Während der Corona-Pandemie ist Wissenschaft immer stärker auch als Berater der Politik gefragt. Die Soziologin Martina Franzen spricht im Interview darüber, was dabei nicht optimal gelaufen ist und wie gute wissenschaftliche Politikberatung aussehen sollte.
Diversität als Wegbereiter erfolgreicher wissenschaftlicher Politikberatung
Frau Franzen, als Autorin für den SozBlog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) haben Sie sich intensiv mit dem Thema wissenschaftliche Politikberatung auseinandergesetzt. Wie funktioniert Politikberatung durch die Wissenschaft strukturell in Deutschland?
Wir haben in Deutschland sehr viele unterschiedliche Formen wissenschaftlicher Politikberatung und eine plurale Beratungslandschaft. Zum einen gibt es Institutionen, die den Auftrag haben dies zu tun und Empfehlungen zu bestimmten Problemfeldern erarbeiten, wie allen voran die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina oder auch der Nationale Ethikrat. Zum anderen gibt es beispielsweise ressortspezifische Beiräte und Einrichtungen, die themenspezifisch und anhaltend politisch beraten. Daneben werden Expertengremien auch bei akuten Problemlagen temporär eingesetzt. Insgesamt gibt es also eine große Vielfalt unterschiedlicher Instrumente und Akteure.
Was zeichnet gute wissenschaftliche Politikberatung aus?
Der Anspruch an Politikberatung durch die Wissenschaft ist es, den Forschungsstand zu einem Thema darzulegen, um politisches Handeln zu informieren. Dies geschieht meist unter der Bedingung, dass das Wissen noch unsicher ist oder die Problemlage so komplex, dass es der Experteneinschätzungen bedarf. Allerdings besteht die Aufgabe nicht darin, der Politik vorzuschreiben, was zu tun ist, sondern der Politik Argumente an die Hand zu geben und das Thema so aufzubereiten, dass die Politik in der Lage ist, eine differenzierte und ausgewogene Entscheidung zu treffen. Die oberste Prämisse einer guten Praxis ist dabei aus meiner Sicht Transparenz im Rollenverständnis. Das bedeutet, man muss sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler, aber auch als Organisation klar sein und dies auch klarmachen, aus welcher Position heraus und vor welchem Hintergrund man berät. Um dies entsprechend umzusetzen, bräuchte es eigentlich eine gemeinsame Leitlinie aller Institutionen, die wissenschaftliche Politikberatung betreiben. Es gibt beispielsweise seitens der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) die Leitlinien guter wissenschaftlicher Politikberatung,. Diese Leitlinien könnten als Grundlage für andere Institutionen dienen.
Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die Schwächen der Politikberatung in Deutschland?
Der Teil, der öffentlich als wissenschaftliche Politikberatung wahrgenommen wird, ist nur die Spitze des Eisberges. Das sind die Stellungnahmen von Akademien oder andere Institutionen, die medial und gesellschaftlich derzeit vielfach Aufmerksamkeit erhalten und öffentlich diskutiert werden. Von vielen anderen Beratungsleistungen erfahren wir hingegen nichts. Deshalb kann man nicht pauschal über das gesamte System wissenschaftlicher Politikberatung urteilen. In einigen Bereichen der Politikberatung sehe ich derzeit das Defizit, dass es eigentlich darum gehen muss, ein gesamtheitliches Bild einer bestimmten Lage zu zeichnen. Wissenschaftliche Politikberatung muss je nach Komplexität der Problemlage interdisziplinär organisiert sein, um unterschiedliche Wissensstände zu integrieren. Das gilt insbesondere, wenn wir es – wie im Falle der Corona-Pandemie – mit einer Krise zu tun haben, die zwar medizinische Grundlagen, aber eben auch die Gesellschaft als Ganze tangiert. Im Fall von Corona wurde am Anfang versäumt, neben dem virologischen Imperativ auch weiteres Spezialwissen einzuholen. Hier braucht es aus meiner Sicht eine Erweiterung der Expertise in Richtung anderer wissenschaftlicher Fachdisziplinen und das scheint derzeit noch nicht in interdisziplinärer Weise zu gelingen.
Die Leopoldina ist diesbezüglich vor allem für ihre dritte Stellungnahme kritisiert worden, was ist in diesem Fall aus Ihrer Sicht schief gelaufen?
Ein Problem ist, dass es dieser Stellungnahme an Transparenz fehlte. Damit entspricht sie nicht den eben genannten Leitlinien. Es wird nicht klar, auf welcher Basis die weitreichenden Empfehlungen überhaupt getroffen wurden, die dann medial auf die eine Empfehlung Schul- statt Kita-Öffnung reduziert wurde. Die Empfehlung basierte hier nicht auf empirischen Ergebnissen oder einer wissenschaftlichen Begründung, was aber eigentlich so sein sollte. Der Forschungsstand wurde gar nicht angeführt. Statt eindeutiger Empfehlungen hätten besser unterschiedliche Szenarien aufgemacht werden müssen, auf deren Basis, dann die Politik zur Entscheidung und Abwägung befähigt wird. Eben dies ist nicht passiert.
Wieso ist das nicht passiert?
Natürlich muss wissenschaftliche Politikberatung auch unter Zeitdruck stattfinden. Man muss dann aber entsprechende organisationale Vorkehrungen treffen, die vor allem einen Diskurs ermöglichen. Das ist in diesem Fall nicht geglückt – Gründe liegen auch in den Effekten der Pandemie selbst – da die Diskussionen nicht face-to-face, sondern nur digital stattfinden konnten.
Sind noch andere Dinge schiefgelaufen?
Die Stellungnahme versucht, alle gesellschaftsbezogenen Probleme der Coronakrise in einem einzigen Papier abzuarbeiten und ich denke, hier wäre es vorteilhaft gewesen, die relevanten Entscheidungsfragen seriell in mehreren Stellungnahmen abzuarbeiten. Damit hätte man nicht nur Zeit, sondern womöglich auch Plausibilität gewonnen.
Was sind aus Ihrer Sicht Beispiele für gelungene wissenschaftliche Politikberatung?
Anders in der Corona-Krise, die weniger Debatte als rasches Regierungshandeln erfordert. Bundeskanzlerin Merkel betonte schon im Vorfeld, dass die Öffnung nach dem Lock-Down erst auf Basis dieser einen Stellungnahme der Leopoldina zu den gesellschaftlichen Aspekten der Corona-Krise eingeleitet wird. Das ist problematisch, weil dadurch zu leicht der Eindruck entsteht, dass die Wissenschaft der Politik diktiert, was zu tun ist. Im Falle der empfohlenen Schulöffnung – die dann auch umgesetzt wurde – wurde viel Kritik laut, die aber nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft und die Leopoldina als Institution miteinschloss. Politik und Wissenschaft sind somit gleichermaßen gefragt, Verantwortung für die Art und Weise, aber auch für die Folgen der wissenschaftlichen Politikberatung zu übernehmen.
In der Corona-Pandemie sind auch einzelne Forscherinnen und Forscher verstärkt in den Fokus der Politikberatung gerückt – allen voran Christian Drosten. Wie bewerten Sie dessen Rolle?
Gleichzeitig hat er aber auch einen enormen Einfluss auf die Politik erlangt und gehabt. Die Politik hat ihn als Chefberater mit ins Boot geholt, die Medien haben ihn hofiert. Auch in diesem Fall spräche jedoch viel dafür, nicht nur eine einzige Stimme zu hören, sondern auch eine höhere Diversität in der Beratung zu gewährleisten, um verschiedene Perspektiven in die Entscheidungen einzubeziehen. Außerdem ist es kaum gelungen, die beratende Funktion der Wissenschaft so festzuzurren, dass die Person hinter die Sache zurücktritt. Drosten hat – wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in heiß umstrittenen Forschungsfeldern zuvor – Morddrohungen erhalten und wird von bestimmten Personengruppen persönlich verantwortlich gemacht für die aktuellen Einschränkungen, die wir in der Krise erleben. Diese individuelle Zurechnung hängt mit dem Wechselspiel zwischen Wissenschaft, Politik, Medien und Öffentlichkeit zusammen, Personalisierungseffekte sind Teil der medialen Logik. Damit müssen wir uns auseinandersetzen und aufpassen, dass es zukünftig nicht nur ein einziges bzw. besonders prominentes Gesicht der Wissenschaft bzw. Virologie gibt, sondern auch hier Vielstimmigkeit vorherrscht. Sicherlich müssen wir auch noch viel stärker über institutionelle Schutzräume für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in die Öffentlichkeit begeben, nachdenken.
Man hört immer wieder, dass man aus Krisen auch etwas lernen kann. Was kann man aus dieser mitnehmen?
Wir können lernen, dass die Wissenschaftskommunikation mehr bieten kann, als was wir vor der Pandemie praktiziert haben. Wissenschaftskommunikation muss und kann es leisten, über die Prozesse und Methoden von Wissenschaft zu sprechen. Auch das ist Christian Drosten im Podcast sehr gut gelungen und dort sollten wir ansetzen. Auf der anderen Seite lernen wir auch, dass wir in Zukunft vielleicht früher auf interaktive Formate umstellen müssen, um eben nicht die Effekte des Personenkults mit allen negativen Auswirkungen zu haben.
Weshalb finden Sie es trotzdem wichtig, sich als Wissenschaftlerin aktiv an Politikberatung zu beteiligen?
Teil meines wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist es, das Wissen, das ich mit meiner Forschung erlange, auch weiterzugeben und das gilt auch für die Weitergabe des aktuellen Kenntnisstandes an die Politik bei Bedarf. Insofern gehört für mich Beratung wie Wissenschaftskommunikation zur Rolle und Aufgabe als Wissenschaftlerin.
Was wünschen Sie sich für die wissenschaftliche Politikberatung der Zukunft?
Es wird Zeit, dass wir in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht nur auf die Metareflexion der Ereignisse setzen oder ad hoc auf akuten Beratungsbedarf reagieren. Wir sollten auch unsere genuinen Forschungsleistungen und Perspektiven aktiver einbringen und diese offensiver kommunizieren. Gerade die aktuelle Krise zeigt uns einen hohen Nachfragebedarf an gesellschaftswissenschaftlichen Einordnungen. Genau diese Perspektiven und Wissensbestände können die bestehenden Institutionen für wissenschaftliche Politikberatung ergänzen und aus meiner Sicht verbessern. Wie für jede Beratung, so gilt aber auch hier: sich weniger an (den immer gleichen) Köpfen, sondern vorrangig an Inhalten zu orientieren.