„Ein fundamentales Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit und Kontrolle“

Warum vertrauen so viele Menschen im Corona-Jahr in die Wissenschaft, ein kleiner – zunehmend lauter – Teil hingegen überhaupt nicht? Sozialpsychologe und Autoritarismusforscher Oliver Decker kommentiert die Ergebnisse des Wissenschaftsbarometers 2020 und erklärt die gemeinsamen Mechanismen hinter Vertrauen und Misstrauen in etablierte Institutionen.

Herr Decker, nach dem Corona-Spezial im Frühjahr wurde jetzt das jährliche Wissenschaftsbarometer veröffentlicht. Welche Ergebnisse finden Sie bemerkenswert?

Oliver Decker ist Sozialpsychologe und Rechtsextremismusforscher. Er leitet seit 2002 die Leipziger Autoritarismus Studien (früher: Leipziger „Mitte“-Studien), die als repräsentative Erhebungen autoritäre und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland erfasst. Er ist zudem Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung und Professor für Sozialpsychologie und interkulturelle Praxis an der Sigmund-Freud-Universität Berlin. Foto: orivat

Was mir vor allem aufgefallen ist – auch vor dem Hintergrund unserer Forschungen in der Leipziger-Autoritarismusstudie – ist, dass die Gruppe derjenigen, die der AFD nahestehen, am ehesten misstrauisch gegenüber Informationen sind, die sie von offizieller Seite bekommen. Das lässt sich aus der Übersichtsbroschüre zum Wissenschaftsbarometer nicht unbedingt erkennen, aber aus dem vertiefenden Tabellenband (S. 74 und 164ff.). Dieses Misstrauen sieht man nicht nur in Bezug auf Politik, Journalismus und Wissenschaft, sondern auch auf Ärztinnen und Ärzte. Nicht einmal die Hälfte der AFD-nahen Gruppe gibt an, dass sie deren Informationen vertraut. Das ist ein großes Problem für die Demokratie. Wir kennen diese Denkmuster aus bestimmten rechtsautoritären Milieus, in denen generell das Vertrauen in offizielle Informationskanäle kaum noch vorhanden ist. Durch dieses starke Misstrauen in Institutionen ist eine Teilhabe an einer politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit für diese Gruppe nur noch schwer möglich, weil die Beiträge der Institutionen zu Debatten gar nicht anerkannt werden. So kann auch kein Dialog entstehen.

Grafik: Wissenschaft im Dialog

Wie erklären Sie sich dieses Misstrauen?

Das Wissenschaftsbarometer wird seit 2014 jährlich von Wissenschaft im Dialog* (WiD) durchgeführt und veröffentlicht. Es misst auf der Grundlage einer repräsentativen Umfrage die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu Wissenschaft und Forschung. Im Frühjahr 2020 befasste sich ein „Wissenschaftsbarometer Spezial“ mit der Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zu Wissenschaft und Forschung in Zeiten der Corona-Pandemie. Grafik: Wissenschaft im Dialog

Menschen reagieren auf Bedrohungserleben mit einer Suche nach Autoritäten. Hier gibt es aber unterschiedliche Ansätze: Im besten Fall reagieren sie, indem sie eine Autorität aufsuchen, die ihre Kriterien transparent macht und ihre Grenzen benennt. Man könnte auch sagen, an ihrer Selbstabschaffung arbeitet, indem sie ihre Autorität nutzt, um sich überflüssig zu machen. Eine solche Autorität kann zum Beispiel die Ärztin sein, die ihren Patienten behandelt, damit er gesund wird. Dafür nimmt sie ihre Autorität in Anspruch, damit sie anschließend nicht mehr gebraucht wird. Eine solche Autorität ist im besten Fall auch die Wissenschaft. Ihr schenkt man Vertrauen in der Hoffnung: „Die können es gut richten und ich ordne mich diesen Autoritäten für eine Zeit unter.“ Das heißt konkret zum Beispiel, dass man die Coronaschutzmaßnahmen befolgt. Die hohen Vertrauenswerte in Wissenschaft und Forschung insgesamt, die das Wissenschaftsbarometer gezeigt hat, bestätigen dies. Das birgt aber auch immer eine Gefahr: Es ist verlockend, Verantwortung abzugeben. Eine Flucht aus der Freiheit zur Autorität. Und so ganz ist auch die gegenwärtige Situation nicht frei von dieser Gefahr.

Wenn also nun einige Bürgerinnen und Bürger gegen diese Autoritäten mobilisieren, sind sie dann nicht eher anti-autoritär?

Immerhin, manche wollen gesellschaftliche Institutionen nicht als Autoritäten anerkennen und zeigen etwa ein geringes Vertrauen in Wissenschaft und Politik oder auch Ärztinnen und Ärzte. Aber anti-autoritär sind sie nur auf den ersten Blick. Zum einen wollen viele von Ihnen „echte“ Autorität, also mächtige Führungsfiguren und dafür sind demokratisch auftretende und legitimierte Personen dann ungeeignet, sind sie doch „schwach“.

Die Leipziger-Autoritarismusstudie ist eine Langzeituntersuchung zur rechtsextremen und antidemokratischen Einstellung in Deutschland. Sie wird seit 2002 von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Universität Leipzig durchgeführt. Inzwischen erfolgt die Veröffentlichung in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung. Im Mai und Juni 2020 wurde die Befragung zum 10. Mal durchgeführt und 2.503 Menschen haben geantwortet. Foto: Tobias Reich

Wieder andere lösen ihr Bedürfnis nach Sicherheit durch eine weitere autoritäre Reaktion: Sie gehen von einem übermächtigen Gegner aus, der hinter der akuten Bedrohungslage steckt, im Hintergrund die Strippen zieht und auch die offiziellen Institutionen beeinflusst, weshalb das auch keine wirklichen Autoritäten sind. Kurz: Man glaubt an eine Verschwörung.

Warum greifen Menschen überhaupt auf Verschwörungsmythen zurück?

Es klingt paradox, aber genau diese Projektion schafft Sicherheit: Es ist der Glaube an solche Verschwörungsmythen, der die Welt dann übersichtlich macht und man kann sich selbst den sogenannten Erweckungsmoment zugestehen. Das gibt einem das Gefühl, zu wissen, auf welcher Seite man steht und gibt einem zu einem gewissen Grad die Kontrolle zurück. Es führt aber auch zu einem Ruf nach anderen oder auch stärkeren Autoritäten, in die man sein Vertrauen setzen kann.

„Wenn das Problem oder die Bedrohung aber zu komplex werden, suchen sie diesen Notausgang und so kommt in manchen Zeiten diese Verschwörungs-mentalität stärker zum Tragen.“ Oliver Decker
In der Bevölkerung gibt es generell eine relativ hohe Verschwörungsmentalität. Davon spricht der Psychologe oder die Psychologin, wenn es nicht um Ideologien geht, sondern um ein individuelles Bedürfnis, an Verschwörungsmythen zu glauben oder sie zu suchen. Diese Mentalität ist bei einem Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung anzutreffen. Viele Menschen sind also bereit, an dunkle Mächte zu glauben, die die Geschicke der Welt bestimme, um bestimmte Entwicklungen zu erklären. Verschwörungsmentalität ist so eine Art Hintergrundgeräusch moderner Gesellschaften. Das paart sich mit einem Aberglauben oder der Vorstellung, dass es so etwas wie eine Macht des Schicksals gibt. Zusammen genommen bilden diese beiden Vorstellungen eine Art Hintertürchen für komplexe Situationen. Viele dieser Menschen würden zwar generell sagen, dass sie der Wissenschaft vertrauen. Wenn das Problem oder die Bedrohung aber zu komplex werden, suchen sie diesen Notausgang und so kommt in manchen Zeiten diese Verschwörungsmentalität stärker zum Tragen.

Warum ist Corona ein Auslöser dafür?

„Je misstrauischer die Menschen aber sind, desto eher suchen sie nach tiefer gehenden Informationen im Netz und werden dort auf vielschichtige Weise fündig.“ Oliver Decker
Covid-19 ist einfach die Verdichtung einer diffusen, schon länger bestehenden Bedrohungswahrnehmung: Man riecht es nicht, schmeckt es nicht, es ist aber im schlimmsten Fall tödlich. Verstärkt wird die ganze Entwicklung von Verschwörungsmythen zudem durch das Internet. Hier findet man auch eine ganze Reihe zuverlässiger Informationen. Je misstrauischer die Menschen aber sind, desto eher suchen sie nach tiefer gehenden Informationen im Netz und werden dort auf vielschichtige Weise fündig. Auch konfuse Weltbilder werden dort bestätigt. So gelangt man in das, was wir klassischerweise die Filterblase nennen. Das verstärkt sich also alles gegenseitig: Je mehr Menschen verunsichert sind, je mehr sie zur Welterklärung auf Verschwörungsmythen setzen und je mehr sie offiziellen Institutionen misstrauen, desto eher finden sie auch Erklärmodelle, die ihre Annahmen bestätigen. Da bietet das Internet für jede Idee einen passenden Beleg.

Gibt es gemeinsame psychologischen Mechanismen hinter dem Misstrauen in Institutionen, Verschwörungsglaube und autoritären Einstellungen?

„Da ist zum einen ein fundamentales Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit und Kontrolle über relevante Lebensbereiche.“ Oliver Decker
Ja, da gibt es einige, wie wir aus der Forschung wissen . Da ist zum einen ein fundamentales Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit und Kontrolle über relevante Lebensbereiche. Wenn es eine subjektive Wahrnehmung von Bedrohung gibt, reagieren manche Menschen mit projektiven Mechanismen. Das heißt, sie schaffen sich ein eigenes Erklärungsszenario, wenn sie keines finden, das sie überzeugt. Dadurch bekommen sie die Handlungskontrolle wieder zurück.

Eine weitere Reaktion kann die autoritäre Aggression sein, also eine Wut, die sich in der Abwertung von bestimmten Gruppen, einer Art Sündenbock, niederschlägt. Dadurch wird die Ursache für die Situation ganz klar nach außen verlegt und man selbst gehört zu einer In-Group. Die so legitimierte Aggression gegen diese Gruppen verleiht wieder eigene Handlungsfähigkeit. Hier werden zum Beispiel Politik, Medien oder Wissenschaft zu einer fremden Elite erklärt, der man misstrauen muss, weil sie durch andere gesteuert werden. Das haben wir auch in unseren Studien erhoben und die Ergebnisse zeigen das in bestimmten Bevölkerungsgruppen ganz deutlich1.

Wie können Wissenschaft, Politik oder Journalismus mit diesem Misstrauen umgehen?

„Unsere Stärke als liberal-demokratische Gesellschaft ist es, eine transparente öffentliche Debatte und Auseinandersetzung zu führen.“ Oliver Decker
Unsere Stärke als liberal-demokratische Gesellschaft ist es, eine transparente öffentliche Debatte und Auseinandersetzung zu führen. Damit wird man Menschen mit einem geschlossen antidemokratischen Weltbild nicht erreichen. Es gibt aber Menschen, die noch auf der Suche nach Antworten sind und diese Debatten mit Interesse verfolgen. Wenn man also zum Beispiel transparent über Wissenschaft kommuniziert und dabei auch Methoden und Nicht-Wissen klar benennt, kann man etwa jene Menschen noch erreichen, die eine reflektierte Form der Autorität suchen. Die Wissenschaft kann zu so einer Autorität werden, indem sie objektiv Expertise vermittelt und sich auf Augenhöhe begibt. Darauf können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bauen, indem sie öffentlich auftreten, ohne Partei zu ergreifen und mit offenen Karten spielen. Das hat gerade zu Beginn der Pandemie recht gut geklappt.

Gefährlich für die Politik auf der anderen Seite ist es, dass es in der Pandemie durchaus verlockend erscheint, Verbote durch autoritäre Rhetorik zu begründen. Das kann sogar zu einer Legitimation führen, aber schafft auch Aggression gegen scheinbar Abweichende, gegen Menschen, die sich etwa nicht an die Regeln halten. Im Ernstfall müssen Entscheidungen zwar schnell getroffen werden. Wenn man aber autoritäre Maßnahmen vorgibt und auf deren Einhaltung hofft, haben die immer Verrechnungskosten. Und in einer Demokratie ist die Rolle der Autorität auch nicht durchzuhalten – wenn der Kaiser dann doch nackt ist, ist die Wut nur größer.

*Wissenschaft im Dialog ist einer der drei Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de.


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