Geschichte auf Instagram? Das Multimediaprojekt „Ich bin Sophie Scholl“ zeigt die letzten zehn Monate der historischen Figur in Echtzeit. Im Interview spricht Thorsten Logge, Juniorprofessor für Public History, über die Kritik am Format und darüber, wie Geschichte im öffentlichen Raum vermittelt und rezipiert wird.
„Die Rezeption von Geschichte ist eben gerade nicht eindeutig“
Herr Logge, was ist „Public History“?
Eine oft bemühte Definition von Public History von Irmgard Zündorf und Martin Lücke1 beschreibt Public History als Geschichte in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit. Ganz viele Kolleg*innen würden noch „mit der Öffentlichkeit“ hinzufügen. Es gibt immer wieder den Gedanken, dass Public History die PR-Abteilung oder sogar die Geschichtspolizei der Geschichtswissenschaften sei. Ich verstehe, dass Menschen das denken, weil wir die „fancy“ Formate machen oder analysieren. Ich selbst sehe das allerdings nicht so.
Was fällt alles unter Public History?
Man kann sagen: Es gibt Public History überall dort, wo Geschichte ist und wo Leute Geschichte machen. Man kann sich Public History über die Orte annähern, an denen Geschichte stattfindet. Es gibt sie in Museen, in Gedenkstätten, Universitäten und bei historischen Stadtführungen. Oder über die Menschen, die Geschichte machen. Diese nennt man „Public Historians“. Oder eben die Praktiken, wie das geschieht, und Produkte, die dabei entstehen und als „Public Histories“ bezeichnet werden.
An der Universität Hamburg beschäftigen wir uns mit den verschiedenen forschungsbasierten Praktiken des Geschichtemachens: der Produktion, der Repräsentation, der Distribution, der Exhibition und der Rezeption von Geschichte im öffentlichen Raum.
Was verstehen Sie unter Geschichte?
Geschichte ist das stets gegenwartsgebundene Erzählen über die Vergangenheit. Es ist etwas, das man tut. Manche sehen Geschichte vor allem als ein Produkt, das man irgendwo ausstellen oder einfach vermitteln kann. Ich kann Geschichte aber nicht einfach top-down verteilen. Da kommen dann Leute mit ihrem Eigensinn, die sich mein Produkt ansehen und darauf reagieren. Vielleicht rezipieren sie es ganz anders, als ich es intendiert habe: Sie nehmen die Geschichte nicht einfach an, sondern fügen sie mehr oder weniger kreativ in ihr Weltbild ein. Für mich ist Geschichte daher eher ein Prozess, also etwas, das kommunikativ und damit immer auch sozial passiert.
Entwicklungen der Public History
Die Public History hat sich in den 1970er-Jahren in den USA entwickelt. Von der damals herrschenden akademischen Jobkrise waren auch Historiker*innen betroffen. An der University of California entwickelte daher der Historiker Robert Kelly eine Idee, sich außerhalb des akademischen Berufsfeldes mit Geschichte zu befassen. Daraus entstand das Konzept der Public History.
In Deutschland entstand der erste Public-History-Studiengang 2008 an der Freien Universität in Berlin. Die erste Professur für Public History wurde 2012 an der Universität Heidelberg eingerichtet. Seitdem wächst das Feld. Public History wird in der Liste der Kleinen Fächer geführt. In seinem Podcast blickt Thorsten Logge mit Vertreter*innen des Feldes auf die Entwicklungen zurück.
Das Verhältnis von Geschichte, Medien und Öffentlichkeit generiert sich für mich immer wieder neu. Und diese Interaktionen müssen wir uns angucken und analysieren: Warum wird das jetzt so erzählt, wer redet mit wem und wer schaut zu und findet Sachen eventuell schwierig, weil die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden? Welche Rolle spielt das konkrete Medium und welche Möglichkeiten und Grenzen haben Medien beim Machen von Geschichte?
Was gilt es bei diesen verschiedenen Formaten von Geschichte zu beachten?
Es gibt geschichtswissenschaftliche Praktiken und Darstellungen, Formate der historisch-politischen Bildung und Unterhaltungshistoriografien. Allen Formen ist gemein, dass sie in einer bestimmten Gegenwart gemacht sind und über die Vergangenheit erzählen. Sie stellen also Bezüge zu Vergangenem oder Erinnerungen an Vergangenes her. An diese unterschiedlichen Formate richten sich dann auch unterschiedliche Erwartungshaltungen.
Geschichtswissenschaft produziert historisches Wissen, das wissenschaftlich ist: belegt, ausgewogen, methodisch und theoretisch geleitet generiert und dargestellt. Sie gibt transparent an, welche Quellen, Zeitzeug*innen oder andere Materialien genutzt wurden und wie damit umgegangen wurde. Historisch-politische Bildung ist dem sehr nah. Hier spielen auch didaktische Aspekte eine Rolle, wie etwa das Überwältigungsverbot nach dem Beutelsbacher Konsens. An die Regeln der Geschichtswissenschaft oder die didaktischen Selbstbeschränkungen der historisch-politischen Bildung muss sich Unterhaltungshistoriografie nicht halten. Sie ist da freier.
Können Sie ein Beispiel nennen, bei denen dieser Schritt zum weiteren Informieren gelingt?
Moritz Hoffmann und sein Team haben das beispielsweise mit dem Projekt @9Nov38 geschafft. Dabei erzählen sie 75 Jahre später die Pogrome am 9. November 1938 auf Twitter nach. Zusätzlich zu den Tweets gab es Quellenverweise in einem verlinkten Dokument. Ich konnte mir als Twitter-Nutzer*in also einerseits einfach nur die Informationen über die Tweets in meine Timeline spülen lassen und wusste danach ein bisschen mehr als am Tag zuvor. Oder ich stieg tiefergehend in die Quellen ein, indem ich die weiterführenden Angebote nutze.
Ein aktuelles und umstrittenes Beispiel, wie Geschichte in der Öffentlichkeit repräsentiert und rezipiert wird, ist das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ von SWR und BR. Was wird daran kritisiert?
Das Projekt startet mit der Ankündigung: „Stell dir vor, es ist 1942 auf Instagram“. Wenn jemand so anfängt, erwarte ich Unterhaltungshistoriografie und keine Wissenschaft oder historisch-politische Bildung. Ich denke an Histo-Fiction wie bei Quentin Tarantinos „Inglorious Bastards“ oder „Hunters“ bei Amazon Prime. Aber das Projekt hat zwei Anker, bei denen ich davon ausgehe, dass es keine Histo-Fiction ist: Es kommt vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der als seriöser Absender von Informationen gilt, und es wird durch seine Startseite mit Material und Quellenangaben und die Rahmenkommunikation durch das #teamsoffer, das das Gezeigte einordnen soll, als historisch-politische Bildung markiert.
Es will also ein Bildungsprojekt sein, wirkt aber wie ein Unterhaltungsformat. Genau hier sehe ich ein Kernproblem. Und dann machen die Macher*innen ja tatsächlich viele Sachen, die problematisch sind.
Welche problematischen Sachen sind das?
Bei dem Projekt gibt es sachliche Fehler und es wurden zum Teil auch problematische Opfernarrative bedient. Ich selbst bin kein NS-Historiker, aber es gibt viele Menschen – nicht nur Kolleg*innen aus dem Fach, die über viele Monate das Projekt beobachtet und immer wieder auf problematische Inhalte hingewiesen haben. Als das Projekt lief, waren es übrigens überwiegend Frauen, die viel Zeit und Mühe investiert haben, um das Projekt kritisch zu begleiten, wie etwa Nora Hespers, Charlotte Jahnz oder Andrea Geier. Das Community-Management und die Bildungsarbeit haben die Projektverantwortlichen also zu großen Teilen anderen Menschen überlassen. Außerdem machen die Projektverantwortlichen eine deutlich emotionalisierende und auch immersive Darstellung, indem sie sich beispielsweise an die Rezipient*innen wenden und mit ihnen interagieren.
Was gilt es zu beachten, wenn Geschichte durch die Social-Media-Brille vermittelt wird?
Bei der Darstellung von Geschichte im Rahmen historisch-politischer Bildung ist das Überwältigungsverbot im Beutelsbacher-Konsens seit den 1970er-Jahren verpflichtend. Ich würde sagen, dem Team von „Ich bin Sophie Scholl“ war das eher egal. Wenn ein Tatort-erfahrener Redaktionsleiter mit seinem Team eine Geschichte dreht, dann schaut er nicht, dass er nicht emotionalisieren oder überwältigen darf. Das sind genau seine Erzählformen und so funktioniert halt auch Unterhaltungshistoriografie. Die historisch-politische Bildung hingegen meidet emotionale Überwältigung und ist der Ausgewogenheit und Multiperspektivität verpflichtet.
Die Kritik am Projekt hat auch Jan Böhmermann und sein Team in einem Beitrag im ZDF Magazin Royale aufgegriffen. Wie bewerten sie es, wie das Projekt in der Sendung verhandelt wurde?
Das Team von Böhmermann beschreibt darin die Gegenwart von Geschichte ganz gut: Wir sehen, wie heute der Bezug auf die Vergangenheit – und zwar nicht nur auf Sophie Scholl, sondern die gesamte NS-Vergangenheit – von einigen Leuten wahrgenommen wird und sie sich dazu verhalten. Böhmermann verweist auch auf seine eigene Familiengeschichte, indem er ein Foto seines Ur-Opas zeigt und fragt: Was hat er wohl an der Ostfront gemacht? In Deutschland glauben laut einer Studie aus 2020 überraschend viele Menschen, dass ihre Vorfahren eher zur Gruppe der NS-Opfer gehörten und dass sie auch selbst eher zu den Helfer*innen gehören würden, hätten sie selbst zur Zeit des Nationalsozialismus gelebt.
Das Projekt bedient alle Instagram-Formate wie Feed-Posts, Stories und Videos. Inwiefern ist die Dekontextualisierung und Fragmentierung von Inhalten, die sozialen Medien inhärent ist, ein Teil des Problems von „Ich bin Sophie Scholl“?
Man muss diese Social-Media-Dynamiken erst einmal verstehen. Wir setzen uns nicht mit einem zusammenhängenden Narrativ wie in einem Buch oder einer Doku auseinander. Wir wissen auch nicht, in welcher Situation wir auf solche dekontextualisierten Inhalte gucken: Eben sehe ich noch den Hund von Oma und dann sehe ich Sophie Scholl.
Auch die Posts, in denen Sophie tanzt, bekommen unglaublich viele Likes.
Genau. Sie schaffen eine persönliche Verbindung, sie ziehen Nutzer*innen hinein. Wir müssen bedenken, dass es immer eine technisch-mediale Ebene gibt, auf der Geschichte stattfindet. Wir gucken durch das Medium auf den Content. Und manchmal vergessen wir dabei das Medium, das ganz eigene Funktionen und Eigenlogiken hat.
Auf der medialen Ebene funktionieren zwei Dinge im Sinne von Instagram super: Alle Erzählpraktiken von Instagram und alle Tools werden bei #IchBinSophieScholl sehr professionell bespielt und das Projekt generiert erfolgreich sehr viele Interaktionen – von Liken bis Kommentieren. Auch wenn wir uns auf solchen Plattformen streiten, freuen sich die Plattformbetreiber*innen, denn dadurch werden Datenpunkte generiert, die für sie kommerzialisierbar sind. Die Dynamik auf den Plattformen können wir wissenschaftlich allerdings kaum nachvollziehen, da wir eigentlich keinen Zugang zu den Algorithmen haben. Wir haben auch Probleme, auf den Plattformen Daten rechtssicher zu erheben und auszuwerten. Da muss dringend politisch gehandelt werden.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Die immersive Selfie-Ästhetik, die Interaktion durch Umfragen und das Bespielen aller Formate wurde beim Instagram-Projekt „Eva Stories“ technisch vergleichbar umgesetzt. Im Gegenzug zu „Ich bin Sophie Scholl“ wird es allerdings als wertvoller Beitrag zur Erinnerungskultur gelobt. Worin liegt der Unterschied?
Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass meines Wissens keine oder kaum sachliche Fehler gemacht wurden. Außerdem muss man sehen, welche Geschichte erzählt wird. Bei „Eva Stories“ ist die Ebene der Identifikation eine andere als bei „Ich bin Sophie Scholl“.
Sophies kleinere Alltagserfahrungen waren zudem emotional anschlussfähig an Erfahrungen der Nutzer*innen in der Gegenwart, beispielsweise dann, wenn Freund aktuell nicht da ist. Das kann eine jugendliche Person in Coronazeiten im Lockdown recht gut nachvollziehen. Dann gilt der Like aber vielleicht nicht Sophie Scholl, sondern der eigenen Einsamkeit, weil man sich aktuell nicht treffen kann, wie vor der Pandemie.
Eva Stories
Das Projekt „Eva Stories“ erzählt die Geschichte eines 13-jährigen Mädchens namens Eva aus Ungarn, das 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Die Serie endet mit ihrer Deportation in das deutsche Vernichtungslager. Das 2019 veröffentlichte Instagram-Projekt basiert auf dem Tagebuch der ungarischen Jüdin Éva Heyman. Es soll eine neue Form des Holocaustgedenkens im digitalen Zeitalter schaffen und besonders junge Menschen für das Thema sensibilisieren. Initiiert wurde es vom israelischen Regisseur Matti Kochavi. Die Beziehung zwischen Erinnerungskultur und Social-Media-Erfahrung im Projekt „Eva Stories“ hat beispielsweise diese Studie untersucht.
Sie sprachen den Beutelsbacher-Konsens an. Wie sieht es damit bei „Eva Stories“ aus?
Interessanterweise sehe ich bei „Eva Stories“ durchaus auch eine Verletzung des Beutelsbacher-Konsens. Da scheint es vielen Menschen aber weniger problematisch, vielleicht, weil die sachlich korrekte Darstellung und die positive Identifikation die geschichtspolitisch positivere oder unzweifelhaftere Bedeutung des Projekts hervorheben.
Welche Zielgruppen können durch solche Social-Media-Formate einen Zugang zu Geschichte erhalten?
Grundsätzlich bin ich skeptisch, wenn ein Format auf Instagram behauptet, junge Leute zu erreichen, nur weil der Kanal potenziell von Jüngeren genutzt wird. Man müsste sich genauer ansehen, wer dem Projekt gefolgt ist und damit interagiert hat.
Junge Leute erreicht man dann, wenn sie sich thematisch für etwas interessieren, das in irgendeiner Form mit ihrer Lebenswelt zusammenhängt. Ob für sie bei „Ich bin Sophie Scholl“ der relevantere Identifikationspunkt war, dass Sophie Scholl in der Story jung ist und ihr Studium beginnt, oder der historische Kontext, kann ich nicht sagen.