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„Ernüchterung mit Blick auf das Miteinander“

Wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland? Die gemeinnützige Organisation „More in Common“ hat nach zwei Jahren Pandemie eine Bestandsaufnahme gemacht. Jérémie Gagné, der die Studie mitverantwortete, fasst die Ergebnisse zusammen und zieht Schlüsse für die Wissenschaftskommunikation.


Herr Gagné, wie nehmen die Menschen in Deutschland nach zwei Jahren Pandemie den gesellschaftlichen Zusammenhalt wahr?

Jérémie Gagné ist Senior Projektmanager bei der gemeinnützigen Organisation „More in Common“, die sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzt und hierzu eigene Sozialforschung betreibt. Dort verantwortet der studierte Politikwissenschaftler die Durchführung quantitativer und qualitativer Umfragen. Er war zuvor für die Bertelsmann Stiftung tätig und zuletzt Leiter der politischen Analyse bei Policy Matters, einem Berliner Meinungsforschungsunternehmen. Foto: More in Common

Dafür lohnt eine kurze Rückblende: Wir haben nach der ersten Welle der Pandemie die Menschen gefragt, wie zufrieden sie mit der Krisenleistung ihres Landes sind. Dabei kam Deutschland – gerade auch im Vergleich zu Nachbarländern wie Frankreich – gut weg. Die Menschen hatten mehr Vertrauen in die Mitwirkung ihrer Mitmenschen oder die Krisenkompetenz ihrer Regierung als im europäischen Ausland. Zwei Jahre später ist davon nicht mehr viel übrig.

Woran machen Sie das fest?
Mittlerweile ist eine Mehrheit in Deutschland eher enttäuscht vom Krisenmanagement. Die Zahl derer, die sagen, dass die gegenseitige Fürsorge stark abgenommen hat, ist um rund 30 Prozentpunkte stark gestiegen. Man sieht eine gewisse Ernüchterung mit Blick auf das Miteinander. Der Anteil der Menschen, der denkt, dass sich jede*r nur um sich selbst kümmere, ist in den letzten zwei Jahren um knapp 20 Prozentpunkte gestiegen. Die Menschen sind allerdings schon zu Pandemiebeginn mit sehr unterschiedlichen Annahmen darüber in die Krise gegangen, wie stark man dem System und den Mitmenschen vertrauen kann. Es gab Menschen, die sehr zuversichtlich waren. Andere waren bereits sehr misstrauisch und fühlten sich von Anfang an auf sich allein gestellt. Dementsprechend unterscheiden sich heute die Perspektiven. Manche fühlen sich förmlich bestätigt, andere sind ernüchtert.

Bei welchen Themen verlaufen Trennlinien?
Ein gutes Beispiel ist das Impfen. Wir haben die Menschen in Deutschland im Dezember 2021 gefragt, bei welchem Thema sie eine Spaltung wahrnehmen. Die meisten nannten daraufhin die Spaltung in Geimpfte und Ungeimpfte. Es hat sich die Annahme eingeschlichen, dass sich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstehen und die Menschen beklagen das sehr. Das Thema ist in der Wahrnehmung stark polarisiert. In der Realität handelt es sich allerdings eher um eine „asymmetrische“ Spaltung im Verhältnis 70 zu 30 zugunsten der Corona-Maßnahmen, also eher eine gefühlte als eine wirkliche fünfzig-fünfzig-Spaltung.

Sie beschreiben in der Zusammenfassung der Studie ein Wir-gegen-Die-Narrativ, das sich stark beim Thema Impfen zeigt. Was sollte man aus sozialwissenschaftlicher Sicht in der Wissenschaftskommunikation dazu beachten?
Wir wissen aus der Sozialpsychologie, dass sich Gruppendenken bei Menschen schnell verselbstständigt. Gerade beim Impfen geht es schnell nicht mehr darum, was sachliche Pro- und Kontra-Argumente sind, sondern welcher Gruppe man durch sein Verhalten zugehört und wie man die eigene Gruppe schützt – also auch gegen Menschen, die anders denken als man selbst. Menschen haben mittlerweile in der Impffrage klare Abwertungstendenzen gegeneinander. Sie sind besonders stark seitens der Geimpften gegenüber Ungeimpften ausgeprägt. Die Menschen beklagen zudem in unseren qualitativen Forschungsgesprächen häufig ein öffentliches Schwarz-Weiß-Denken, das die Spaltung weiter vertiefe.

„Wir wissen aus der Sozialpsychologie, dass sich Gruppendenken bei Menschen schnell verselbstständigt." Jérémie Gagné
In der Wissenschaftskommunikation – wie auch in privaten Gesprächen – gilt es daher, die Temperatur der Debatte zu senken: das Stichwort ist Nuance. Gruppenkonflikte leben von sehr einfachen, klaren Feindbildern. Je mehr man die unterschiedlichen Beweggründe im Lager des „Gegners“ sichtbar macht – durch Umfragen, Forschungsergebnisse – desto stärker lässt sich die Debattentemperatur drücken.

Könnten Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Man sollte sich fragen, ob Ungeimpfte wirklich alle so stark ideologisch getrieben sind und zum harten Kern der Querdenkenbewegung gehören. Oder haben manche von ihnen eher ein allgemeines Misstrauen in staatliche Institutionen, aus einem Mangel an positivem Vertrauen? Es macht einen Riesenunterschied, ob man zwischen diesen Motivationen differenziert oder den Leuten pauschal das Gefühl gibt, sie alle in einen Topf zu werfen. Im letztgenannten Fall entsteht Trotz und der führt wiederum zu verstärktem Gruppendenken.

Sie haben auch die Wahrnehmung des Tons in Debatten untersucht. Was ist das Ergebnis?
Rund Dreiviertel der Befragten sagen bereits seit 2019, dass sich der Ton in öffentlichen Debatten zunehmend verschlechtert und hasserfüllt ist. Sie beklagen, dass Debatten in den Medien und Social Media oft schwarz-weiß sind und es dazwischen wenig Raum für Nuancen gibt. Die lautesten und radikalsten Stimmen machen gefühlt den Streit unter sich aus und heizen die Debatte an. Die Befragten schildern auch, dass sie das mittlerweile im familiären Umfeld erleben. Es sei schwieriger, heiße Themen zu besprechen und viele vermeiden sie lieber von Anfang an und schweigen. Diese Sprachlosigkeit belastet die Menschen. Wenn sich die Tonlage insgesamt verschärft, haben wir eine Spirale der Sprachlosigkeit.

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Wir haben im Dezember 2021 insgesamt 2.000 Menschen in Deutschland in einer Online-Panel-Studie zu ihrem Krisenerleben befragt. Uns ging es darum zu erfahren, wie sie die Krise wahrnehmen, welche Ängste und Sorgen sie haben und wie sie das gesellschaftliche Miteinander bewerten. Welche Erwartungen haben sie an die Zeit nach der Coronapandemie? Wir sind zudem mit einem sozialpsychologischen Ansatz herangegangen und haben die Personen in sechs gesellschaftliche Typen eingeteilt, also Gruppen in der Bevölkerung mit einer sehr eigenen Werte- und Moralprägung.

Was charakterisiert diese sozialpsychologischen Gesellschaftstypen und wie unterscheiden sie sich?
Wir haben diese Typen bereits 2019 beschrieben. Mit ihnen möchten wir verstehen, durch welche Werte- und Moralvorstellungen sowie Grundüberzeugungen hindurch Menschen die Gesellschaft wahrnehmen. Auf dieser Grundlage wollen wir dann auch die konkreten Konflikte in der Gesellschaft besser verstehen.

„Der Ton macht hier die Musik; denn, dass es grundsätzlich ein breites Bedürfnis nach Zukunftsgestaltung und politischem Handeln gibt, wissen wir seit 2019." Jérémie Gagné
Damals hatten wir im Grunde eine Dreiteilung der Gesellschaft festgestellt. Wir haben Typen gefunden, die sind eher zufrieden, fühlen sich gut informiert und sind sehr kompromissorientiert. Dementsprechend nennen wir sie Stabilisator*innen. Es gibt andere Gruppen, die sich sehr schlecht in die Gesellschaft eingebunden fühlen – wir sprechen vom unsichtbaren Drittel. Sie fühlen sich desorientiert, haben oftmals keinen Bezug zum Gemeinwesen und zu seinen Institutionen. Zu ihnen gehören unter anderem die sogenannten Enttäuschten. Diese Menschen mit schlechten Einbindungsgefühl stehen in starkem Gegensatz zu den stabilisierenden Gruppen. Denken wir zurück an die Coronakrise und die dazugehörige Kommunikation, dann erklärt sich schon allein aus diesem grundsätzlichen Kontrast, woher die Unterschiede im individuellen Pandemieverhalten kommen können. Die einen glauben den Informationen der Bundesregierung, lassen sich schnell impfen, weil sie Vertrauen haben. Die anderen fühlen sich sehr weit ab vom Schuss, reagieren erst einmal mit Skepsis, mit Unsicherheit, sind womöglich dadurch auch anfälliger für Verschwörungsinhalte. Und zwischen den Gruppen kann es ganz leicht zu Missverständnissen kommen, weil man einander in der Grundhaltung überhaupt nicht versteht.

Wie unterscheiden sich die Erwartungen an die Zeit nach der Coronapandemie innerhalb dieser Gruppen?
Es gibt Menschen, die nach der Pandemie den großen Wurf erwarten: Die Dinge sollen radikal angepackt werden und ein politischer Wandel Einzug halten. Gerade während des ersten Lockdowns haben sie gemerkt, wie schnell die Politik Dinge durchsetzen kann, wenn sie möchte. Gerade bei den progressiven, eher links tendierenden Typen besteht zum Beispiel mit Blick auf Klima- und Umweltschutz ein „transformativer“ Handlungswunsch.

Die 6 Typen der deutschen Gesellschaft

In einer Studie (2019) hat More In Common sechs Gesellschaftstypen anhand ihrer Sichtweise auf die Gesellschaft identifiziert.
 
Die Offenen (16 Prozent): Sie denken antiautoritär, hinterfragen traditionelle Sichtweisen besonders kritisch und begrüßen gesellschaftlichen Wandel. Die Offenen definieren sich relativ stark über politische Überzeugungen (die Mehrheit positioniert sich im linken Spektrum) und den jeweiligen eigenen Bildungsgrad.
Die Involvierten (17 Prozent): Charakteristisch ist vor allem ihr demokratisches Selbstbewusstsein, durch das sie auch häufiger als die anderen Typen das politische Gespräch suchen. Besonders wichtig ist den Involvierten Zusammenhalt und Kompromissfähigkeit.
Die Etablierten (17 Prozent): Die Etablierten sind vor allen Dingen eines: zufrieden. Die Überzeugung, dass Bürger*innen Eigenverantwortlichkeit haben und gesellschaftliche Handlungsmacht besitzen, ist für diese Kategorie bezeichnend. Sie sind eher wertkonservativ und haben im Schnitt das höchste Alter der sechs gesellschaftlichen Typen.
Die Pragmatischen (16 Prozent): Sie haben ein eher funktionales als emotionales Verhältnis zum politischen System. Die jüngste Gruppe der gesellschaftlichen Typen hofft eher auf die Lieferung guter Ergebnisse und beschäftigt sich selbst kaum aktiv mit demokratischen Prozessen. Gefühle wie Einsamkeit und Unsicherheit spielen eine große Rolle.
Die Enttäuschten (14 Prozent): Die Enttäuschten finden in der deutschen Gesellschaft am wenigsten positiven Halt. Das liegt an ihrem Hang zu minimalem Sozialvertrauen und ihrem Zweifel an echtem gesellschaftlichem Zusammenhalt. In dieser Gruppe sinkt die Demokratiezufriedenheit stetig, da sie sich oft von der Politik überhört und vernachlässigt fühlen.
Die Wütenden (19 Prozent): Charakteristisch sind Gefühle wie Pessimismus, Unzufriedenheit und Empörung, welche ihren Blick auf Gesellschaft und Politik prägen. Die Wütenden haben klare ideologische Vorstellungen und stehen im politischen Spektrum deutlich rechts. Die Skepsis gegenüber ihren Mitmenschen ist besonders ausgeprägt, ebenso wie ihr großes Misstrauen gegenüber den Medien.

Es gibt aber auch Gruppen in der Gesellschaft, die zögerlicher sind. Sie wollen schnellstmöglich zu einer gewissen Normalität wie vor der Pandemie zurückzukehren, zu einem Status quo ante. Diese Unterschiede in der Aufgeschlossenheit für Wandel sind für die Kommunikation sehr brisant: Alle Kommunikationsangebote, die sagen, ausgerechnet die Pandemie schaffe förmlich den Moment, um auch an anderer Stelle im großen Stil zu handeln, überzeugen nur einen Teil. Andere Bevölkerungsteile teilen diese Zuversicht nicht und spielen lieber auf Nummer sicher, wollen schrittweise Verbesserungen. Wer mit ihnen über Veränderung sprechen will, sollte das also weniger im Licht einer großen „Transformation“, als vielmehr im Hinblick auf konkrete Korrekturen tun, zum Beispiel bei der Arm-Reich-Schere oder dem Umgang mit der Natur. Der Ton macht hier die Musik; denn, dass es grundsätzlich ein breites Bedürfnis nach Zukunftsgestaltung und politischem Handeln gibt, wissen wir seit 2019.

Was lässt sich daraus für zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen lernen?
Langfristig muss wieder Vertrauen aufgebaut und die Debattentemperatur abgesenkt werden. Dazu braucht es eine Aufarbeitung der Coronapandemie. Die Kommunikation sollte sich die Frage stellen, wie es dabei nicht wieder zu einer Polarisierung kommt. Kommen auch leisere Stimmen zu Wort und nicht nur die, die ohnehin in den sozialen Medien schon sehr laut und oft schreiend unterwegs sind?

„Langfristig muss wieder Vertrauen aufgebaut und die Debattentemperatur abgesenkt werden." Jérémie Gagné

Welche Stimmen könnten das sein?
Es sollten Vertrauensfiguren oder Mittler*innen sein, die öffentlichkeitswirksam eine Art Schlichterrolle einnehmen und zwischen unterschiedlichen Interessen vermitteln können. Ganz wichtig ist zudem der positive Zukunftsbezug. Unsere Forschung zeigt, dass die meisten Menschen das Bedürfnis haben, darüber zu sprechen, was und wie dieses Land funktionieren sollte, welche Werte uns leiten sollten. Die meisten wünschen sich ein gerechtes, demokratisches, verantwortungsbewusstes Land. Es würde sich lohnen, ein Gespräch darüber zu führen, was uns verbindet.