„Fakt oder Fake: Wie gehen wir mit der Wissenschaftsskepsis um?“ so lautete die Preisfrage des Essay-Wettbewerbs 2022 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Aus über 140 Einreichungen prämierte die Akademie erstmals gleichrangig drei Beiträge. Wir stellen sie auf unserer Seite vor. Heute: Der Essay von Klaus Gourgé.
Die Geburt der Wissenschaft aus dem Geiste der Skepsis
Geboren wurde die fiktive Protagonistin dieses Essays in Skepsis, jener antiken griechischen Stadt auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Ihre Eltern, nennen wir sie Thesos und Antithesa, gaben ihr den schönen Namen Synthesia. Von Anfang an war klar, dass hier kein Kind im herkömmlichen Sinne zur Welt gekommen war. Synthesia von Skepsis war buchstäblich eine Kopfgeburt. Dass Synthesia ein Kind des Geistes war, letztlich eine Idee also, bringt für die hier zu behandelnde Frage gleich zwei Vorteile mit sich: Erstens ist die gesamte Wissenschaft eine einzige große Versammlung von Ideen, sodass Synthesia in dieser Community schnell Anschluss fand. Zweitens sind Ideen zumindest potenziell unsterblich, und so kann uns #Syntia42, wie sie sich heute in den Social Media nennt, von all ihren Erfahrungen berichten, die sie über die Jahrhunderte machen durfte und machen musste. Besonders interessieren werden uns dabei die oft erstaunlichen Reaktionen in Form von Hatespeech und Shitstorms, sobald #Synthia42 ihre Herkunft erwähnt. Dass sie ursprünglich „aus Skepsis“ kommt, gilt in manchen Internetgemeinden schon als Migrationshintergrund. Dagegen erklären sich viele aus der Scientific Community solidarisch und betonen, dass Skepsis doch eigentlich Heimat und Ursprung des gesamten wissenschaftlichen Universums sei, oder etwas bescheidener doch die Mutter (Alma Mater) der Universität. Bevor wir uns gleich mit den schwer erziehbaren Geschwistern der Skepsis beschäftigen, wollen wir kurz ihre durch und durch ehrenwerte Abstammung würdigen. Die altgriechische Skepsis meint so viel wie Betrachten, Untersuchen, Überlegen – besser lässt sich die wissenschaftliche Grundhaltung kaum charakterisieren.
Quellen
Für den gesamten Text wurden unzählige Autor:innen, aber nur eine einzige Quelle herangezogen: Wikipedia. Und dies nicht etwa aus Faulheit, sondern weil wir so bereits methodisch aufs Glatteis der Preisfrage schlittern: Fakt oder Fake? Oder anders gefragt: Können wir diesem von einer riesigen #Crowd erstellten Medium vertrauen und darf das so gesammelte „Wissen der vielen“ als wissenschaftlich gelten? Schon daran scheiden sich die Geister: Für manche Traditionalist*innen der Scientific community ist Wikipedia nicht seriös zitierbar, weil der Inhalt sich ja stetig verändert und die Autor*innen häufig anonym bleiben. Wer das so sieht, für den ist Wikipedia auch nur eine mit Vorsicht zu genießende Social-Media-Plattform. Auf der anderen Seite stehen die Befürworter*innen, die gerade darin die Stärke dieser Quelle sehen, gewissermaßen die zum Universallexikon materialisierte Schwarmintelligenz der gesamten Menschheit. Immerhin wurde mit diesem disruptiven Open-Source-Konzept die traditionsreiche Branche der Lexikonverlage binnen weniger Jahre dem Untergang geweiht. Natürlich, Fakes kommen vor, bei Wikipedia wie auch im „regulären“ wissenschaftlichen Publikationsbetrieb. Sehr vorläufiges Fazit: Es braucht wohl eine austarierte Mischung aus Skepsis und, ja, so einer Art vorsichtigem „Urvertrauen“, dass die meisten Autor:innen es doch ehrlich meinen. Bemerkenswerterweise scheint sich Wikipedia mit seinem System von Faktenchecks, kollektiven Korrekturschleifen und Hinweisen auf nicht vertrauenswürdige Quellen immerhin vor größeren Fake-Skandalen geschützt zu haben.
Skepsis bedeutet systematisches Hinterfragen und besonnenes Urteilen
- (a) der Confirmation Bias, der uns tendenziell nur solche Informationen suchen lässt, die unsere vorgefasste Meinung bestätigen, auch Belief Traps („Überzeugungsfallen“) genannt, und
- (b) die psychische, oft unbewusste Neigung zur Vermeidung kognitiver Dissonanz, die bei uns allen dafür sorgt, dass wir unser Welt- und Selbstbild gern konsistent und frei von Widersprüchen erhalten wollen, selbst wenn plausible Argumente dagegen sprechen.
Die Frage bleibt: Wie gehen wir mit Wissenschaftsskepsis um? Nun, da wäre zum Beispiel der Rechtsweg. Verleumdungsklagen wie jüngst gegen den Betreiber des rechtsradikalen Onlineportals InfoWars sind durchaus erfolgversprechend. Und mit dem Schlusssatz aus dem Plädoyer der Anklage hätten wir ein schönes Leitmotiv – vielleicht zu schön, um wahr zu sein – für den Umgang mit Wissenschaftsskepsis: „Die Rede ist frei. Für Lügen muss man bezahlen.“
Die unfeinen Unterschiede zwischen zweifeln, leugnen, lügen und irreführen
Moment mal, denkt jetzt die aufmerksame Leserschaft – Skepsis und Zweifel sind doch nicht gleichzusetzen mit Lüge und bewusster Irreführung. Richtig. Und daher gilt es, das, was wir hier eben zu Demonstrationszwecken absichtlich vermischt haben, in der Debatte um Wissenschaftsskepsis und Verschwörungsmythen, Fake News und Alternative Facts et cetera sorgfältigst zu unterscheiden. Gut, dass uns hier #Syntia42 mit ihrem Erfahrungswissen aus vielen Jahrhunderten weiterhelfen kann.
Syntia, wie sind denn Gesellschaften früher damit umgegangen, wenn es unterschiedliche Ansichten darüber gab, was wahr und unwahr sei, Wissen oder Glaube, Meinung oder Tatsache?
#Syntia42: Ich fürchte, diese Themen sind fast so alt wie die Menschheit. Da gibt es zum Beispiel Mythen und Sagen, die sich kaum über so viele Generationen erhalten hätten, wenn in ihnen nicht ein Kern von Erfahrungswissen oder gar Weisheit enthalten wäre. Auch wenn Mythen und Märchen die Grenzen zwischen Fantasie und Realität typischerweise lustvoll ignorieren, so sind sie dennoch keine Fake News. Komplizierter wird es, wenn behauptet wird, Überlieferungen wie die biblische Schöpfungsgeschichte der Genesis seien als wortwörtlich wahr zu verstehen; eine Position, die in den USA auch heute noch von zahlreichen Anhänger*innen des Kreationismus vertreten wird und die dann je nach Spielart sowohl die heutigen Erkenntnisse zur Entstehung des Universums als auch die Evolutionstheorie seit Darwin ablehnen. Das ist sicher eine problematische Form von Wissenschaftsskepsis. Denn da werden für die eigene Position typischerweise keine oder nur höchst fragwürdige Beweise angeführt, während gleichzeitig jeder Gegenbeweis a priori abgelehnt wird.
Wäre das denn ein geeigneter Umgang mit allen anderen Skeptiker*innen und Zweifler*innen? Hier sind meine Beweise, nun beweise du mir das Gegenteil?
Angenommen, mein Gegenüber akzeptiert diese Spielregel und kommt mir auch nicht mit dem Ententeich. Können wir dann weiterkommen mit Beweis und Gegenbeweis?
#Syntia42: In manchen Fällen kann das funktionieren, in anderen leider nicht, weil wir vieles letztlich weder beweisen noch widerlegen können. Das gilt besonders für Zukunftsfragen: Wird die Erderwärmung bis zum Jahr 2100 tatsächlich auf x Grad angestiegen sein, wenn die kumulierten Treibhausgasemissionen y Tonnen betragen haben werden? Werden in fünfzig Jahren tatsächlich z Prozent aller heute lebenden Arten ausgestorben sein? Selbst gegenwärtige und vergangene Phänomene können Sie vielleicht unter Expert*innen als bewiesen ansehen, aber Laien bleibt auch da kaum etwas anderes übrig, als das zu glauben – oder eben nicht. Hat es den Urknall gegeben? Existiert das Higgs-Boson wirklich? Wie wollen Sie umgekehrt beweisen, dass in bisher unerforschten Tiefseeregionen nicht doch prähistorische Fischsaurier überlebt haben? Oder wenn wir über so etwas reden wie zum Beispiel ödipale Konflikte – dass so etwas existiert, können Sie annehmen oder ablehnen, aber weder beweisen noch widerlegen.
Also können wir der Dialektik von Wissen und Zweifeln gar nicht entkommen – oder gibt es vielleicht Tricks, um uns wie Odysseus in freiwilliger Selbstbindung dem Gesang der Sirenen gleichzeitig auszusetzen und ihm doch zu widerstehen?
#Syntia42: Gute Frage. Gegen die Gefahr, sich von Fake News in bestimmte Echokammern und Filterblasen hineinziehen zu lassen und dann Verschwörungsmythen zu folgen, sind Menschen offenbar unterschiedlich gut gewappnet. Das gilt es noch besser zu erforschen: Was genau macht Person A empfänglich für diese Sirenengesänge von heute und Person B immun dagegen? Als wirksames Mittel gegen Fakes haben sich über viele Jahre bestimmte Evidenzstandards entwickelt, die innerhalb der wissenschaftlichen Welt akzeptiert sind.
Zum Beispiel?
#Syntia42: Dass Experimente wiederholbar sein müssen, unabhängig von der Person. Oder dass man Ergebnisse auch dann und gerade dann anerkennt, wenn dadurch die eigenen Annahmen widerlegt werden. Es wäre schön, wenn wir diese Standards allgemein verbindlich machen könnten. Aber wer abstrusesten Verschwörungsgedanken folgt, will ja gerade solche Standards nicht akzeptieren. Erzwingen lässt sich das natürlich nicht. Es sei denn, dass aus dem queren Denken justiziable Tatbestände folgen wie Verleumdung oder Gewalt. Gut möglich, dass Gesellschaften demnächst weitere rechtliche Regeln entwickeln für vorsätzliches Leugnen, Lügen, Irreführen und mehr, was speziell in den sozialen Medien inzwischen so gefährlich zugenommen hat.
Zwischen antiken Mythen und postmodernen Verschwörungserzählungen gab es bekanntlich auch Epochen, in denen Glaubensfragen als absolute Wahrheiten verkündet wurden und jegliche Zweifel daran verboten waren. Sicher auch keine Lösung, oder?
Kann uns denn vielleicht die Logik helfen im Umgang mit unfairen Methoden von Wissenschaftsskeptiker:innen?
#Syntia42: Eine beliebte Taktik lässt sich damit in der Tat durchschauen und überführen: aus einer unumstrittenen oder unbestreitbaren Aussage eine Schlussfolgerung zu ziehen, die zwar auf den ersten Blick plausibel klingt, daraus aber gar nicht logisch gezogen werden kann. Sehr beliebt gerade beim Thema Klimakrise: Zunächst wird gesagt, dass es Klimawandel „schon immer gegeben“ hat, und dann daraus geschlossen, deshalb sei auch der derzeitige Klimawandel „nicht menschengemacht“. Ein solcher Fehlschluss ist nicht immer leicht zu erkennen, lässt sich aber „aufklären“. Das sollte, ein Mindestmaß an gutem Willen vorausgesetzt, von allen akzeptierbar sein.
Zu guter Letzt noch mal die Ausgangsfrage: Wie sollen wir mit Wissenschaftsskepsis umgehen?
#Syntia42: Die aufrichtige, interessierte, auch radikale Skepsis ist die Mutter aller Wissenschaften. Wir sollten sie begrüßen wie eine gute Freundin. Sie hilft uns, besser zu werden und eigene blinde Flecken zu erkennen. Leider gibt es auch die bewusst böswillige, destruktive Schwester der Skepsis. Sie versucht, Zwietracht zu säen und zu spalten. Bis vor einigen Jahren war ihr Wirkungskreis sehr begrenzt. Erst mit den sozialen Medien hat sie eine riesige Spielfläche bekommen, auf der sie ihre unguten Motive ausagieren kann. Wir können versuchen, diese negative Skepsis besser zu verstehen – was sie motiviert, wie sie agiert. Dann lernen wir, die konstruktive und die destruktive Form der Skepsis besser auseinanderzuhalten. Dann können wir mit der einen diskutieren, arbeiten und spielen – und die andere versuchen zu ignorieren.
Statt eines Fazits: Wissenschaft braucht Skepsis. Wollte Wissenschaft die Skepsis loswerden, was nicht einmal theoretisch denkbar ist, würde alles nur noch schlimmer. Dann nämlich würde sie genau das tun, was auch die Verschwörungserzähler*innen tun: die eigene Sichtweise absolut setzen und gegen jegliche Kritik immunisieren. Den Gefallen sollte ihnen die Scientific community nicht tun. Denn damit hätte sie sich selbst ihrer besten Instrumente beraubt im Umgang mit den Wissenschaftsskeptiker*innen: Evidenz, Kritik, Argument, Logik, Zweifel, systematisches Infragestellen des aktuellen Erkenntnisstands … die gute alte Skepsis eben.
Dass sich selbst ernannte Querdenker*innen und andere Promotor*innen von Fake News, alternativen Fakten und Verschwörungsmythen auf diese bewährten Spielregeln aus durchsichtigen Gründen nicht einlassen – weil sie dabei nur verlieren können –, ist problematisch, bedauerlich, auch gefährlich. Aber ähnlich wie die Demokratie damit leben muss, dass sie antidemokratische Kräfte nicht mit antidemokratischen Mitteln loswerden kann, muss wohl auch die Wissenschaft mit dieser Dialektik leben. Immerhin: Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist sehr weitgehend, aber nicht unendlich. Der Rechtsstaat kann auf neue Entwicklungen mit neuen Regeln antworten. Dialektisch wird das Verhältnis bleiben. Es gibt Skepsis in konstruktiven und in destruktiven Erscheinungsformen, und wenn wir die einen behalten wollen, werden wir die anderen nicht los. Könnte die Scientific Community als Chor auftreten, wäre das ein schöner Refrain, wenn auch aus rhythmischen Gründen in nicht ganz reinem Englisch: „Skepsis was my first love, and it will be my last. Skepsis of the future, and Skepsis of the past.
Es mag naiv erscheinen, aber eine kleine Hoffnung besteht, dass Joseph Beuys‘ Bonmot sich irgendwann auch unter den Querdenker*innen bewahrheitet: „Wer nicht denken will, fliegt (sich selbst) raus.“
Die redaktionelle Verantwortung für diesen Gastbeitrag lag bei Sabrina Schröder. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.
Der Beitrag wurde redaktionell angepasst. Den Original-Essay, den Klaus Gourgé für die Preisfrage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingereicht hat, finden Sie hier.
Die zwei weiteren Siegerbeiträge der ÖAW Preisfrage finden Sie hier:
Alexander Bogner, Wie wir mit Wissenschaftsskepsis umgehen sollten
Joachim Allgaier, Zum Gegenangriff gegen Desinformation