Die Corona-Krise könnte verändern, wie Forschende mit komplexen Problemen umgehen – sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch in der Kommunikation mit der Gesellschaft. Davon ist Benedikt Fecher vom Berliner Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft überzeugt.
„Eine Chance für Open Science“
Herr Fecher, welche Auswirkungen hat Corona auf die Wissenschaft?
Das kommt ein wenig darauf an, von welchen Disziplinen wir sprechen. Disziplinen, die stark von Experimenten, Laboren oder Großforschungsanlagen abhängig sind, haben natürlich unmittelbar mit der aktuellen Situation zu kämpfen. Generell sehe ich aber durchaus Chancen, die sich aus der Krise ergeben. Das bezieht sich zum einen auf die verstärkte Anwendung und die dringend benötigte Etablierung von digitalen Tools, insbesondere in der Lehre. Darüber hinaus bietet die aktuelle Situation aus meiner Sicht vor allem eine Chance für Open Science, schließlich beobachten wir derzeit einen enormen Zuwachs an Open-Access-Veröffentlichungen und den verstärkten Austausch von Forschungsdaten. Insbesondere das Zutrauen in die Behandlung von komplexen Problemen könnte wachsen. Und das bezieht sich sowohl auf die innerwissenschaftliche Kommunikation als auch auf die Kommunikation mit der Gesellschaft.
Was genau meinen Sie damit?
Mein Eindruck ist, dass wir uns in der akademischen Forschung oft der Komplexität von Problemen verweigern, das heißt wir disziplinieren Probleme, deren Behandlung eigentlich disziplinäre Zusammenarbeit bedürfen. Unsere Publikationskultur, Karrierepfade und Mittelvergabe bevorzugen diese monodisziplinäre Betrachtung von Problemen. So entsteht viel Wissen, aber es entstehen nicht unbedingt Antworten. Dabei geht es mir um eine funktionale Interdisziplinarität, in der verschiedenen Disziplinen bezogen auf ein konkretes Problem zusammenwirken. Die Bewältigung der COVID-19-Krise ist so ein komplexes Problem, dass sich nicht aus einer disziplinären Perspektive lösen lässt. Dazu zählt auch die Art und Weise, wie Forschende untereinander kommunizieren. Wir sind es gewohnt, Fachartikel zu schreiben. Das hat natürlich seine Berechtigung, aber Artikel sind eben nicht das einzige Resultat von Wissenschaft, das kommunizierbar ist. Daten, Code oder andere mediale Formate sind ebenfalls wichtige wissenschaftliche Outputs, die ganz andere Formen des Wissens speichern können. Wir verweigern Komplexität in der Art und Weise, wie wir Probleme verstehen und wie wir über diese Probleme kommunizieren.
Das hat viel mit unserem aktuellen Anerkennungssystem in der Wissenschaft zu tun. Viele der Metriken zur Bewertung von Forschenden beziehen sich auf deren Publikationen beziehungsweise die Zitate, die sie für ihre Publikationen bekommen. Die Dominanz dieser bibliometrischen Leistungsmessung für die individuelle Karriere führt dazu, dass wir viele Artikel schreiben und zwar ganz egal, ob sie gelesen werden. Das Publikationssystem bevorteilt also monodisziplinäre, lineare Kommunikation und verweigert sich damit in gewisser Weise eben auch der Komplexität wissenschaftlicher Probleme und ihrer Lösungen.
Das bezieht sich ja vor allem auf die innerwissenschaftliche Kommunikation. Wie sieht es bei der externen Wissenschaftskommunikation aus?
Da verhält es sich aus meiner Sicht ähnlich. Auch hier haben wir es mit Metriken und Anerkennungsmechanismen zu tun, die nicht unbedingt dazu führen, dass Relevanz entsteht. Altmetrics beispielsweise ist ja eigentlich nur eine Fortführung der Zählung von Pressemitteilungen in der digitalen Welt. Der Score hilft aber nur begrenzt bei der Einschätzung der gesellschaftlichen Relevanz und der Wirkung von Kommunikation. Das gilt auch für viele andere Relevanzmessungen, die sich auf zu oft auf schlechte, Hauptsache zählbare Proxies beziehen. Auch das bedeutet also eine Verweigerung gegen Komplexität. Sie vernachlässigen zum Beispiel, dass sich Wissenschaftskommunikation eben nicht im Gießkannenprinzip an die gesamte Öffentlichkeit richten sollte, sondern es sehr spezifische Zielgruppen mit unterschiedlichen Ansprüchen und Anforderungen gibt, für die wir anschlussfähige Inhalte produzieren müssen. Wir verwechseln Aufmerksamkeit mit Relevanz.
Hier wird interessanterweise mit dieser Verweigerung gegenüber der Komplexität gebrochen oder zumindest gibt es eine Tendenz dazu. Open Science ist derzeit der Publikationsweg der Wahl. Jeder teilt plötzlich seine Preprints, es werden Daten ausgetauscht und Infrastrukturen aus dem Boden gestampft, um gemeinsam über Disziplin- und Ländergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Damit einher gehen natürlich gewisse Qualitätsprobleme, über die man sprechen muss. Aber erstmal ist das ein gutes Zeichen und ein wichtiger Schritt in die Richtung einer problemorientierten Forschung. Diese schließt aus meiner Sicht übrigens die Grundlagenforschung explizit nicht aus.
Und bei der externen Wissenschaftskommunikation?
Auch hier sehen wir deutliche Veränderungen. Wir befinden uns in einer Phase, in der handlungsrelevantes Wissen aus extremer Unsicherheit heraus generiert und kommuniziert werden muss. Normalerweise gibt die Wissenschaft eher Orientierungs- statt Handlungswissen und das ist auch richtig so. Doch aktuell haben wir eine besondere Lage und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen neue Funktionen ein, von Volksaufklärerinnen und -erklären zu Beraterinnen und Beratern der Regierung. Das ist eine neue Art in der Öffentlichkeit zu agieren, die aber durch eine Krisensituation erforderlich ist und auch überwiegend gut umgesetzt wird. Ich glaube, die Krise könnte insgesamt zu einem Umdenken führen in der Art und Weise, wie wir Wissenschaft praktizieren und vor allem auch kommunizieren. Außerdem glaube ich, dass die Wissenschaft als Institution von der aktuellen Bedeutsamkeit, die ihr gerade zukommt, profitieren kann und damit ein notwendiges „Update“ erfährt. Gleiches trifft auf die die Einstellung zur Digitalisierung innerhalb der Wissenschaft zu – gerade auch im Bereich der Lehre.
Was braucht es denn, damit sich dieses positive Szenario entwickelt?
Hier gilt es genau zu beobachten, welche Mechanismen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und der Wissenschaftskommunikation funktionieren und welche man davon beibehalten möchte. Gleichzeitig muss man für diese Mechanismen auch überlegen, welche neue Herausforderungen oder Probleme sich daraus eventuell ergeben. So ist es, in Bezug auf die innerwissenschaftliche Kommunikation, zwar wünschenswert, dass in Zukunft mehr Forschende Preprints im grünen Open Access veröffentlichen. Wir müssen allerdings überlegen was das für die Qualitätssicherung bedeutet, beziehungsweise, wie man diese anpassen kann. In Bezug auf die Wissenschaftskommunikation ist es sicherlich nicht die Aufgabe der Wissenschaft, auf Basis von Unsicherheiten, Handlungsempfehlungen zu geben, weshalb das kein Dauerzustand werden sollte. Allerdings ist es schon ihre Aufgabe, Zukunftsszenarien aufzuzeichnen. Das können und sollten wir vielleicht künftig öfter tun, nicht nur gebündelt im Feld der Zukunftsforschung. Es gibt also die Chance, sich aus der Krise hinaus weiterzuentwickeln und langfristig zu verbessern, auch wenn diese Neuerungen – wie alle Neuerungen in der Wissenschaft – natürlich zunächst einer kritischen Betrachtung zu unterziehen sind.