Über kaum ein Fach kursieren in der Öffentlichkeit so viele Mythen und Missverständnisse wie über die Psychologie. Das Onlinemagazin „In-Mind“ will damit aufräumen. Wie funktioniert das?
„Es gibt oft keine einfachen Antworten“
Herr Crusius, Herr Genschow, sie arbeiten als Forscher, geben aber nebenher mit „In-Mind“ noch ein populäres Onlinemagazin über Psychologie heraus. Wie kam es dazu?
Oliver Genschow: Es gibt ein großes öffentliches Interesse an Psychologie – aber die meisten Medien haben leider keinen wissenschaftlichen Zugang zu dieser Disziplin. Das hat uns nicht nur persönlich gestört, es begünstigt auch die vielen Mythen und Fehlannahmen, die es über die Psychologie immer noch gibt. Mit In-Mind möchten wir das Interesse an unserem Fach mit seriösen, aber gleichzeitig gut verständlichen Informationen bedienen.
Welche Mythen sind das zum Beispiel?
Jan Crusius: Ich stelle oft fest, dass die Bevölkerung gegenüber der psychologischen Forschung eine sehr zwiespältige Meinung hat: Die einen denken, dass wir ohnehin nur triviales Wissen verkünden, nach dem Motto: „Das war doch klar, dafür brauche ich keine Studie.“ Andere scheinen zu glauben, dass Psychologinnen und Psychologen quasi über Geheimwissen verfügen, mit dem man sich selbst oder andere perfekt analysieren und manipulieren kann. Das mag ein Grund sein für die Beliebtheit von unwissenschaftlichen Artikeln wie „7 Psycho-Tricks, um mehr Gehalt zu bekommen“, wie man sie sehr oft sieht
Und was ist wahr?
Crusius: Wie in anderen Wissenschaften auch gibt es in der Psychologie oft keine einfachen Antworten. Menschliches Erleben und Verhalten ist enorm komplex und unser Wissen darüber häufig noch begrenzt. Und wir haben durchaus Ergebnisse, die laienpsychologischen Annahmen zuwiderlaufen. Vor allem aber haben die wenigsten Menschen eine Vorstellung davon, mit welchen Methoden die wissenschaftliche Psychologie eigentlich arbeitet: wie sie zu ihren Ergebnissen gelangt und wo sie an Grenzen stößt. Dieser Aspekt kam uns in klassischen Formaten häufig zu kurz.
Wie schaffen Sie den Spagat zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und guter Lesbarkeit?
Genschow: Bei uns dürfen nur Autorinnen und Autoren schreiben, die an einer Hochschule in der psychologischen Forschung aktiv sind. Unser Magazin zieht Forschende an, die viel Enthusiasmus für populärwissenschaftliches Schreiben mitbringen. Viele davon besuchen auch einen unserer Schreibworkshops. Für jeden Artikel gibt es außerdem ein Peer Review, also eine Begutachtung, wie man sie auch aus wissenschaftlichen Zeitschriften kennt. Sie dient dazu, den Artikel zu bewerten und zu verbessern – oder in manchen Fällen auch abzulehnen. Als Gutachterin oder Gutachter fungieren einerseits Forschende, die sich auf dem Gebiet gut auskennen. Ein Review soll aber immer auch von einer fachfremden Person verfasst werden. So können wir die allgemeine Lesbarkeit und Verständlichkeit des Texts prüfen und verbessern.
Wie ist das Projekt entstanden?
Genschow: Der niederländische Sozialpsychologe Hans Ijzerman hat 2006 die internationale, englischsprachige Ausgabe des Magazins begründet. 2010 haben dann zwei Kollegen, Malte Friese und René Kopietz, die deutschsprachige Version aufgesetzt. Jan und ich sind dann hinzugestoßen und sind heute gemeinsam mit Melanie Sauerland, die an der Universität Maastricht arbeitet, als Herausgebergremium tätig. Es gibt auch eine italienische und eine niederländische Version, an weiteren Ausgaben wird gearbeitet.
Wie aufwendig ist diese Arbeit für Sie?
Crusius: Die eigentliche Betreuung der Artikel übernehmen zahlreiche Mitherausgeberinnen und -herausgeber. So verteilt sich die Arbeit auf viele Köpfe. Außerdem haben wir immer wieder mal Themenausgaben, in denen wir mehrere Artikel zu einem Forschungsgebiet bündeln. Dafür geben wir die Herausgeberschaft an andere Personen ab, bei denen sich dann interessierte Autorinnen und Autoren mit Beiträgen zum entsprechenden Thema bewerben können.
Wie viele Menschen lesen Ihr Magazin – und wer ist das Publikum?
Crusius: Wir haben derzeit etwa 50.000 eindeutige Seitenaufrufe pro Monat. Ein Teil davon ist unser Stammpublikum: Das sind Leserinnen und Leser, die über unseren Newsletter und unsere Social-Media-Kanäle auf unsere Inhalte aufmerksam werden. Diese Leute interessieren sich stark für psychologische Forschung und wollen auf dem Laufenden bleiben. Vermutlich sind darunter auch viele Personen vom Fach, also Studierende und Forschende. Aber der größte Teil unserer Besucherinnen und Besucher landet bei uns, nachdem sie bei Google oder einer anderen Suchmaschine nach Themen gesucht haben, die mit Psychologie zusammenhängen.
Zum Beispiel?
Crusius: In einem unserer am häufigsten gelesenen Artikel geht es darum, wie kleine Kinder lernen, mit ihren Emotionen umzugehen. Die meisten Lesenden kommen hier über Google – und zwar zu einer bestimmten Tageszeit: gegen 19 Uhr, also dann, wenn viele Kleinkinder ins Bett müssen. Das sind offenbar Eltern, deren Kinder gerade Probleme mit der Emotionsregulation haben, und die deshalb nach Informationen darüber suchen.
Was finden die Eltern dann bei Ihnen: nur wissenschaftlich ausgewogene Informationen oder auch praktische Ratschläge?
Genschow: In diesem Artikel stehen in der Tat ein paar konkrete Empfehlungen, das ist aber nicht bei jedem Thema so. Nur wenn es Ratschläge gibt, die sich auf klare Befunde aus der Forschung stützen, finden diese Eingang in unsere Artikel. Und natürlich funktionieren nicht alle unsere Texte über diesen Selbsthilfeaspekt. Wir haben auch einen sehr erfolgreichen Artikel darüber, wie Gerüche alte Kindheitserinnerungen wecken können, das sogenannte Proust-Phänomen. Da dürften die Leserinnen und Leser eher von intellektueller Neugier getrieben sein und nicht nach praktischen Tipps suchen.
Welches Feedback erhalten Sie für dieses Engagement aus der wissenschaftlichen Community?
Genschow: Da gibt es eine interessante – und für uns sehr erfreuliche – Entwicklung. Als wir 2010 mit dem Projekt begonnen haben, war es teilweise schwierig, Autorinnen und Autoren zu finden. Es kam vor, dass wir bei Promovierenden oder Postdocs angefragt haben und eine verärgerte Mail von deren Chefin oder Chef zurückkam: Ihre Mitarbeitenden sollten sich lieber auf das Wesentliche konzentrieren und für „echte“ wissenschaftliche Zeitschriften schreiben, statt Zeit für so ein Onlinemagazin zu verschwenden. Das hat sich glücklicherweise völlig gewandelt. Mittlerweile melden sich viele Forschende selbst bei uns und reichen eigene Artikel bei uns ein.
Gibt es Ihrer Meinung nach einen generellen Wandel insofern, dass mehr Forschende Wert auf Kommunikation mit der Öffentlichkeit legen?
Genschow: Zahlen dazu habe ich leider keine. Aber mein Eindruck ist schon, dass sich die Einstellung zur Kommunikation unter Forschenden gerade ändert. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie sind auf Twitter aktiv, die Bereitschaft zur Teilnahme zum Beispiel an Science Slams steigt. Hinzu kommt, dass Universitäten mittlerweile mehr Wert auf Kommunikation durch Forschende legen, und auch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften messen dem eine größere Bedeutung bei. Das haben wir etwa dadurch gemerkt, dass wir 2018 den Förderpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie erhalten haben – für unseren „Beitrag zur psychologischen Bildung der Öffentlichkeit“.
Weitere Information:
Oliver Genschow berichtet über das Projekt „In Mind“ im Videointerview.