Soziale Kippelemente können gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Welche das im Kontext der Klimakrise sein können, hat die Soziologin Ilona Otto erforscht. Ein Gespräch über Werte von Gesellschaften, „committed minorities“ und die Rolle der Wissenschaftskommunikation im sozialen Wandel.
„Eine kleine motivierte Gruppe kann eine Gesellschaft ändern“
Frau Otto, in den Klimawissenschaften beschreiben Kipppunkte bestimmte Schwellenwerte, bei deren Überschreiten sich das Klima unumkehrbar verändert. Sie haben in einer Studie „social tipping points“, soziale Kippelemente, hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft untersucht. Was versteht man unter diesem Konzept?
Soziale Kippelemente sind Teile eines Systems, die dessen gesamte Entwicklung beeinflussen können. Wenn man sie verändert, kippt das System in die eine oder andere Richtung.
Die Richtung, die Sie sich 2020 in einer Studie angesehen haben, war der Weg hin zu einer klimaneutraleren Gesellschaft. Welche sozialen Kippelemente haben Sie in diesem Kontext gefunden?
Ich muss vorwegsagen, dass das keine vollständige Liste ist. Die Welt ändert sich ständig. Das bedeutet auch, dass manche wichtigen Phänomene nicht in der Studie inkludiert sind. Wir haben auf Basis einer Literaturrecherche, Fallstudien und Expert*inneninterviews sechs soziale Kippelemente vorgeschlagen: das Energiesystem, den Finanzmarkt, den Städtebau, das Bildungssystem, den Informationsaustausch und Normen und Werte.
Wie können diese Elemente beispielsweise ein System kippen?
Beim Energiesystem geht es beispielsweise darum, die Energieproduktion dezentraler zu gestalten und die Subventionen von fossilen Energieträgern zu streichen. Am Finanzmarkt sind Investitionen in fossile Industrien noch immer profitabel. Das muss sich ändern. Studien zeigen, dass eine gewisse Menge an Investoren ein Finanzsystem kippen können1. Das geschah bei der Finanzkrise 2008. Etwas Ähnliches kann auch durch die Divestment-Bewegung hin zu einer klimaneutraleren Gesellschaft passieren, wenn Investoren nicht mehr in die fossile Industrie investieren und somit deren Wert fällt, sodass sie weniger attraktiv als Investments sind. Beim Punkt Information geht es unter anderem um greenhouse gas information disclosure. Aktuell ist es für viele schwierig einzuschätzen, wie viele Emissionen das eigene Verhalten – Autofahren, Fliegen – oder Produkte und Dienstleistungen – Lebensmittel, Kleidung – verursachen. Natürlich könnte man das recherchieren und berechnen, aber wir sind häufig zu faul. Um Emissionen tatsächlich reduzieren zu können, braucht es ein transparentes System, um sie beobachten und kontrollieren zu können.
Die Studie im Überblick
Die Publikation „Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050“ erschien im Januar 2020 in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“. Darin beschreiben die Autor*innen sechs soziale Kippelemente, die zu einer Transformation zu einer klimaneutralen Welt anstoßen können. Interventionen, die diese Kippelemente auslösen können sind laut Publikation: Subventionen für fossile Brennstoffe streichen, erneuerbare Energien fördern, fossilen Industrien Kapital am Finanzmarkt entziehen (Divestment), Städte klimaneutral umrüsten, mehr Informationen zum Thema vor allem an Schulen bereitstellen und die Wert- und Moralvorstellungen von Bürger*innen in Debatten um schädliche Treibhausgase berücksichtigen. Eine Einschätzung der Ergebnisse durch Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen gibt es beim Science Media Center.
Es geht um eine moralische Verpflichtung oder normative Regelung, das Klima zu schützen und Emissionen zu vermeiden. Wir sollten uns schlecht fühlen, wenn wir CO2 verursachen. Unsere Gesellschaft baut auf bestimmten Grundregeln auf. Wir vertreten bestimmte Werte wie Frauenrechte oder Rechte von Minderheiten. Werte und Normen sind wichtig, um in komplexen Gesellschaften leben zu können. Dazu sollte auch gehören, nicht der Umwelt und dem Klima zu schaden.
Sollte man in der Kommunikation folglich an Werte und Moralvorstellungen appellieren?
Ich denke schon. Aktuell sehen wir, dass wir zwar Gas billiger aus Russland kaufen könnten, aber das als Gesellschaft nicht mehr wollen, weil es gegen unsere Werte verstößt. Die meisten Menschen wollen kein Leid verursachen, das steckt tief in uns. Man kann also durchaus nicht nur an das Verständnis von Menschen appellieren, sondern auch an deren Wertvorstellungen und Emotionen.
In der Publikation zur Studie heißt es, die gesellschaftliche Transformation benötige „ansteckende und sich schnell ausbreitende soziale und technologische Veränderungsprozesse“. Inwiefern kann sozialer Wandel ansteckend sein?
Soziales Verhalten – sowohl positives als auch negatives – kann ansteckend sein. Das gilt beispielsweise für Gewalt. Bei Protesten kann man manchmal beobachten, wie Chaos entsteht, wenn manche Leute gewalttätig werden und die andere Seite darauf reagiert. Plötzlich schaukelt sich das hoch. Genauso können positive Verhaltensänderungen andere anstecken. Wenn wir sehen, dass jemandem eine Sache wichtig ist, wenn wir dessen Motivation spüren, dann übernimmt man das Verhalten. Wenn sich viele Menschen an gewisse Normen halten, entsteht Veränderung.
Dieses Gefühl von Enthusiasmus ist sehr wichtig, um andere Menschen zu begeistern und an Bord zu holen. Die Menschen von Fridays For Future engagieren sich beispielsweise überzeugt für den Klimaschutz. Ihr Engagement motiviert wiederum andere, mitzumachen. So entstehen soziale Mechanismen, die zu Veränderungen führen können. Immer mehr Leute ernähren sich regional oder vegan oder vegetarisch. Je mehr mitmachen, desto stärker sinken die Kosten. An einem bestimmten Punkt – das beobachtet man beispielsweise bei erneuerbaren Energien – kann dann das System kippen: Solarenergie ist in vielen Ländern der Welt die günstigste Energieform. Warum sollte man mehr für andere Formen zahlen?
Es gibt das Konzept der „committed minority“, die es braucht, um eine Gesellschaft zu verändern. Kann man benennen, wie viele Menschen man erreichen muss, damit das passiert?
Das hängt stark von den Netzwerkstrukturen und dem Informationsaustausch ab. Je mehr Austausch über Kontakte stattfindet, desto schneller geht es. Deshalb kann man nicht für alle relevanten sozialen Systeme pauschal Werte nennen. Wir haben für Finanzmärkte errechnet, dass man neun Prozent der Investoren braucht, um ein System zu kippen. Eine Studie zu sozialen Bewegungen und zivilem Ungehorsam hat gezeigt, dass dreieinhalb Prozent der Bevölkerung sich beteiligen muss, um erfolgreich zu sein. Es gibt auch ein Verhaltensexperiment, in dem die Wissenschaftler*innen nachweisen konnten, dass 25 Prozent der Teilnehmenden ihre Ansicht ändern mussten, um die Normen der ganzen Gruppe zu beeinflussen. Die Werte liegen aber deutlich unter der Hälfte. Eine kleine motivierte Gruppe kann eine Gesellschaft ändern.
Die Rolle der Wissenschaft ist es, ihre Ergebnisse zu kommunizieren und zu zeigen, welche gesellschaftlichen Transformationsprozesse möglich sind. Wir sammeln dazu aktuell verschiedene Case Studies2 und analysieren die Erfolgsfaktoren, beispielsweise wie eine Gemeinde unabhängig von fossilen Energien werden kann. Wissenschaftler*innen sollten sich auch medial engagieren. Gerade in den sozialen Medien wird man mit Informationen überflutet; manches davon ist falsch. Es ist auch die Aufgabe von Wissenschaft, diesen Informationsaustausch zu beobachten und zu beeinflussen. Wenn man Falschinformationen sieht, sollte man auch klarmachen, dass die Forschungsergebnisse die Aussagen nicht stützen. Genauso reicht es nicht, Daten zu sammeln und darüber zu sprechen, wie sich das Klima entwickelt. Wir sollten auch darüber sprechen, wie Klimaanpassung aussehen könnte. Wir beobachten diesen Sommer Trockenheit und Dürren, in anderen Regionen gibt es Überschwemmungen. Das ist etwas, was Menschen beschäftigt. Als Wissenschaftler*innen müssen wir die Verbindungen klarstellen, dass das nicht natürlich ist, sondern dass wir – unsere Ressourcen- und Energienutzung – solche Katastrophen beeinflussen.
Veränderungen passieren häufig nur sehr langsam. In Ihrer Publikation schreiben Sie, dass es „disruptive change“, radikale Veränderungen, im Sinne des Klimaschutz brauche. Wie gelingt ein solcher disruptiver Wandel?
Wie sollten Menschen in der Wissenschaftskommunikation und im Journalismus diese Entwicklungen begleiten?
Mehr Austausch ist wichtig, auch mit Entscheidungsträger*innen. Man muss die Debatten in der Gesellschaft beeinflussen. Eine Frage ist dabei, wie man die wichtigen Gruppen erreicht. Es ist sinnvoll, verschiedene Kommunikationskanäle und -inhalte für die verschiedenen Gruppen zu nutzen und die Kommunikationsstrategien an sie anzupassen. Ich frage mich auch, wie man die Wohlhabenden beeinflussen kann. Wie erklärt man finanziell schlechter gestellten Menschen, dass sie sich einschränken sollen, wenn andere mit dem Privatflugzeug fliegen und mehrere Häuser haben? Sie fragen sich, wie sehr ihre Entscheidungen im Vergleich eine Rolle spielen. Das ist demotivierend, wenn man selbst auf Emissionen achtet und sich andere Leute darum scheinbar keine Gedanken machen.