Foto: Marek Okon

„Es ist der falsche Weg, Komplexität zu reduzieren“ 

Journalismus und Wissenschaft unterscheiden sich – beispielsweise, was Fragestellungen oder das Tempo angeht. Welche Herausforderungen bringen diese Reibungen in Zeiten von Kriegen und Konflikten mit sich? Leonid Klimov von dekoder und Julian Koller von te.ma über den Versuch, Brücken zu schlagen. 

Wie äußern sich die Unterschiede zwischen Wissenschafts- und Mediensystem im Kontext des Krieges gegen die Ukraine? 

Leonid A. Klimov studierte Kultur- und Literaturwissenschaften in St. Petersburg. An seine Promotion schloss er ein Masterstudium des Kultur- und Medienmanagements in Hamburg an. Er ist Wissenschaftsredakteur von dekoder und koordiniert die Arbeit der akademischen Expert*innen in den Bereichen Geschichte und Kultur. Foto: Jacobia Dahm

Leonid A. Klimov: Ich glaube, die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Journalismus sind in extremen Lagen wie einem Krieg nicht größer als sonst. Gleichzeitig merkt man in solchen Situationen besonders, dass wir im gesellschaftlichen Diskurs auf wissenschaftliche Expertise angewiesen sind. Das haben wir zum Beispiel in der Coronapandemie erlebt, als wir mit einer krassen Menge von Unsicherheiten konfrontiert waren und Entscheidungen treffen mussten. Wir brauchten nachvollziehbares Wissen als Basis für unsere Handlungen.

Julian Koller: In solchen Zeiten verspüren Menschen wie Entscheidungsträger*innen und Medienvertreter*innen oft den Druck, eine Position einzunehmen. Auch deshalb tendiert der mediale Diskurs dann zu weniger Differenzierung. Das haben wir zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine erlebt, als es um Fragen nach Waffenlieferungen oder die Möglichkeit von Sieg und Niederlage versus einer Verhandlungslösung ging. Innerhalb dieser Streitfragen wurden wenige Grauzonen zugelassen. Die Positionen waren extrem konfrontativ. Bei te.ma verfolgen wir hingegen das Prinzip der Adversialität: Wir möchten die Möglichkeit schaffen, von Anfang an aus unterschiedlichen Positionen heraus zu sprechen und trotzdem zugewandt zu bleiben. Wissenschaftliches Wissen kann gerade bei emotionalen Themen Chancen zur Differenzierung schaffen und historische Kontexte aufzeigen. Oft klappt das zu Beginn einer Krise nicht. Aber wir haben gemerkt, dass mit der Entwicklung des Krieges ein ruhigerer Diskurs möglich war, in dem die Wissenschaft eine tragende Rolle spielen konnte. 

Julian Koller studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in Berlin. Er verantwortet die Außenkommunikation von te.ma und legt gleichzeitig als Fachredakteur seinen Fokus auf die sprach- und gesellschaftswissenschaftlichen Themen der Plattform. Foto: Caterina Rancho

Vor welchen Herausforderungen steht die Wissenschaft, wenn sie in solchen Zeiten einen differenzierten Blick ermöglichen will? 

Klimov: Der Beginn des Krieges gegen die Ukraine war für viele Forschende in den Osteuropawissenschaften ein Schock. Auch sie mussten sich in dieser rasch veränderten Realität zurechtfinden. Gleichzeitig mussten sie versuchen, ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit beizubehalten, differenziert und analytisch zu bleiben und nicht in Aktivismus zu verfallen. Das ist manchmal auch in Friedenszeiten schwer. Hinzu kommt, dass Menschen, die Jahre oder Jahrzehnte in ihrem stillen Kämmerlein geforscht und wissenschaftliche Aufsätze publiziert hatten, nun plötzlich im Rampenlicht standen. 

Manchmal fragen Journalist*innen dabei nach einer spezifischen Expertise, die die Forschenden gar nicht mitbringen. Dann müssen sie die eigenen wissenschaftlichen Grenzen kennen und sagen können: Das ist nicht mein Fachgebiet, ich kann mich höchstens privat äußern. 

Wissenschaft und Gesellschaft stellen sich zudem oft sehr unterschiedliche Fragen. Als der Krieg anfing, war die brutal naiv formulierte Hauptfrage der Gesellschaft: „Ist Putin verrückt geworden?“ Für viele Forschende ist das herausfordernd, wenn so eine Frage in ihrer eigenen Forschung komplett irrelevant ist. Dann müssen sie erklären, ob sie sich mit ihrer Antwort im Bereich des Verifizierbaren befinden, ob ihre Urteile also auf gewissen Methoden und Erkenntnissen beruhen oder sich im Bereich der Spekulation abspielen. 

Koller: Auf der Wissenschaft lastet mitunter eine große Verantwortung, Antworten zu geben. Dies kann die Aufklärung der Öffentlichkeit wie auch die Politikberatung umschließen. In der Wissenschaftskommunikation ist es gerade in Kriegssituationen eine Riesenherausforderung, Brücken zu schlagen. Wir bei te.ma versuchen, zwischen den verschiedenen Frage- und Antwortsystemen, die aufeinanderprallen, zu vermitteln. Wir stellen Fragen in unseren Themenclustern so, wie sie in der Öffentlichkeit aufgeworfen werden – und versuchen dann Antworten aus der Wissenschaft zu geben. Das funktioniert natürlich nur in einem gewissen Rahmen. Aber wir können Fakten, Kontexte und Perspektiven liefern, um die Fragen weiter zu differenzieren und auszuformulieren. Auf diese Weise zeigt sich, dass viele im öffentlichen Diskurs aufgeworfenen Fragen politisch gestellt sind und auf bestimmte Positionierungen hinweisen.

dekoder.org

dekoder ist ein 2015 gegründetes Online-Medium, das journalistische und wissenschaftliche Texte zu Russland und Belarus veröffentlicht. Ziel ist, unabhängige Medienberichte, die keinem staatlichen Einfluss unterliegen, ins Deutsche zu übersetzen. Damit soll ein Zugang zum russischen und seit 2020 auch zum belarusischen medialen und zivilgesellschaftlichen Diskurs geschaffen werden. Die übersetzten Texte werden mit Hintergrundartikeln verbunden, um Begriffe zu erklären und historische Zusammenhänge zu erläutern. dekoder wurde zweifach mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet, zuletzt 2021 für seine dekoder-Specials – multimediale Formate an der Schnittstelle zwischen (Osteuropa)Wissenschaft und Journalismus. Gegründet wurde dekoder und te.ma von dem Philosophen und Medienmacher Martin Krohs. Beide Medien haben im Rahmen des te.ma-Kanals zum Krieg gegen die Ukraine kooperiert, sind jedoch separate Projekte mit eigenständigen Redaktionen.

Welche Rolle spielt der Journalismus als Vermittler? 

Klimov: Für den Journalismus sind die Herausforderungen genauso groß wie für die Wissenschaft, vielleicht sogar größer. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein wichtiges Thema. Es haben aber nur wenige Medienhäuser in Deutschland eine tiefgreifende Domänenkompetenz in Bezug auf Osteuropa, Russland und die Ukraine. Journalist*innen müssen sich in sehr kurzer Zeit Expertise aneignen, um nicht ihre Leserschaft verlieren. Ohne Hintergrundwissen kann man sich ziemlich schnell in verschiedenen Quellen verlieren. Oder man kann sie nicht entschlüsseln, weil die Sprachkompetenzen fehlen. 

te.ma

te.ma ist eine 2022 ins Leben gerufene Online-Plattform für Wissenschaft und Debatte. In diversen Kanälen wird jeweils sechs Monate lang zu ausgewählten Themen mit gesellschaftlicher Brisanz publiziert. Die Plattform soll wissenschaftliche Expertise für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich machen und fundierte Debatten zu komplexen Themen ermöglichen, die sich von aufgeheizten Kommentarspalten auf Social Media unterscheiden. Dafür stellen die te.ma-Kuration und ihre Gäste die wichtigsten Inhalte und Positionen aus der Forschung in unkomplizierter Sprache vor.

Im Krieg gegen die Ukraine haben wir bei dekoder gemerkt, wie wichtig unsere Arbeit, die wir seit 2015 leisten, für den deutschsprachigen Journalismus ist. Wir übersetzen unabhängige Texte aus dem Russischen ins Deutsche und stellen wissenschaftliche Expertise zu Verfügung, um sich in dem Themenkomplex zurechtzufinden. Wir haben anhand der Leser*innen-Zahlen, aber auch in Gesprächen mit anderen Journalist*innen gesehen, dass dekoder zu einer Art Brücke nach Osteuropa geworden ist. 

Koller: Ein anderer Punkt ist natürlich das extreme Tempo, mit dem Journalist*innen pausenlos arbeiten. Oft müssen sie sich im laufenden Prozess Expertise aneignen. Es war uns bei te.ma wichtig, eine potenzielle Ressource für Journalist*innen zu werden, indem wir einen Wissensfundus und eine gute Rundumschau bieten. Neben unserem Feed hilft auch die dahinterliegende Datenbankbei der Recherche. Dort können User*innen selbst thematische Ordner anlegen und ausgewählte Inhalte speichern.

Was für Beiträge finden sich bei te.ma?

Koller: Aktuell haben wir drei große Themenkanäle plus unseren sogenannten meta-te.ma-Kanal, in dem wir grundsätzliche Fragen rund um Medien und Wissenschaftskommunikation besprechen. Unsere derzeitigen Themen sind „Umbruch | Krieg | Europa“, „Mehrsprachigkeit“ und „KI und Nachhaltigkeit“. Unsere Themenkanäle unterteilen wir in Cluster, die immer eine Fragestellung transportieren. Dazu liefern wir verschiedene Materialien aus der Wissenschaft. Das können Papers sein, aber auch Bücher oder relevante Beiträge aus dem Netz. Die ausgewählten Beiträge werden mit einer Einleitung vorgestellt, die Kontext schafft: Worum geht’s? Warum ist dieses Paper wichtig? An welche unterschiedlichen Denkschulen und Positionen knüpft es an? Flankierend dazu laden wir Gastautor*innen ein, die spezifische Punkte tiefer beleuchten. 

„Dort, wo viele Interessen vorhanden und viele verschiedene Akteur*innen im Spiel sind, fasst Propaganda die ganze Welt auf einer halben DIN-A4-Seite zusammen.“ Leonid Klimov

Welche Zielgruppen wollen Sie mit te.ma erreichen?

Koller: Wir wenden uns an interessierte Lai*innen, die über das, was sie in der Tagesberichterstattung erfahren, hinausgehen wollen. Gleichzeitig haben sie vielleicht nicht die Ressourcen dafür, wissenschaftliche Studien zu lesen. Viele Leser*innen kommen auch selbst aus der Forschung. Sie interessieren sich dafür, was Kolleg*innen schreiben. Und es gibt die Gruppe der medienschaffenden Journalist*innen.

Herr Klimov, inwiefern hat sich die Arbeit bei dekoder durch den Ukraine-Krieg verändert? Stehen Sie stärker unter Druck? 

Klimov: Wir setzen uns selbst unter Druck. Denn wir spüren die Verantwortung, die wir dafür tragen, als regionalspezifisches Medium über den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu berichten. Wir können nicht mit dem Tempo der Nachrichtenmedien mithalten, aber wir sind schneller geworden. Direkt nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine haben wir deutlich mehr publiziert als zuvor und gleichzeitig wurde ein Prozess angestoßen, dekoder neu zu denken. Denn früher haben wir uns nicht nur mit repressiven Regimen, Krieg und Auseinandersetzungen beschäftigt. Wir haben immer wieder etwas Lustiges gemacht und zum Beispiel gefragt: „Warum hängen die Russen Teppiche an die Wand?“ 

Mit Beginn des Krieges sind solche Themen mehr oder weniger irrelevant geworden. Gleichzeitig wurden viele Medien in Russland liquidiert, die Zahl von guten journalistischen Analysen hat drastisch abgenommen. Daraus ergibt sich, dass wir noch mehr mit wissenschaftlicher Expertise arbeiten. Im letzten Jahr haben wir in enger Zusammenarbeit mit Forschenden eine Reihe von FAQ-Publikationen mit Fragen und Antworten zum Krieg herausgegeben. Dem gingen sehr lange und spannende Diskussionen in einem geteilten Dokument voraus.

Eine Frage im Journalismus wie in der Wissenschaftskommunikation ist, wie schwierige Themen verständlich dargestellt werden können. Was ist Ihre Antwort? 

Klimov: Seit Beginn des Angriffskrieges arbeiten wir mit anderen Journalist*innen an einer datenjournalistischen Recherche. Wir haben dafür fast dreieinhalb Millionen Texte der russischen Presseagentur RIA Novosti analysiert und festgestellt, dass die Propaganda nicht nur versucht, Falschinformationen zu vermitteln. Propaganda reduziert die Komplexität der Welt drastisch. Dort, wo viele Interessen vorhanden und viele verschiedene Akteur*innen im Spiel sind, fasst Propaganda die ganze Welt auf einer halben DIN-A4-Seite zusammen. Das hat uns so überrascht, dass ich einen Appell formulieren möchte: Es ist der falsche Weg, die Komplexität zu reduzieren, denn sie stellt einen großen Wert dar. Es ist großartig, dass wir in einer komplexen Welt leben dürfen. 

Koller: Ich finde auch, dass wir Komplexität als wertvolles Gut begreifen sollten. Wir brauchen sie. Gleichzeitig kann das für viele Menschen eine Form von Orientierungslosigkeit mit sich bringen. Bei te.ma überlegen wir deshalb genau: Was braucht es, um die Komplexität beizubehalten? Denn wo diese ausgehebelt und durch eine simplistische oder einseitige Positionierung ersetzt wird, versandet der Diskurs und man läuft im Ernstfall Gefahr, in das Fahrwasser rein politischer rhetorischer Strategien zu geraten. Gleichzeitig wollen wir die Kompliziertheit der Darstellung drastisch reduzieren, um die Inhalte möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Das ist ein schmaler Grat und grundsätzlich eine große Herausforderung der Wissenschaftskommunikation.