. Offenheit für Expert*innen-Meinungen ist etwas, was von Journalist*innen erwartet wird.

Viele der befragten Expert*innen standen in der Pandemie zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Welche Erfahrungen haben sie gemacht?

Die Interviews bestätigen viele der Eindrücke, die man oft eher anekdotisch hört. Es zeigte sich Erstaunen oder Erschrecken darüber, was passiert, wenn man öffentlich präsent ist – vor allem, wenn es um gesellschaftlich umstrittene Themen wie Maskenpflicht, Impfung oder die Öffnung von Schulen geht. Die Befragten haben enorm harsches, feindseliges und beleidigendes Feedback erfahren, das sie als extrem belastend empfanden. Sie versuchten, das für sich selbst zu relativieren, indem sie sagen: Es ist eine kleine, aber extrem laute Gruppe, die sich so äußert. Am schlimmsten sei es für sie, wenn die Anfeindungen vom Digitalen ins Analoge wandern. Briefpost wird als dramatischer empfunden als digitale Nachrichten. Auch Drohungen gegen Leib und Leben haben einige schon erfahren. Das ist extrem belastend und führt zu intensiven Reflexionen darüber, wie man damit umgeht. 

Von welchen Strategien oder Konsequenzen berichten die Expert*innen?

„Einige Expert*innen ziehen sich ein paar Monate aus der Öffentlichkeit zurück, um sich zu erholen.“ Daniel Nölleke
Einige versuchen, das zu ignorieren und toxische Umgebungen zu vermeiden. Beispielsweise wird im Online-Forum vom Standard, einer österreichischen Qualitätszeitung, extrem hart geschossen und argumentiert. Ein Extrembeispiel für eine Strategie war, dass eine der befragten Personen eine Zeit lang nur noch mit Perücke in die Öffentlichkeit gegangen ist. In einem anderen Fall gab es Polizeischutz. 

Eine andere Konsequenz aus den Anfeindungen ist zu sagen: Ich meide öffentliche Auftritte. Einige Expert*innen ziehen sich ein paar Monate aus der Öffentlichkeit zurück, um sich zu erholen. Das ist ein klassischer Drahtseilakt, in dem sie sich befinden. Denn in der Pandemie schlägt die Stunde der Epidemiolog*innen und Virolog*innen. Nicht nur im Sinne von „15 Minuten Fame“ sondern im Sinne von: „Endlich kann ich der Gesellschaft etwas zurückgeben. Die Gesellschaft braucht jetzt mein Wissen. Denn im Diskurs sind schon viel zu viele Leute vertreten, die sich nicht auskennen. Wenn ich nicht mitmache, dann bleibt das so.“ Es gibt einen inneren Drang mitzuwirken – nicht aus Eitelkeit, sondern aus dem Wunsch heraus, etwas zur Überwindung der Pandemie beizutragen. In unseren Gesprächen war diese Motivation stärker als die Belastung durch negatives Feedback. Es ging eher darum, Strategien zu entwickeln, mit dem Feedback umzugehen, als aus der Öffentlichkeit auszusteigen.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Ergebnissen für die Wissenschaftskommunikation ziehen? 

Ich würde ganz klar ableiten, dass Schulungen zu Wissenschaftskommunikation ganzheitlicher werden müssen. Es wird zwar schon viel getan, aber meiner Erfahrung nach sind Weiterbildungen an Universitäten meistens Medientrainings: Wie trete ich vor einer Kamera auf? Wie bringe ich mein komplexes Forschungsthema in einen Dreißigsekünder? Aber es gibt viel zu wenige Angebote, um eine Sensibilität dafür zu entwickeln, in welcher Medienlandschaft man sich bewegt. Inwiefern unterscheidet sich das Publikum von Boulevard- und Qualitätsmedien? Welchen Prinzipien folgen alternative Onlinemedien im Vergleich zu etablierten Nachrichtenmedien? Wie intensiv beteiligt sich das Publikum am Diskurs zu brisanten Themen und über welche Kanäle tut es das mit welcher Intention? Dieser Vielfalt von Medien sind sich viele Wissenschaftler*innen nicht bewusst, sodass sie die möglichen Konsequenzen ihrer Medienauftritte nicht antizipieren können. Und so trifft es sie oft völlig unvorbereitet, wenn Auftritte in bestimmten Formaten zu unangenehmen Reaktionen führen. Vielfach haben sie gar keinen Sinn dafür, welch enorme Reichweite sie mit ihren Medienauftritten erzielen; sie können auch kaum einschätzen, ob eine Medienanfrage von einem eher verschwörungstheoretisch orientierten Medium kommt. 

„Der Nimbus der Überlegenheit von Wissenschaft leidet darunter, wenn sich plötzlich jede*r für eine*n fähige*n Virolog*in hält.“ Daniel Nölleke
Wichtige Themen sind daher meiner Meinung nach: Wissen um die Medienlandschaft und öffentliche Perspektiven auf Wissenschaft generell zu vermitteln. Welches Feedback ist zu erwarten? Welche Strategien gibt es, damit umzugehen und die eigene intrinsische Motivation verwirklichen zu können? Dafür braucht es Unterstützungsstrukturen und eine Sensibilisierung hinsichtlich der drohenden Gefahren. Wir haben in der Pandemie erfahren, dass die Idee, Wissenschaftskommunikation habe ausschließlich positive Konsequenzen, so nicht stimmt.  

Welche Grenzen hat Wissenschaftskommunikation Ihrer Ansicht nach? 

Die Wissenschaftler*innen haben häufig gesagt: Ich habe ganz gut gelernt, Dinge zu vereinfachen und auf den Punkt zu bringen. Aber das führt dazu, dass gerade in der Coronapandemie ganz viele Menschen denken: So komplex ist das ja gar nicht, das verstehe sogar ich. Meiner Ansicht nach kann das zu einer Entwertung der Wissenschaft selbst führen. Der Nimbus der Überlegenheit von Wissenschaft leidet darunter, wenn sich plötzlich jede*r für eine*n fähige*n Virolog*in hält. Wenn man es überspitzt formuliert, untergräbt Wissenschaftskommunikation so völlig unbewusst das Vertrauen in Wissenschaft oder den Stellenwert von Wissenschaft in der Gesellschaft – zumindest, wenn man Wissenschaftskommunikation darauf beschränkt, dass man etwas Komplexes für die gesamte Bevölkerung verständlich macht. Das ist ein echter Drahtseilakt, einerseits wissenschaftliche Prozesse und Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass das Laienpublikum sie versteht, aber gleichzeitig zu unterstreichen, dass es so einfach dann doch nicht ist. Diesen Drahtseilakt zu bewältigen, halte ich für eine große Herausforderung der Wissenschaftskommunikation auch jenseits der Pandemie. 

Nölleke, D., Hanusch, F., Leonhardt, B. (2022) Wissenschaftskommunikation in der COVID- 19-Pandemie: Einblicke und Erfahrungen österreichischer Expert:innen. Wien. Universität Wien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. https://journalismstudies.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_journalismstudies/Report_ExpertInnen_COVID-19-Pandemie.pdf