Gesellschaftlichen Wandel ganzheitlich gestalten. Diesem Ziel widmet sich Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Im Gespräch erzählt er, wie dieser gelingen kann und welche Rolle die Kommunikation dabei spielt.
„Die Wissenschaft muss die Gesellschaft mit auf den Weg nehmen“
Herr Schneidewind, Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit und Ihrem Buch damit, wie man gesellschaftlichen Wandel ganzheitlich gestalten kann. Warum ist das wichtig?
Die Herausforderungen der heutigen Zeit haben einen sehr fundamentalen Charakter. Sie stellen die Errungenschaften und Grundfesten moderner und offener Gesellschaften der letzten 70 Jahre infrage oder greifen sie sogar an. Wir leben in einer Zeit, in der Demokratien beginnen, sich selbst abzuschaffen, in der Abschottungstendenzen eine große Rolle spielen. Das zentrale Projekt der amerikanischen Regierung ist der Bau einer Mauer! Das ist schon eine besorgniserregende Entwicklung. Diese basiert auch darauf, dass die Gesellschaft ob des aktuellen Wandels verunsichert ist. In einer solchen Phase ist die Wissenschaft ganz anders gefordert, sich gesellschaftlich zu engagieren als früher. Transformative Wissenschaft ist nach unserem Verständnis eine Wissenschaft, die nicht nur beobachtet, sondern aktiv an den Debatten teilnimmt und sie mitgestaltet. Aktuell ist dies viel zu wenig der Fall.
Warum halten Sie diesen Ansatz der transformativen Wissenschaft für so wichtig?
In unserer modernen Wissensgesellschaft kommt der Wissenschaft eine große Bedeutung und eine große Verantwortung zu, den gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. Viele der Herausforderungen unserer Gesellschaft können wir ohne Beteiligung von Wissenschaft nicht bewältigen. Es reicht dabei nicht aus, wenn die Wissenschaft sich nur auf die Bereitstellung von Faktenwissen oder Technologien konzentriert. Sie muss die Gesellschaft mit auf den Weg nehmen und den Dialog und Diskurs über Wandel und Zukunft viel stärker mitgestalten als bisher. Geschieht dies nicht, kommt sie ihrer Verantwortung aus meiner Sicht nicht nach. Ich halte dies für einen zentralen Bestandteil, um unsere liberalen und offenen Demokratien zu stabilisieren.
Können Sie Beispiele nennen, wo dies bisher eher nicht der Fall ist?
Es gibt viele Disziplinen für die diese Form der Möglichkeitswissenschaft – wie wir sie nennen – überhaupt keine Rolle spielt. Ein ganz konkretes Beispiel ist die Ökonomie. Obwohl wir wissen, dass das bestehende ökonomische System an vielen Stellen dysfunktional ist und wichtiger Motor der aktuellen populistischen Verwerfungen, findet in der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte kaum eine Diskussion über alternative Möglichkeiten der Wirtschaftsgestaltung statt. Dafür muss man heute in Nachbardisziplinen wie die Soziologie oder in Diskussionsgruppen engagierter Studierender gehen, aber nicht in die offiziellen Volkswirtschaftsvorlesungen und -seminare von Universitäten.
Die Ökologie-Debatte auf der anderen Seite zeigt, dass 30 Jahre Alarmismus – also das Nachzeichnen der naturwissenschaftlichen Konsequenzen durch den menschgemachten Klimawandel – kaum zu Bewegung innerhalb von Politik und Gesellschaft geführt haben. Es gibt kaum eine wissenschaftlich gestützte Selbstreflexion über das Scheitern der Kommunikation und des Dialogs in diesem Bereich. Nur wenn wir besser verstehen, wie sich Gesellschaften wandeln, können wir verstehen, welchen Dialog es braucht, um echte Veränderungen hervorzurufen. Das reine Verweisen auf Klimafakten reicht nicht. Da sind viele Fehler gemacht worden. Insgesamt braucht es hier neue Herangehensweisen. Die Arbeit des Wuppertal Institutes setzt da an.
Sie beschäftigen sich ja speziell mit Nachhaltigkeit. Weshalb eignet sich dieses Thema besonders für ihre Theorien und Konzepte?
Nachhaltigkeit ist im Kern eine kulturelle Herausforderung. Wir haben dieses Thema viel zu lange nur aus naturwissenschaftlicher und technologischer Sicht behandelt. Auch die Kommunikation und die Bildsprache der Umweltbewegung zeigt dies, hier ist die Kernbotschaft: Wenn der Klimawandel weiter geht, geht der Planet zugrunde. Das ist aber nicht, worum es im Kern geht. Die Ökosysteme an sich werden sich auch an radikal veränderte Bedingungen anpassen. Das haben sie in der Erdgeschichte immer wieder getan. Worum es eigentlich geht, sind Veränderungen, die so schnell geschehen werden, dass eine humane Anpassung nicht möglich ist. Sprich: Wir treiben Hunderte Millionen von Menschen in Bedingungen, unter denen sie nicht leben können.
Es geht daher bei Nachhaltigkeit um die Frage, ob es uns als Weltgemeinschaft gelingt, ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen auf dem Planeten auch unter den Bedingungen von ökologischen Grenzen zu ermöglichen. Technologisch und von den ökonomischen Ressourcen her ist das ohne Probleme möglich. Das Welt-Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt liegt heute schon im Durchschnitt bei rund 10.000 US-Dollar pro Kopf und Jahr. Aber gelingt es uns, die kulturellen und institutionellen Bedingungen für eine solidarische Weltgemeinschaft zu organisieren? Das ist im Kern ein kulturelles Projekt, ein umfassendes Zivilisationsprojekt. Die Bedingungen dafür zu verstehen, betrifft sehr viele unterschiedliche Disziplinen: von den Kultur- über die Sozialwissenschaften bis zur Ökonomie. Dabei kommen der Wissenschaft und der Wissenschaftskommunikation wichtige Rollen zu, denn nur mit ihrer Hilfe können wir den notwendigen Dialog über gesellschaftliche Transformationsprozesse rahmen und gestalten.
Sind die Forschenden auf diese neue Rolle denn ausreichend vorbereitet beziehungsweise in der Lage sie zu erfüllen?
Das Interesse und das Verständnis für die Bedeutung von Wissenschaftskommunikation nehmen zu und es gibt immer mehr auch jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich engagieren. Dabei ist das Verständnis von Wissenschaftskommunikation allerdings zumeist noch ein sehr enges: Es wird darunter die Vermittlung von Wissen und die Öffnung nach außen verstanden, aber nicht die Mitgestaltung und das sich Einmischen in eine aufgeklärte Debatte über gesellschaftliche Zukunftsperspektiven. Außerdem ist es so, dass Kommunikationsfähigkeit nach wie vor nur von untergeordneter Bedeutung dafür ist, ob jemand wissenschaftlich Karriere macht. Es ist nur dann relevant, wenn man bestimmte Stufen bereits erreicht hat, oder wenn man in der Kernarbeit gleich auf mit jemand anderem ist. Daher glaube ich, dass es noch ein weiter Weg ist, bis diese Aufgabe wirklich die notwendige Bedeutung in der Wissenschaft bekommt.
Es bedarf also Änderungen im Gesamtsystem. Wie weit sind wir in diesem Bereich denn schon?
Gerade das Wissenschaftssystem in seinen Grundüberzeugungen und Funktionslogiken weiterzuentwickeln, ist äußerst schwierig. Es wird nur möglich sein, wenn der Druck groß genug ist. Auf welchen Widerstand man dabei stößt, haben wir in Nordrhein-Westfalen zwischen 2010 und 2017 erleben dürfen. Mit Svenja Schulze wirkte hier eine Wissenschaftsministerin, für die das Thema gesellschaftliche Verantwortung sehr wichtig war und die dafür auch wissenschaftspolitische Akzente gesetzt hat. Sie wurde dafür massiv kritisiert, weil es als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit bewertet wurde. Man konnte daran gut sehen, wie schwer sich die Wissenschaft mit der Übernahme einer breiteren gesellschaftlichen Verantwortung tut.
Funktionieren tut es überall dort, wo über zusätzliches Geld Anreize beispielsweise in Form von Preisen oder Fördermitteln eingesetzt werden. Allerdings erreicht man dadurch natürlich nicht die Tiefenstrukturen des Systems. Dazu wäre eine noch sehr viel tiefere Verankerung, zum Beispiel im Fördersystem, notwendig. In Großbritannien etwa gibt es sehr viel stärkere Anforderungen an Universitäten, ihren gesellschaftlichen Impact auszuweisen. In Deutschland sind wir hier noch am Anfang und beschäftigen uns – auch was die Anreize betrifft – mit einem sehr engen Wissenschaftskommunikationsbegriff.