Wie denkt die Gesellschaft über Diversität? Positiver als Debatten in Medien und Politik vermuten lassen, sagt Karen Schönwälder. Im Interview erklärt die Politikwissenschaftlerin, wie es zu dieser verzerrten Wahrnehmung kommt und warum besonders zwischenmenschliche Kontakte die Akzeptanz von Diversität fördern.
„Die Menschen finden es überwiegend gut, dass unsere Gesellschaft vielfältiger geworden ist“
Frau Schönwälder, was bedeutet es, von Diversität in einer Gesellschaft zu sprechen?
Besonders drei Prozesse kennzeichnen Diversität in hoch industrialisierten, demokratischen Gesellschaften. Das sind zum einen Migrationsprozesse, die zum Beispiel die deutsche, aber auch viele andere Gesellschaften vielfältiger gemacht haben. Der zweite Prozess ist die größere Vielfalt der Lebensformen und eine veränderte Vorstellung davon, was ein gutes Leben ausmacht. Vielfältigere Familienformen sind dafür ein gutes Beispiel. Zudem ist der Lebensweg nicht mehr so stark durch die eigene soziale Herkunft oder das Milieu, in dem man aufwächst, determiniert. Aber natürlich gibt es immer noch starke sozioökonomische Einschränkungen dieser Freiheit. Der dritte Prozess ist die stärkere Sichtbarkeit von Minderheiten wie Menschen mit einer Behinderung oder queeren Personen, die gleichberechtigte Teilhabe einfordern und damit auch zum Teil Erfolg haben.
Was genau meinen Sie mit „sozioökonomischen Einschränkungen dieser Freiheit“?
Heutzutage ist es nicht mehr in dem Maße vorbestimmt, was aus mir wird, wie noch vor hundert Jahren. Durch beispielsweise erweiterte Bildungsmöglichkeiten und das Aufbrechen religiöser Normen erweitern sich die Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Aber natürlich schränken niedrige Einkommen Freiheiten ein, und in Deutschland werden Lebenschancen weiter wesentlich durch die soziale Herkunft bestimmt.
Durch die Berichterstattung in den Medien oder manche politischen Diskussionen könnte man derzeit den Eindruck gewinnen, dass die Deutschen einer diversen Gesellschaft eher skeptisch gegenüberstehen. Ihre Forschung zeigt aber Gegenteiliges.
Eine verzerrte Wahrnehmung der Gesellschaft kann entstehen, wenn wir den Einfluss der extremen Rechten überschätzen. Bei aller notwendigen Aufmerksamkeit für rechte Entwicklungen sollten wir Erfolge der extremen Rechten nicht verwechseln mit einer Rechtsverschiebung der gesamten deutschen Gesellschaft. Unsere Forschung, aber auch viele andere große Umfragestudien1 zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland Diversität positiv gegenübersteht. Zustimmung bedeutet nicht, dass man zum Beispiel jeden Aspekt der Migrationspolitik gut findet. Aber die Menschen finden es überwiegend gut, dass unsere Gesellschaft vielfältiger geworden ist. Sie sehen darin eine Bereicherung für ihr eigenes Leben. Das sind – je nach Fragestellung – zwei Drittel bis drei Viertel der Befragten.
Welche Fragestellungen haben konkret so viel Zustimmung erhalten?
Wir haben versucht, Haltungen zur Diversität genauer zu verstehen, in dem wir zunächst zwischen zwei Grundhaltungen unterschieden haben. Wir unterscheiden einmal die „Evaluation diversity“, also wie Menschen die Wirkung der Diversität auf die Gesellschaft und die Individuen einschätzen. Da fragen wir zum Beispiel, inwieweit die Leute den Aussagen zustimmen, dass Diversität eine gute Sache für ihre Stadt ist oder dass junge Leute davon profitieren, wenn sie unter anderen jungen Leuten verschiedener Herkunft aufwachsen. Der zweite Komplex, den wir „Participation Assent“ nennen, bezieht sich darauf, ob die Menschen der Meinung sind, dass Diversität auch konkrete Konsequenzen für die Gesellschaft haben sollte. Hier fragen wir zum Beispiel, ob die Parlamente die Diversität in der Gesellschaft widerspiegeln sollten, ob die staatliche Kulturförderung auch an Minderheiten gehen sollte und Moscheen in unserem öffentlichen Raum sichtbar sein sollten. In der Dimension „Evaluation diversity“, die drei Fragen zusammennimmt, erhalten wir insgesamt eine Zustimmung von knapp zwei Dritteln der städtischen Bevölkerung, die wir hier untersucht haben. Wenn es aber darum geht, ob Diversität auch konkrete Konsequenzen für die Gesellschaft haben sollte, sind die Leute zurückhaltender; hier bleibt die konsequente Zustimmung knapp unter 50 Prozent, obwohl einzelne Aspekte, wie diverse Parlamente, von über 60 Prozent befürwortet werden.
Spielt der soziale Hintergrund der Befragten eine Rolle bei der Bewertung von Diversität?
Ja, besonders in der Evaluierung von Diversität. Wer höher gebildet ist, geht häufiger von positiven Wirkungen der Diversität aus. Neben Bildung könnten hier auch größere Ängste, zum Beispiel den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren, eine Rolle spielen. Bei den Partizipationsforderungen aber wirkt sich der sozioökonomische Hintergrund nicht mehr aus.
Woran liegt es, dass eine Mehrheit Diversität zu befürworten scheint, das Bild in Medien und Politik aber Gegenteiliges vermuten lässt?
Politisch besteht das Grundproblem darin, dass dieses positive Potenzial nicht genutzt wird, um rechten, diversitätsfeindlichen Tendenzen entgegenzutreten. Ich würde mir eine Mobilisierung wünschen, die sagt „Wir sind die Mehrheit, die Diversität gut findet, die Gleichberechtigung in dieser Gesellschaft will, die diesen Hass nicht will“. Stattdessen scheint die Migrationspolitik aktuell diversitätsfeindlichen Minderheiten nachzugeben.
Es gibt aber auch Defizite der Forschung, weil sie sich sehr stark auf den Rechtspopulismus konzentriert hat. Das war auch richtig so. Aber wir müssen jetzt auch den Rest der Bevölkerung, diese Mehrheit besser verstehen. Was befürworten diese Menschen? Was noch nicht? Dies ist das Ziel unseres aktuellen Projekts DivA (Diversity Assent in Urban Germany).
Was haben Sie in Ihren Studien herausgefunden, was sich besonders positiv auf die Akzeptanz von Diversität auswirkt?
Was sich eindeutig auswirkt, sind direkte menschliche Kontakte. In der Wissenschaft wird dies immer noch als Kontakthypothese bezeichnet, aber es ist keine Hypothese mehr, sondern eine erwiesene Tatsache. Mehr Interaktion zwischen Menschen führt zu positiveren Haltungen. Dieses Verständnis muss gar nicht tief gehen, aber durch Kontakt gewöhne mich an die Präsenz unterschiedlicher Menschen und Lebensweisen und akzeptiere sie eher. Das haben wir bereits in einer größeren Studie in 50 Städten nachgewiesen2. Wir haben nach alltäglichen Begegnungen mit Menschen anderer Herkunft oder Lebensweise im Wohngebiet gefragt. Häufig nannten die Leute Interaktionen mit Nachbarn oder etwa Händler*innen. Diese manchmal vernachlässigten Alltagsinteraktionen sind es, die Wirkung haben.