Wie hat sich partizipative Forschung in Deutschland entwickelt? Was ist der Unterschied zu Citizen Science? Die Soziologin Hella von Unger spricht über verschiedene Ansätze und ihre eigenen Erfahrungen – vor allem im Projekt PaKoMi, bei dem sie mit migrantischen Communities zu HIV-Prävention geforscht hat.
„Es ist viel mehr Partizipation möglich, als man denkt“
Wann haben Sie mit partizipativer Forschung begonnen?
Rückblickend glaube ich, dass schon meine Doktorarbeit partizipative Elemente hatte. Ich war von 2000 bis 2004 am HIV Center for Clinical and Behavioral Studies in New York, das schon damals mit unterschiedlichen Communities zusammengearbeitet hat. Wir bekamen eine Anfrage einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung, eine Bedarfserhebung unter lesbischen Frauen mit HIV und Aids durchzuführen. Die Frage war, was ihre Bedürfnisse sind und ob diese durch ein Einrichtung abgedeckt werden. Ich habe dazu meine Doktorarbeit geschrieben und meine Arbeit von Anfang an an den Impulsen aus der Community ausgerichtet. Es war immer eine treibende Kraft meiner Forschung, dass sie nicht nur einer akademischen Fachcommunity etwas bringt, sondern auch den betroffenen Communities.
Welche Ansätze partizipativer Forschung gibt es?
Es gibt viel mehr, als ich beschreiben kann. Partizipative Forschung ist unglaublich vielfältig, gerade auch, wenn man nicht nur in den deutsch- und englischsprachigen Bereich guckt. Es gibt auch in Lateinamerika Ansätze, die sich teilweise immer wieder neu erfinden, weil sie sehr basisdemokratisch sind. Es geht bei partizipativer Forschung im Grunde darum, dass Prozesse, bei denen Wissen geschaffen wird, zur Ermächtigung und zur Veränderung sozialer Wirklichkeit führen. Die Idee ist, dass wir Wissen und Wissensgenerierung politisch einsetzen, um Ungleichheiten abzubauen und zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten beitragen. Ob beim Thema Klimagerechtigkeit oder im gesundheitlichen Bereich kommt es deshalb an verschiedenen Orten weltweit zu Formen der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen und Stakeholder*innen – in der Regel aus der Zivilgesellschaft.
Was ist der Unterschied zwischen aktuellen Citizen-Science-Projekten und partizipativer Forschung, wie es sie seit den 1970er-Jahren gibt?
Wenn ich das unterscheiden sollte, würde ich beim politischen Anspruch eine Grenze ziehen, den die partizipative Forschung verfolgt. Teilweise gibt es den auch bei Citizen-Science-Projekten. Aber beim Gros wird eher gesagt: Lasst uns mal Wissenschaft bürgernäher machen. Leute können uns Insekten einsenden und wir machen einen Mückenatlas. Es gibt viele tolle Ideen, Wissenschaft nahbar und erlebbar zu machen. Wir profitieren alle davon, wenn wir Nichtwissenschaftler*innen an Datenerhebung mitwirken lassen.
In der partizipativen Forschung, wie ich sie betreibe, die stärker aus gesundheits- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen hervorgeht, wollen wir noch mehr als das. Wir haben einen emanzipatorischen Anspruch, und die Partner*innen sind an allen Phasen inklusive Projektplanung, Auswertung und Verwertung beteiligt. Meist geht es um Gruppen, die bisher im gesellschaftlichen Diskurs zu wenig Gehör finden, benachteiligt oder unterdrückt sind.
Werfen wir noch einen Blick in Ihre Forschungspraxis. 2006 haben Sie am WZB PaKoMi konzipiert. Was hatte es damit auf sich?
Das PaKoMi-Projekt habe ich zusammen mit der Deutschen Aidshilfe entwickelt. In partizipativen Vorläuferprojekten habe ich von lokalen Aidshilfen immer wieder gehört, sie würden gerne etwas Partizipatives im Bereich Migration machen, aber es fehlten die Ressourcen und die Migrant*innen seien so schwer erreichbar. Da habe ich gesagt: Lasst uns die Potenziale von Community-basierter partizipativer Forschung nutzen. Dabei ist der erste Schritt, die Community an Bord zu holen, gemeinsam eine Idee zu entwickeln und einen Antrag zu schreiben. Wir haben bundesweit in verschiedenen Städten mit lokalen Aidshilfen und Beratungsstellen zusammengearbeitet und erst mal über drei Jahre geguckt, wie die Situation vor Ort ist. Wir haben Personen an einen Tisch geholt, die sich im weitesten Sinne als Migrant*innen verstehen und Lust hatten, zum Thema Gesundheit und HIV zu arbeiten. Dass Migrant*innen schwer erreichbar sind, ist ein Mythos, den wir dekonstruieren konnten. Es geht immer darum: Wer spricht und wer ist für wen erreichbar?
Bei PaKoMi haben wir etwas gemacht, was damals neu war: unterschiedlichen Migrant*innen-Communities in die HIV-Prävention und in die HIV-Forschung einzubeziehen. Das hat gut geklappt. Inzwischen haben andere den Ansatz aufgegriffen, etwa das Robert-Koch-Institut mit der MiSSA-Studie.
Mit welchen Communities haben Sie gearbeitet und welche Fragestellungen haben Sie dabei entwickelt?
Die Partner*innen haben sich entschieden, spezifisch zu HIV und HIV-Prävention zuarbeiten. Wir haben dann eine quantitative Befragung in mehreren Sprachen mit über 260 afrikanischen Migrant*innen in Hamburg durchgeführt. Die Peer-Forschenden wurden ausgebildet und sind mit Fragebögen ins Feld gegangen. Sie haben sie dann zurückgebracht, eingetippt und mit mir ausgewertet.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir haben unter anderem herausgefunden, dass ein großer Teil der Befragten, darunter überwiegend junge Menschen, nicht weiß, dass es kostenlose und anonyme Testangebote in Hamburg gibt. Das war eine ganz praktische Erkenntnis, die die Peers in ihren eigenen Communities aufgreifen konnten. Das war ein gutes Beispiel, wie eine Studie in entsprechende Angebote überführt werden kann. Auch zwei Imame waren sehr engagiert bei der Sache. Das war das erste Mal im deutschsprachigen Raum, dass wir realisiert haben: Die religiösen Gemeinschaften, gerade im migrantischen Kontext, können ganz wichtige Partner in der HIV-Prävention werden.
Warum ist es wichtig, Probleme und Bedürfnisse von migrantischen Communities im Bereich der HIV-Prävention zu erforschen?
Migrant*innen werden in Deutschland oft als Problem oder als defizitär definiert. Genau das war bei PaKoMi nicht der Ausgangspunkt. Ich wollte nicht als weiße, deutsche Akademikerin herumlaufen und sagen: Die Migrant*innen haben da oder da ein Problem.
Dieser Perspektivwechsel ist ein guter Ansatz, um Othering, also Formen einer Fremd-Machung zu vermeiden, die die deutschsprachige Migrationsforschung schon seit den 1970er- und 1980er-Jahren in einer furchtbaren Art und Weise ausgezeichnet haben.
Was ist nötig, um partizipative Wissenschaft zu stärken?
Der wichtigste Aspekt sind materielle Ressourcen, um die Partner*innen so zu unterstützen, dass sie teilhaben können. Man kann nicht erwarten, dass beteiligte Gruppen unentgeltlich für die Wissenschaft schuften. Dazu müssen auch die Förderer verstehen, dass das eine andere Form von Forschung ist, die mit anderen Zielsetzungen und anderen Beteiligungsformen einhergehen muss. Man muss ehrlich sagen, dass es immer noch ungleiche Voraussetzungen in der Zusammenarbeit zwischen Akademiker*innen, Partner*innen und benachteiligten Communities gibt. Als Wissenschaftler*in könnte man denken: Die partizipieren alle ganz toll und entscheiden mit, aber die Partner*innen sehen das vielleicht selbst gar nicht so.
Partizipative Forschung ist ein ambitioniertes Unterfangen. Das Risiko des Scheiterns ist immer gegeben, weil man so viel anders machen möchte als bisher. Es geht bei aller Begeisterung darum, nicht mit zu hohen Idealen heranzugehen und dann enttäuscht zu sein. Denn soziale Wirklichkeit ist träge und lässt sich nicht innerhalb von kurzen Projektzeiträumen verändern. Wir können immer nur einen winzigen Schritt machen. Aber der muss in die richtige Richtung gehen.