Ob Wissenschaftskommunikation automatisch Demokratie fördert, ist umstritten. Der Politikwissenschaftler Michael Zürn hat dazu eine klare Haltung. Im Interview erklärt er, was Forschende beachten sollten, um bessere gesellschaftliche Debatten zu führen.
„Einfach zu sagen, ‚wir sind jetzt wieder neutral‘, funktioniert nicht.”
Herr Zürn, bei der Frage, ob Wissenschaftskommunikation per se immer die Demokratie stärkt, gehen die Meinungen auseinander. Was sagen Sie? Kann Wissenschaftskommunikation dazu beitragen, demokratische Systeme zu stärken?
Ja, Wissenschaftskommunikation kann sicherlich dazu beitragen, aber das ist ein ambivalentes Thema. In der Politik hat die Bedeutung klassischer Mehrheitsentscheidungen abgenommen, währen die Bedeutung von Institutionen, die in erster Linie fachlich und nicht mehrheitlich entscheiden, zugenommen hat. An der Stelle könnte man sagen, dass die Einbindung von Bürger*innen durch Wissenschaftskommunikation in solchen Expertengremien eine wichtige Demokratisierungsmaßnahme ist.
Allerdings gibt es in unserem politischen System grundlegende Probleme bei der fairen Vertretung aller Gruppen. Es produziert Entscheidungen, die die Interessen einer Gruppe berücksichtigen und die Interessen einer anderen Gruppe nicht abbilden.
Um welche Gruppe handelt es sich?
Diese andere Gruppe ist der Globalisierungsverlierer oder auch häufig diejenigen mit weniger Bildung, mit weniger Einkommen in einfachen Berufstätigkeiten. Diese Entwicklung wird durch Konzepte wie „scientific citizenship“ möglicherweise verstärkt, da bei der Mitwirkung in der Wissenschaftskommunikation meist besser gebildete und sprachlich kompetente Gruppen dominieren. Insofern hat Wissenschaftskommunikation eine ambivalente Wirkung. Sie kann einerseits demokratische Teilhabe fördern, andererseits bestehende Ungleichheiten vertiefen.
Was bedeutet für Sie „Verantwortung“ in der Wissenschaftskommunikation, insbesondere im Kontext von Demokratie und Meinungsbildung?
Um dieses Vertrauen nicht zu verspielen, ist es wichtig, dass die Wissenschaft sich manchmal selbst zurücknimmt. Sie sollte nur dann mit wissenschaftlicher Autorität sprechen, wenn ihre Aussagen wirklich fundiert sind.
Man sollte sich als Wissenschaftler*in kommunikativ auf die Gebiete beschränken, wo man diese epistemische Autorität in Anspruch nehmen kann. Wenn Wissenschaftler*innen in Diskursen Stellung beziehen, in denen sie keine Expertise haben, sollten sie klarstellen, dass sie nicht in ihrer wissenschaftlichen Rolle, sondern als Bürger*innen sprechen.
In Ihren Arbeiten sprechen Sie vom „liberalen Wahrheitsregime“. Welche Rolle spielt die Art und Weise, wie in liberalen Gesellschaften über Wahrheit entschieden wird, in der aktuellen Vertrauenskrise von Wissenschaft und Demokratie?
In liberalen Gesellschaften besteht die Konstruktion von Wahrheit aus drei Säulen. Individuelle Überzeugungen, öffentlicher Diskurs und Wissenschaft. Die Wissenschaft hat dabei eine privilegierte Rolle, da sie dank ihrer Apparaturen und Theorien einen besseren Zugriff auf die Realität hat, als das Individuum. Galileo Galilei konnte die Erdbewegung besser beurteilen als alle anderen, weil er ein exzellentes Teleskop hatte.
Bestimmte politische Gruppierungen stellen diese privilegierte Rolle jedoch zunehmend in Frage. Ein Beispiel hierfür ist die Corona-Pandemie, in der einige Menschen mit detailliertem Wissen aus dem Internet eigene Interpretationen von wissenschaftlichen Daten entwickelten und dabei die Autorität von Expert*innen wie Christian Drosten infrage stellten. Sie haben gesagt: “Ich kann selbst wissenschaftliche Autorität beanspruchen.” Das ist ein Beispiel für einen Vertrauensverlust, der auch systematische Gründe hat.
Gibt es Möglichkeiten für die Wissenschaft, Neutralität zurückzugewinnen und wäre das überhaupt produktiv?
Die Rückgewinnung von Neutralität ist in der Tat sehr schwer. Das liegt daran, dass der Eindruck mangelnder Neutralität oft weniger auf bewusster Parteinahme beruht, sondern darauf, dass bestimmte Themen hervorgehoben werden. Einfach zu sagen, „wir sind jetzt wieder neutral“, funktioniert nicht.
Es gibt allerdings zwei Punkte, an denen die Wissenschaft selbst Einfluss auf Ihre Wahrnehmung nehmen könnte. Politik und Gesellschaft haben die Tendenz, Entscheidungen an die Wissenschaft zu delegieren. Man erwartet von der Wissenschaft nicht nur, Szenarien oder mögliche Folgen aufzuzeigen, sondern im Grunde auch politische Entscheidungen vorzubereiten.
Hier sollte die Wissenschaft klarstellen, dass ihre Rolle Grenzen hat. Die Wissenschaft kann sagen: „Wenn A passiert, folgen B und C.“ Aber die Entscheidung, ob A angestrebt wird, ist eine politische Frage und muss im politischen Raum bleiben.
Ja – auch an den Universitäten gibt es eine innere Politisierung. Das zeigt sich zum einen durch politische Entscheidungen, die die Positionen der Wissenschaftler*innen infrage stellen, zum Beispiel im Kontext des Nahost-Konflikts.
Zum anderen durch interne Prozesse, bei denen bestimmte Perspektiven als illegitim dargestellt werden. Besonders in Bereichen wie Postkolonialismus oder Antidiskriminierung können berechtigte Kritikpunkte in extreme Richtungen kippen. Wenn bestimmte Sichtweisen systematisch ausgeschlossen werden, leidet die Wissenschaftsfreiheit.
Wie sehen Sie die Verantwortung der Wissenschaftskommunikation bei der Bekämpfung von Fehlinformationen in demokratische Debatten?
Das gezielte Zurückweisen von Fake News und Desinformation ist genau die Ausübung der epistemischen Autorität. Es geht darum, zu sagen: „Nein, das ist falsch. Das ist Humbug.“
Denn es handelt sich bei vielen Aussagen der autoritären Populisten in den USA aber auch in Europa oft nicht um bloßen Quatsch oder Irrsinn, sondern um bewusste politische Strategien, um die Rationalität des Diskurses zu untergraben. Denn nur wenn die Vernunft in gesellschaftlichen Debatten geschwächt ist, haben diese Gruppen bessere Chancen auf Wahlerfolge.
Wie sollte sich Wissenschaftskommunikation weiterentwickeln, um diesen aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden?
Ich denke, Selbstbeschränkung und eine klare Trennung der handelnden Rollen, also als Wissenschaftler*in in der einen und als politisch handelnder Mensch in einer anderen Situation, ist ein guter Weg.
Wir sollten jedoch auch aufpassen, dass die Bedeutung der Wissenschaftskommunikaton nicht überhand nimmt. Die Zeit, die Wissenschaftskommunikation im Leben eines*r Wissenschaftlers*in einnimmt, ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch angestiegen.
Wir sehen das bei den Interviews nach den Fußballspielen. Alle haben das gleiche Training, aber es gibt dennoch große Unterschiede in der Umsetzung. Wissenschaftler*innen sollten ‚Tore schießen‘ – nicht nach dem Spiel die besten Interviews geben.