Viele Demokratien kämpfen mit einer zunehmenden Polarisierung der politischen Debatten. Im Interview erklärt Olaf Kramer, Professor für Rhetorik und Wissenschaftskommunikation an der Universität Tübingen, wie vor diesem Hintergrund Verständigung gelingen und welchen Beitrag die Wissenschaftskommunikation dazu leisten kann.
„Eine Gesellschaft, in der sich alle einig sind, wäre eine Gesellschaft ohne Fortschritt“
Herr Kramer, nach Jahren der Pandemie und globalen Krisen scheinen viele gesellschaftliche Debatten polarisiert. Oft wird von einer Verrohung des Dialogs gesprochen. Haben wir das Streiten verlernt?
Debatten sind ein wichtiger Bestandteil der politischen Kommunikation in einer Demokratie. Insofern gehört auch Streit zur Demokratie. Eine Demokratie ist nicht denkbar, ohne dass unterschiedliche Positionen offen vertreten und Alternativen klar herausgestellt werden können. Auf diese Weise erhalten Wähler*innen eine Entscheidungsgrundlage. Eine Gesellschaft, in der sich alle einig sind, wäre eine Gesellschaft ohne Fortschritt. In einer politischen Debatte sollte es potentiell immer möglich sein, Fakten unterschiedlich zu bewerten. In polarisierten Debatten wird jedoch die Identität des Gegenübers selbst angegriffen. Die Identitätsfrage wird zum bestimmenden Element der Polarisierung.
Warum haben sich gesellschaftliche Debatten in den letzten Jahren verändert?
Wenn man über gesellschaftliche Polarisierung spricht, ist zunächst einmal wichtig, keine monokausalen Erklärungen anzubieten. Eine beliebte These ist beispielsweise, dass die sozialen Medien einen großen Einfluss auf gewisse Polarisierungseffekte haben. Das aber als monokausale Erklärung zu nehmen, ist hoch problematisch. Denn ja, Medien spielen eine Rolle bei der Polarisierung, aber auch viele weitere Faktoren, etwa Transformationsprozesse wie Migration, die Pandemie oder der globale Klimawandel. In einer Transformationsphase fühlen sich Menschen in ihrer Identität bedroht und versuchen, diese zu verteidigen. Hinzu kommt die zunehmende Komplexität von gesellschaftlichen Strukturen und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die es schwer machen, sich zu orientieren. Dann ist eine einfache bipolare Sichtweise eine leichte Alternative. Es müssen also viele Gründe angeführt werden. Dabei ist es wichtig sich klarzumachen, dass unsere Gesellschaft nicht über die Breite polarisiert ist.
In vielen gesellschaftlichen Feldern sehen wir die Situation, dass sich maximal ein Drittel der Bevölkerung sehr stark dem einen oder anderen Lager zuordnet. So lehnen jeweils rund 25 % der Bevölkerung den Einsatz von KI ab bzw. befürworten ihn. 29% Prozent der Bevölkerung fühlt sich oft oder gelegentlich mit ihren Meinungen ausgegrenzt. Und die Zahl der Menschen, die der Wissenschaft nicht vertraut, liegt laut dem letzten Wissenschaftsbarometer nur bei 8 %. Eine sehr deutliche Mehrheit der Gesellschaft ist sich hingegen relativ einig in ihrer Einschätzung vieler gesellschaftlicher Themen und positioniert sich eben gerade nicht bei extremen Positionen. Die Polarisierungseffekte an den Rändern haben aber eine besondere Sichtbarkeit. Sie werden relativ laut und emotionalisiert artikuliert und viele Social Media Plattformen unterstützen diese Art der Kommunikation.
Wie können wir als Gesellschaft dieser Polarisierung entgegenwirken?
Ein wichtiger Bestandteil jeder guten politischen Debatte ist ein klar definierter „common ground“, also eine Verständigungsgrundlage, über die man sich einig ist. Das betrifft etwa das Rationalitätskriterium, also die Tatsache, dass man Fakten anerkennt und diese nicht in Zweifel zieht, sofern sie eindeutig sind. Hinzu kommt der dialogische Ansatz als zentrales Verfahren für jede Form von Kommunikation, um Polarisierung zu vermeiden. Also ein offener Gesprächsansatz, in dem ich auch andere Positionen gelten lasse. Sobald ich diesen Schritt zum Dialog gegangen bin und nicht sofort meinem Gegenüber die Existenzberechtigung abspreche, kann man auch über alles sprechen, was Teil des „common grounds“ ist.
Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten ist eine wichtige Methode gegen Polarisierung. In einem Dialog geht es auch darum, genau hinzuhören und zu sehen, wo die Konfliktlinien eigentlich liegen. Häufig liegen Konfliktlinien darin, dass man die Identität und die eigene Lebensweise bedroht sieht. Diese Bedrohung zu fühlen und zu artikulieren hat durchaus Legitimität. Das große Problem bei der Polarisierung ist, dass es zu keiner rationalen Auseinandersetzung mit anderen Positionen mehr kommt. Dass eine Position sofort schlecht ist, nur weil sie aus dem anderen Lager kommt, kann man in den USA beobachten. Dort haben sich mit den Demokraten und Republikanern so genannte „mega identities“ herausgebildet. Wenn sich diese beiden Identitätskonstrukte gegenüberstehen, ist es egal, was von der anderen Seite kommt. Es ist automatisch schlecht.
Wie kommen wir da wieder raus?
Der zentrale Punkt ist, dass es eigentlich um Identitätsfragen geht. Als Menschen haben wir immer eine gewisse Neigung, unsere Identität in Abgrenzung zu etwas anderem zu denken und zu festigen. Es ist nicht leicht, da herauszukommen. Deshalb ist es ein wichtiges gesellschaftliches Thema, wie man integrativer über Identität nachdenken kann. Wenn ich in einer Situation bin, in der ich Identität auf bestimmte Werte zurückführe, bin ich sehr viel offener, weil sich jemand dazu entschließen kann, diese Werte anzuerkennen. So sind zum Beispiel das Rationalitätsprinzip, also Fakten anzuerkennen, wenn sie eindeutig sind, oder die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, ganz zentrale Merkmale einer europäischen Identität. Wenn ich also wertebasiert und weniger aufgeladen von nationalistischen oder rassistischen Vorstellungen über Identität nachdenke, habe ich ein Angebot, das viel einladender ist. Zugleich verlassen wir die nationalistisch aufgeladene Identitätsfalle.
Wodurch zeichnet sich eine „gute“ Debattenkultur aus?
Was wir in polarisierten Debatten erleben ist, dass gut ausgearbeitete, rationale Argumente häufig nicht verfangen oder sogar einen gegenteiligen Effekt haben, indem sie Polarisierung noch zusätzlich verstärken. Dann werden zum Beispiel Verschwörungsnarrative entwickelt, nach denen eine Verschwörung hinter den Forderungen der Wissenschaft steht. Das kann man beim Kampf gegen den Klimawandel beobachten, war aber auch während der Corona-Krise ein Problem. Insofern würde ich sagen, dass einfach dagegen zu argumentieren oft der falsche Weg ist. Das umzusetzen ist nicht einfach, denn Wissenschaftler*innen sind durch ihre akademische Ausbildung darin geschult, über gute Gegenargumente unsere Position durchzusetzen. Richtig wäre, Dialoge zu führen, aktiv zuzuhören und Emotionalisierung zu vermeiden.
Darüber hinaus kann Nähe ein zusätzlicher wichtiger Faktor sein. Wenn zum Beispiel jemand in Richtung verschwörungstheoretischen Vorstellungen driftet, dann hat jemand, der dieser Person nahesteht, eine wesentlich größere Chance, zu ihr durchzudringen.1 Nicht nur in diesem Fall sollte man versuchen, offen und dialogisch zu sein. Aus meiner Sicht sind diejenigen, die sich auf die Seite der Wissenschaft stellen und ihr vertrauen, auch nicht frei von Polarisierung. Dann wird etwa derjenige, der mit den Klimaprotesten nicht einverstanden ist, in seiner Identität darauf reduziert, Klimaleugner zu sein. Es ist bequem, auf Seiten der „Guten“ zu stehen. Doch auch wir müssen an uns halten, wenn wir ernsthaft daran glauben, eine gesellschaftliche Verständigungsgrundlage zu bauen.
Nicht erst seit der Corona-Pandemie stehen auch kommunizierende Forschende immer wieder im Zentrum gesellschaftlicher Debatten. Welche Rolle kann und sollte die Wissenschaft in öffentlichen Debatten einnehmen?
Das ist eine wichtige Frage. Stichwort Aktivismus: Oft wird gefordert, Wissenschaftler*innen sollten aktivistischer sein in Anbetracht bestimmter Menschheitsbedrohungen wie dem Klimawandel oder der Art und Weise, wie KI die Gesellschaft durcheinander wirbeln wird. Als Wissenschaftler*in aktivistisch zu sein birgt jedoch auch die Gefahr, Polarisierungsprozesse voranzutreiben. Wissenschaftler*innen sollten stets versuchen, objektiv Einschätzungen abzuliefern. Vor allem in einer Demokratie sollte es jedoch Aufgabe des politischen Prozesses bleiben, darauf basierende Werteentscheidungen zu treffen. Ich finde es von zentraler Bedeutung, dass es diesen politischen Abwägungsprozess gibt, also die Frage, wie wir mit den Informationen aus der Wissenschaft umgehen wollen.
Die Wissenschaft ist sehr fluide, sie wechselt oft in ihren Erklärungen und arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten. Man sollte in der Wissenschaftskommunikation also keine falschen Erwartungen mit Wissenschaft und Forschung verbinden. Vor allem in polarisierten Debatten ist es ein Problem, wenn Studien herangezogen werden, die eindeutig die eigene Haltung belegen sollen, auch, wenn sie unter genauer Betrachtung gar nicht so eindeutig sind. Forschende sollten sich ihrer politischen Verantwortung und der gesellschaftlichen Dimension ihrer Forschung bewusst sein und vermeiden, emotionalisierend, ausgrenzend oder eben aktivistisch aufzutreten. Dies kann Polarisierungseffekte und Verschwörungsmythen verstärken. Insofern bin ich für ein politisches Bewusstsein in der Forschung, aber gegen Aktivismus. Das ist oftmals ein schmaler Grat.
Wie kann die Wissenschaftskommunikation dazu beitragen, diesen Polarisierungseffekten entgegenzutreten und einen produktiven Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu ermöglichen?
Zunächst einmal sollte sie keine Wissenschafts-PR sein, da PR eher das Misstrauen gegen Wissenschaft stärkt. Wissenschaftskommunikation sollte offen mit der Unsicherheit wissenschaftlicher Erkenntnis umgehen. Deshalb ist die Stärkung von „Scientific Literacy“, also eines grundlegenden Verständnisses naturwissenschaftlicher Zusammenhänge und wissenschaftlicher Verfahren, in der Gesellschaft eine zentrale Aufgabe, in der die Wissenschaftskommunikation eine wichtige Rolle einnehmen kann. Und dabei ist eben auch der Gedanke von Pluralität, Offenheit, ständiger Veränderung und Weiterentwicklung von Wissen zentral. Erhebliche Defizite hat man in dieser Hinsicht während der Corona-Pandemie gesehen, da oft die Neigung vorherrschte, eine einzelne Studie als „die Wahrheit“ zu verkünden, die man dann kurze Zeit später wieder relativieren musste. Das hat das Potential, die Bevölkerung zu irritieren.2
In dem Sinne ist eine wichtige Aufgabe von Wissenschaftskommunikation, den Prozesscharakter von Forschung offen zu kommunizieren. Diesen Auftrag sollten wir ernster nehmen, statt der Neigung nachzugeben, Ergebnisse zu feiern und als Durchbrüche zu inszenieren. Damit wird nur verdeckt, dass Wissenschaft immer ein Wechselspiel zwischen Sicherheit und Unsicherheit darstellt. Ein weiterer wichtiger Punkt: Diskursräume zu eröffnen. Wie können Veranstaltungen aussehen, die Dialog ermöglichen? Und wie können Dialogräume aussehen, die nicht nur wissenschaftsaffine Menschen erreichen? Ich kann durch die Ortswahl sehr stark den Dialog eröffnen oder eben auch einschränken. So haben wir im RHET AI Center beobachten können: Wenn man eine Lesereihe zum Thema Künstliche Intelligenz in einem Gartencafé macht, dann ist viel mehr Dialog zu finden, als wenn man sich in einen klassischen Veranstaltungsraum begibt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Perspektivenübernahme, sich also damit zu befassen, wie weit viele Menschen davon entfernt sind, sich in ihrem alltäglichen Leben mit wissenschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Auch da ist die Wissenschaftskommunikation oft etwas verblendet, da wir vielen Menschen ein gewisses Grundinteresse an Wissenschaft unterstellen. Insofern haben neue Formate der Wissenschaftskommunikation auch viel damit zu tun, aus der eigenen Perspektive herauszutreten und die eigenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.