Foto: Jacob Bentzinger

„Es muss der Anspruch sein, alle Personen zu erreichen“

Angeblich gibt es in Deutschland etwa 83 Millionen Virolog*innen, Bundestrainer*innen und mittlerweile auch Sicherheitsexpert*innen – und wenn es nach Amelio Tornincasa geht auch Mathe-Begeisterte. Wie er es schaffte, mit dem Projekt „Mathematik – die Magie der Zahlen“ die breite Öffentlichkeit zu erreichen, erklärt er im Interview.

Herr Tornincasa, was verbirgt sich hinter Ihrem Wissenschaftskommunikationsprojekt „Mathematik – die Magie der Zahlen“?
Ich möchte mit dem Projekt auf die Menschen zugehen und meine Begeisterung für Mathematik teilen. Mathematik ist die Grundlage unseres Lebens, sie ist die Sprache des Universums. Das muss auch mehr an die Bevölkerung kommen. Jede Person sollte sich dafür interessieren.

Amelio Tornincasa ist der Erfinder des Formats und im Nebenjob als Referent der Geschäftsführung bei Wissenschaft im Dialog* tätig. Foto: Michael Siegel/WiD

An wen richtet sich Ihr Projekt?
Ich lese immer wieder, dass Leute die „breite Öffentlichkeit“ erreichen möchten. Und genau das wollte ich auch schaffen. Es muss der Anspruch sein, alle Personen zu erreichen. Die Zielgruppe muss möglichst breit sein, damit das Projekt auch die gewünschte Wirkung erzielt.

Welche Wirkung wollen Sie erzielen?
Jede Person, ob Handwerker*innen oder Professor*innen, soll sich für Mathematik begeistern und sie verstehen. Viele denken, dass das ein trockenes und langweiliges Thema ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass man nur auf die Menschen zugehen muss, um sie dafür zu gewinnen.

Die „breite Öffentlichkeit“ ist tatsächlich ein sehr breit gefasster Begriff. Wie würden Sie diese Zielgruppe charakterisieren?
Die breite Öffentlichkeit ist vielfältig: Das ist jede*r und alle. Ich habe mich natürlich ein bisschen eingeschränkt. Ich wollte nur die breite Öffentlichkeit in Deutschland erreichen. Meine Zielgruppe ist – wie man auf Spielen immer liest – Menschen von acht bis 88 Jahren. Wobei das nur ein Richtwert ist. Ich denke, man lernt im Alter nie aus. Ein Konzept für alle Altersgruppen funktioniert schon. Es kommt eben auf das Konzept an.

Was ist das für ein Konzept, mit dem sie eine so breit gefasste Zielgruppe erreichen konnten?

„Die breite Öffentlichkeit ist vielfältig: Das ist jede*r und alle. Ich habe mich natürlich ein bisschen eingeschränkt. Ich wollte nur die breite Öffentlichkeit in Deutschland erreichen.“ Amelio Tornincasa
Ich bin direkt auf die Personen zugegangen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Meiner führte mich vom nördlichsten Punkt Deutschlands, Flensburg Förde, gen Süden nach Sonthofen und von Selfkant im Westen zum östlichsten Punkt Görlitz. Beziehungsweise Frankfurt (Oder), oder? Das war viel Laufen, viel Sprechen, viel Zuhören. Aber die Menschen lieben Mathematik. Besonders fasziniert hat mich Helga aus Dipperz, Osthessen: 82 Jahre alt und hat mir Löcher in den Bauch gefragt. Übrigens: Sie macht wundervollen Kaiserschmarrn.

Man muss etwas Empathie haben und spontan auf das Gegenüber reagieren. Eine achtzigjährige Rentnerin hat womöglich ein anderes Verhältnis zur Mathematik als ein achtjähriger Schüler. Man muss individuell auf die Personen eingehen. Und auch den Charakter dafür haben. Das kann nicht jede Person.

Sie haben also den direkten Dialog mit Menschen gewählt?
Genau. Es ging mir um das Gespräch auf Augenhöhe. Ich hatte auch immer eine kleine Tafel für Visualisierungen dabei, mit der ich komplexe Sachverhalte und Formeln erklärte.

Wie sind sie zu den Menschen gekommen?
Ich war zu Fuß unterwegs und habe mein Projekt mit Sport verbunden und dabei viel von Deutschland gesehen. Mit dem Zug wäre ich nicht an die entlegenen Orte gekommen und mit einem Auto wäre ich an der einen oder anderen Person vorbeigerauscht.

In Deutschland gibt es über 83 Millionen Menschen, die demnach in Ihre Zielgruppe fallen. Wie viele davon konnten sie erreichen?

„Natürlich ist es schwierig, alle Personen in Deutschland zu erreichen. Aber ich habe an vielen Türen geklingelt und mehrere Millionen Gespräche geführt.“ Amelio Tornincasa
Ich habe es genau aufgeschrieben: 52.342.123 Millionen Menschen konnte ich erreichen. Natürlich ist es schwierig, alle Personen in Deutschland zu erreichen. Aber ich habe an vielen Türen geklingelt und mehrere Millionen Gespräche geführt. Bei guter Planung dauert die Dialogreise 14, vielleicht 18 Tage. Nachdem das so gut geklappt hat, werde ich jetzt auch weitergehen. Ich finde, die Schweiz und Österreich haben auch Anspruch darauf, für Mathematik begeistert zu werden.

Würden Sie also sagen, dass Sie Ihre Ziele erreicht haben?
Die breite Öffentlichkeit wäre für mich noch etwas breiter. Aber vorerst ist das ein Erfolg. Ich habe gemerkt: Es gibt ein Patentrezept, die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Jetzt sollten wir es dringend für alle möglichen Themen anwenden.

Dieses Interview erschien am 1. April 2022. Damit: April, April! Wie auch Amelio Tornincasa im Interview erwähnt, lesen wir oft, dass es das Ziel vieler Wissenschaftskommunikationsprojekte ist, die „breite Öffentlichkeit“ zu erreichen. Das Aprilscherz-Interview soll mit einem Augenzwinkern darauf hinweisen, wie wichtig eine zielgruppengerechte Ansprache ist. Dafür haben wir einige hilfreiche Tipps und Lektüreempfehlungen aus unserem Archiv zusammengestellt.

Die Öffentlichkeit lasse sich nicht pauschalisieren, sagt Craig Cormick, Vorsitzender der australischen ASC Conference, im Interview: “It is too easy to just think of the public as “The Public”, and that leads to stereotypes and over-simplification e.g. “The Public” just doesn’t understand scientists enough”.

Über die „breite Öffentlichkeit“ als Zielgruppe sagt Tobias Maier, Leiter des Seminarbereichs des NaWik*, folgendes im Interview: „Die Öffentlichkeit als Zielgruppe ist zu weit gefasst. Es hilft, sich zu verdeutlichen, wen ich tatsächlich erreichen kann und möchte. Das ist auch abhängig von meinen Zielen, dem Kommunikationsmedium und dem Stil.“

Als Tipp – nicht nur für Einsteiger*innen – für die Wissenschaftskommunikation hat die frühere Redakteurin Anne Weißschädel acht Leitfragen aufgeschrieben, darunter auch die nach der Zielgruppe. Sie schreibt: „Zielgruppengerechte Ansprache ist essenziell, um in der Vielzahl an Informationsangeboten on- und offline auch tatsächlich jemanden zu erreichen.“ Dabei geht sie auch auf die verschiedenen Ziele, Formate und das Handwerkszeug ein. Zur Formatauswahl schreibt sie weiter: „Um Inhalte für ein Publikum dann auch wirklich anschlussfähig zu machen und nicht bloß „abzuladen“, sollte man seine Zielgruppe sehr gut kennen – und bestenfalls auch mögen.“

Den Punkt greift auch der Praxistipp „Die zentralen fünf Dimensionen der Wissenschaftskommunikation“ auf. Darin heißt es, dass die Zielgruppe „möglichst genau definiert […] und deren Interessen und Erwartungen berücksichtigt werden“ müssen. Dabei sollten folgende Fragen bedacht werden: „Welche Interessen könnte die Zielgruppe haben? Welches Vorwissen darf vorausgesetzt werden? Welche Altersgruppe ist zu erwarten? Gibt es eventuell bereits eine bestimmte Haltung und Erwartungshaltung?“

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*Wissenschaft im Dialog und das Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation (NaWik) sind zwei der drei Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de.