Klimawandel, Verkehrswende, Desinformation, künstliche Intelligenz: Entscheidungen zu solchen komplexen und kontrovers diskutierten Themen beeinflusst das Leben „aller“. Ist es aber möglich, auch „alle“ einzubeziehen? Welche Instrumente gibt es, Bürger*innen aus verschiedenen Bereichen über Forschungsprozesse zu informieren und ihre Ideen, Ansichten und Sorgen in politischen und wissenschaftlichen Prozessen zu berücksichtigen?
Werden Entscheidungen besser, wenn, wenn sie nicht nur wissenschaftliche Perspektiven berücksichtigen?
Ein Team vom
Zentrum für rhetorische Wissenschaftskommunikationsforschung zur künstlichen Intelligenz (RHET AI)* und vom
Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Universität Tübingen hat genau das getestet: In einem
Bürger*innenrat zum Thema „Künstliche Intelligenz und Freiheit“ haben sich etwa 40 Menschen ausgetauscht und konkrete Empfehlungen für das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) erarbeitet. Dabei ging es um unter anderem um die Frage: Wie können Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsam die Zukunft der Forschung zu künstlicher Intelligenz gestalten?
Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen solcher partizipativer Verfahren in der Wissenschaftskommunikation diskutierte das Tübinger Projektteam mit der Fachcommunity beim Forum Wissenschaftskommunikation im Dezember 2024. Bei einem World Café in der Urania in Berlin stand unter anderem zur Debatte, wie die Teilnahme unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ermöglicht und Enttäuschung verhindert werden kann.
Möglichst unterschiedliche Perspektiven sollen einbezogen werden
In Bürger*innenräten kommen Menschen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zusammen und schlagen Lösungen vor, die sie am Ende Entscheidungsträger*innen vorlegen. Politisch bindend sind diese Empfehlungen nicht. Im Tübinger Projekt zu „KI und Freiheit“ seien dafür zuerst Orte verschiedener Größe in Baden-Württemberg ausgewählt und mithilfe von Einwohnermeldedaten insgesamt 4.000 Einladungsschreiben verschickt worden, erzählt Patrick Klügel, Public Engagement Manager der Universität Tübingen. Wer von den Angeschriebenen Lust hatte, mitzuwirken, konnte sich über ein Online-Formular melden und zusätzliche Daten angeben. Aus diesen Interessent*innen wählte das Projektteam 40 Personen aus. Dabei wurde auf eine möglichst vielfältige Zusammensetzung hinsichtlich Alter, Geschlecht, Migrationserfahrung und Bildungshintergrund geachtet. Rund die Hälfte habe keinen akademischen Hintergrund gehabt, sagt Patrick Klügel. Ein Ziel des Bürger*innenrates zu KI und Freiheit sei gewesen, möglichst vielfältige Perspektiven und Lebenserfahrungen einfließen zu lassen.
Während der Sitzungen diskutierten Teilnehmende mithilfe von Expert*innen in unterschiedlichen Kommunikationsformaten darüber, wie sich künstliche Intelligenz auf individuelle und gesellschaftliche Freiheiten in ihrer Lebenswelt auswirkt.
Die Teilnehmer*innen trafen sich insgesamt vier Mal zwischen September und November 2024. Einen Tag vor den Sitzungen fanden an unterschiedlichen Orten Begleitveranstaltungen zu verwandten Themen statt, die sich sowohl an die Ratsteilnehmenden sowie an ein öffentliches Publikum richteten. Während der Sitzungen diskutierten sie mithilfe von Expert*innen in unterschiedlichen Kommunikationsformaten darüber, wie sich künstliche Intelligenz auf individuelle und gesellschaftliche Freiheiten in ihrer Lebenswelt auswirkt, wie Gesellschaft an KI-Forschung beteiligt werden kann und will und welche Wünsche sich daraus für die öffentlich geförderte KI-Forschung und deren Rahmenbedingungen ergeben.
Deliberative Formate sind voraussetzungsvoll
Wie können in einem solchen Format auch vulnerable Gruppen angesprochen werden? Um diese Frage geht es am World-Café-Tisch von Martin Hennig vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wer mit „vulnerabel“ gemeint ist – und ob sich die Adressierten überhaupt als „Gruppe“ verstehen. Diese Bedenken sollten in der Kommunikation berücksichtigt werden, so ein Vorschlag.
„Es ist sehr voraussetzungsvoll, in einen mit Post-its vollgeklebten Raum zu kommen und seine eigene Meinung anzupinnen, wenn man nicht in derartigen Diskussionen geübt ist.“
Philipp Schrögel
Als Beispiele für Menschen mit erschwertem Zugang zu wissenschaftlichen Themen werden Obdachlose und Menschen mit Behinderungen genannt. Eine World-Café-Teilnehmerin merkt an, dass oft unterschätzt wird, wie viele Ressourcen Projekte benötigen, die unterschiedliche Menschen einbeziehen wollen. „Vielen ist nicht klar, dass Partizipation ein Luxus ist. Wir können nicht einmal davon ausgehen, dass Leute Zugang zum Internet haben.“
Diskussionsteilnehmer und Wissenschaftskommunikator Philipp Schrögel bemerkt, dass nicht nur mehrfach marginalisierte Gruppen in der Wissenschaftskommunikation vernachlässigt würden, es klaffe „eine große Lücke in der Mitte“: Menschen, die keine Akademiker*innen seien, aber auch nicht zu besonders vulnerablen Gruppen gehörten, würden oft vergessen. Interessanterweise sei genau diese Gruppe mit dem Bürger*innenrat sehr gut erreicht worden, ergänzt Patrick Klügel.
Eine Herausforderung sei, dass Projekte, die möglichst viele unterschiedliche Menschen einbeziehen sollen, häufig akademisch geprägten Idealen folgen, sagt Philipp Schrögel. Dass betreffe beispielsweise deliberative Verfahren, die auf einen gleichberechtigten Austausch von Argumenten und darauf aufbauende Entscheidungsfindung zielen. „Es ist sehr voraussetzungsvoll, in einen mit Post-its vollgeklebten Raum zu kommen und seine eigene Meinung anzupinnen, wenn man nicht in derartigen Diskussionen geübt ist.“ Schrögel spricht in diesem Zusammenhang von einem „Partizipationsparadox“.
Demokratie
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In diesem Zusammenhang wird auch die Frage diskutiert, wer letztendlich von solchen Formaten profitiert und welche Interessen und Ideen dahinterstehen. Im Vergleich beispielsweise zu Citizen-Science-Projekten gehe es bei Bürger*innenräten nicht darum, dass mitgeforscht werde. Im Zentrum stünden normativ geprägte Ziele, sagt Schrögel. Meist sollen politische Maßnahmen bewertet und Empfehlungen erarbeitet werden.
In der World-Café-Runde wird vorgeschlagen, Formate der Wissenschaftskommunikation anzubieten, die nicht bei den Interessen von Politik und Wissenschaft, sondern bei den Teilnehmenden selbst ansetzen. Wenn sie sich für Computerspiele interessieren, könne man daran anknüpfen. Bezüge zur Wissenschaft fänden sich schließlich überall, sagt eine Teilnehmerin. „Es geht weniger um ein spezifisches Thema als darum, generell Interesse für kritisches Denken zu wecken.“ Wichtig sei, dass ein Bezug zur Lebenswelt hergestellt wird, unterstreicht ein anderer Teilnehmer. „Dann kann man anfangen zu reden.“ Ein weiterer Vorschlag: „Wissenschafts-Mainstreaming“. Das heißt: Wissenschaft solle ein Thema sein, das in allen gesellschaftlichen Bereichen und an allen Orten mitgedacht wird.
Das Partizipationsparadox durchbrechen
Um die Ermöglichung von Partizipation wird auch am Tisch von Anika Kaiser diskutiert, die den Bürger*innenrat zum Thema KI unter anderem mit einem Forschungsprojekt begleitet, in dem es um epistemische Ungerechtigkeit geht – also die ungleichen Chancen, Wissen glaubwürdig zu kommunizieren und in einen gemeinsamen Austausch einzubringen. Der KI-Bürger*innerat stelle gewissermaßen einen Versuch dar, das „Partizipationsparadox“ zu durchbrechen, sagt Anika Kaiser. In dem Ratsentwurf sollten die Lebensrealitäten und Erfahrungen der Teilnehmenden gleichberechtigt neben die Argumente der beteiligten Expert*innen gestellt werden. Einschüchternde Kommunikationssituationen sollten durch das Gespräch in Kleingruppen aufgelöst werden.
Auch in der Diskussion des World Cafés plädieren die Teilnehmenden dafür, bei Wissenschaftskommunikationsformaten unterschiedliche Wissensformen respektvoll und wertschätzend zu behandeln. Was aber ist, wenn in einer Ratssitzung pseudowissenschaftliche Verschwörungsideen verbreitet werden? Die World-Café-Teilnehmenden schlagen vor, in so einem Fall klare Grenzen zu ziehen und gemeinsam zu diskutieren, welche Art von Wissen für welche Fragen relevant ist.
Ist eine „vollständige Teilnahme“ aller gesellschaftlichen Gruppen überhaupt immer möglich – und zielführend?
Ein Problem, dass immer wieder auftaucht, wenn Gruppen diskutieren – auch beim Bürger*innenrat zu KI: Einige Teilnehmende stehen im Vordergrund, andere trauen sich nicht, sich zu beteiligen. Wie kann verhindert werden, dass immer die gleichen Personen zu Wort kommen? Im World-Café überlegen die Teilnehmenden, dass es helfen könnte, auf persönlicher Ebene miteinander ins Gespräch zu kommen und dabei beruflichen Positionen und Statusdenken möglichst wenig Raum zu geben. Kontrovers wird in der Runde die Idee diskutiert, „Fürsprecher*innen“ einzusetzen, die die Position bestimmter Gruppen vertreten. Einerseits wird dies als Möglichkeit gewertet, bestimmten Positionen Gehör zu verschaffen. Anika Kaiser wendet ein, dass die Perspektive der epistemischen Ungerechtigkeit zeigt, wie problematisch es sein kann, wenn Sprechende mit einer dominierenden sozialen Position dem persönlichen Wissen und den Erfahrungen marginalisierter Gruppen Ausdruck verleihen. Dies berge die Gefahr, dass zum Teil sehr exklusive Sichtweisen sprachlich und inhaltlich vereinnahmt werden und bei der Suche nach Handlungsempfehlungen verloren gehen. In Kommunikationssituationen, in denen es darum gehen soll, zunächst einmal diverse Standpunkte, Erfahrungen und Wissensformen in den Austausch einzubeziehen, sei es deshalb empfehlenswert, nicht für andere zu sprechen, sondern Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Aus diesem Grund sei im Bürger*innenrat auf die Persona-Methode verzichtet worden.
Bei dem Workshop werden auch Grundsatzfragen diskutiert: Ist eine „vollständige Teilnahme“ aller gesellschaftlichen Gruppen überhaupt immer möglich – und zielführend? Philipp Schrögel plädiert in diesem Zusammenhang eher für spezifische, an bestimmte Zielgruppen angepasste Formate, als mit einem einzigen sehr viele unterschiedliche Gruppen gleichzeitig erreichen zu wollen. Eine andere Möglichkeit sei eine Kombination mehrerer Bürger*innenräte, die jeweils einen geschützten Diskussionsraum für verschiedene Gruppen bieten.
Mitte März 2025 werden die Empfehlungen des Bürger*innenrates übergeben.
Große Ambitionen bergen auch das Risiko, dass Ziele nicht erreicht werden können. Wie können Enttäuschungen unter den Teilnehmenden, auf Seiten der Politik und des Organisationsteams verhindert werden. Darüber wird an einem anderen Tisch diskutiert. Die im World Café erarbeiteten Empfehlungen lauten, Prozesse möglichst transparent zu gestalten und sichtbar zu machen, wie die Ergebnisse in politische Entscheidungsprozesse eingebracht werden. Gleichzeitig sollten aber auch die Grenzen der Einflussnahme deutlich gemacht und auf keinen Fall zu viel versprochen werden. Wichtig sei ein gutes Erwartungsmanagement, sagt Patrick Klügel. „Ein Bürgerrat heißt nicht, dass irgendetwas erreicht wird. Erstmal haben sich nur Leute ausgetauscht.“
Wie lässt sich verhindern, dass ein solches Format zum bloßen „Feigenblatt“ wird, um demokratische Beteiligung zu symbolisieren. Was die Debatten in den Ratssitzungen in jedem Fall bewirkt hätten, sei, dass viele Teilnehmer*innen sehr schnell irrationale Ängste in Bezug auf künstliche Intelligenz abgebaut hätten, erzählt Anika Kaiser. Was darüber hinaus passiert, wird sich zeigen. Wie es auf politischer Ebene weitergeht, bleibt abzuwarten. Mitte März 2025 werden die Empfehlungen des Bürger*innenrates übergeben.
*Am Zentrum für rhetorische Wissenschaftskommunikationsforschung zur Künstlichen Intelligenz (RHET AI) ist auch das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) beteiligt, einer der Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de. Am Bürger*innenrat ist das KIT nicht beteiligt.